30 August 2022

Corona-Krise - Warum Deutschland nicht das Ende der Pandemie ausruft (Cicero+)

Corona-Krise
-
Warum Deutschland nicht das Ende der Pandemie ausruft (Cicero+)
Nachdem die Corona-Notstandsgesetze in den deutschen Nachbarländern wie Dominosteine der Reihe nach gefallen sind, gerät der „Geisterfahrer“ mehr denn je in Erklärungsnot. Mit einer breiten Zustimmung der Bevölkerung zu Zwangsmaßnahmen kann die Bundesregierung spätestens seit dem Regierungsflieger-Eklat nicht mehr rechnen. In Großbritannien entschuldigt man sich schon für den Lockdown, hier bleibt er weiter im Werkzeugkasten. Wie kann das sein?
VON PHILIPP FESS am 30. August 2022
„Emmanuel Macron hat die Pandemie für beendet erklärt“, titelte die Zeit am vergangenen Montag. Die Schlagzeile war gut gewählt und zog wahrscheinlich ganz nach dem Kalkül der Redakteure weite Kreise. Eine wirkliche Nachricht beinhaltete sie für Bürger außerhalb von Deutschland allerdings nicht. Nur im Lande Karl Lauterbachs (SPD), wo der Infektionsschutz weiterhin Maskenpflicht, Ausgangssperren und Kontaktverbote erlaubt, kann eine solche Information wahrscheinlich noch ein paar erstaunte Gesichter und halbwegs ansehnliche Klickzahlen erzeugen.

Von Dänemark und dem „gescheiterten“ Schweden gar nicht zu reden, wird in Frankreich nämlich schon lange das nächste eschatologische Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen, das nächste Ende verkündet: das des Überflusses. Zwar droht dieses in Deutschland mindestens genauso, historisch bedingt tut man sich hier aber wohl etwas schwerer, sich vom Autoritarismus zu lösen. Das werden zumindest einige unserer Nachbarn denken, die schon beginnen, sich bei den Maßnahmenkritikern zu entschuldigen.

Dabei hätte Deutschland genauso gut unter den Ersten sein können, die den Weltpanikmodus beenden, denn das „Ende der Pandemie“ war letztlich eine politische Entscheidung. Jemand, der in der Corona-Krise schon früh darauf hingewiesen hat und auf einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit (tatsächlichen oder aufgebauschten) Pandemien zurückgreifen kann, ist Peter Doshi.

Einer, auf den man hätte hören sollen

Doshi ist leitender Redakteur beim British Medical Journal (BMJ) und außerordentlicher Professor für pharmazeutische Forschung im Gesundheitswesen an der University of Maryland School of Pharmacy. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Zulassungsprozess von Arzneimitteln, die Art und Weise, wie Risiken und Nutzen medizinischer Produkte bewertet und kommuniziert werden sowie die Verbesserung der Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von Evidenzsynthesen und biomedizinischen Veröffentlichungen. Der BMJ-Redakteur hat gerade mit der Revision der Zulassungsstudien und der Kosten-Nutzen-Bilanz der mRNA-Präparate alle Hände voll zu tun.

Schon bei der Schweinegrippe 2009 hatte sich Doshi, der auch die US-Zulassungsbehörde Federal Drug Administration (FDA) kritisch berät, skeptisch gezeigt, was die Evidenz für die Ausrufung eines pandemischen Notstands anbelangte. Wie sein deutscher Kollege Ulrich Keil, der sich zum Thema Corona-Aufarbeitung bereits ausführlich gegenüber Cicero geäußert hat, beklagte er eine alarmistische Krisenkommunikation und eine überstürzte Einführung nicht ausreichend erprobter Impfstoffe. Wie wir heute wissen, hätte man damals besser auf Doshi und seinesgleichen hören sollen.

Abkehr vom alarmistischen Zahlenwerk

Im April 2021 (!) schrieb der Pharmazieprofessor im BMJ einen Artikel mit dem Titel „The End of the Pandemic will not be televised“ (in Anlehnung an den legendären Text des US-Musikers Gil Scott Heron, „The Revolution will not be televised“). In diesem Artikel legt der US-Mediziner dar, dass in der Corona-Krise eine bisher ungekannte Masse von Parametern, Messgrößen und Indikatoren aufgeboten wurde, die – unter dem Versprechen, ein möglichst „objektives“ Bild der Realität zu vermitteln – eher eine „Aura des Notstands“ zu verbreiten half:

„Die Allgegenwart von Dashboards hat dazu beigetragen, das Gefühl zu vermitteln, dass die Pandemie vorbei ist, wenn alle Indikatoren des Dashboards entweder Null (Infektionen, Fälle, Todesfälle) oder 100 (Prozentsatz der Geimpften) erreichen. Die Atemwegspandemien des vergangenen Jahrhunderts zeigen jedoch, dass das Ende nicht eindeutig bestimmbar ist und dass das Ende einer Pandemie besser mit der Wiederaufnahme des sozialen Lebens und nicht mit dem Erreichen bestimmter epidemiologischer Ziele zu verstehen ist.“

Mehr von Philipp Fess zum Thema:

Die Abkehr von einem alarmierenden und für die Beurteilung des eigentlichen Krankheitsgeschehens nutzlosen Zahlenwerk, meint Doshi, könne die wirksamste Einzelmaßnahme zur Beendigung der Corona-Pandemie sein:

„Pandemien sind weit davon entfernt, ein dramatisches ‚Ende‘ zu nehmen. Sie verschwinden allmählich, wenn sich die Gesellschaft an das Leben mit dem neuen Krankheitserreger gewöhnt und das soziale Leben zur Normalität zurückkehrt. Die Covid-19-Pandemie […] wird zu Ende sein, wenn wir unsere Bildschirme ausschalten und beschließen, dass andere Themen wieder unserer Aufmerksamkeit wert sind. Im Gegensatz zu ihrem Beginn wird das Ende der Pandemie nicht im Fernsehen übertragen werden.“

Die WHO hält am Notstand fest

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Januar 2020 den Internationalen Gesundheitsnotstand (Public Health Emergency of International Concern, PHEIC) ausgerufen. Seitdem kommt das sogenannte International Health Regulations (2005) Emergency Committee satzungsgemäß alle drei Monate zusammen, um über die aktuelle (pandemische) Lage zu beraten. Bei dessen jüngster Sitzung im Juli 2022 erklärte der Generaldirektor der WHO, Tedros Ghebreyesus, dass der Gesundheitsnotstand weiter andauere. Zur Begründung hieß es:

„Der Ausschuss stellte fest, dass sich die Zahl der Krankheitsfälle insgesamt von der Zahl der schweren Erkrankungen, der Todesfälle und der Belastung der Gesundheitssysteme im Zusammenhang mit der zunehmenden Immunität der Bevölkerung entkoppelt hat [sic!]. Der Ausschuss war sich jedoch einig, dass die Covid-19-Pandemie nach wie vor die Kriterien eines außergewöhnlichen Ereignisses erfüllt, das sich weiterhin negativ auf die Gesundheit der Weltbevölkerung auswirkt, und dass das Auftreten und die internationale Verbreitung neuer Sars-CoV-2-Varianten noch größere Auswirkungen auf die Gesundheit haben könnte.“

Zu den genannten Risiken zählt das Komitee die steigenden Fallzahlen, die Mutation des Sars-2-Virus, mangelnde Vorkehrungen gegen Übertragungsschutz und schwere Verläufe sowie eine „inadäquate“ Risikokommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Bevölkerung. Den Rückgang in der Überwachung des Krankheitsgeschehens und die Übermittlung von Genomsequenzen durch (anlasslose) Testungen sieht das Komittee „mit Sorge“. Ein Interesse seitens der WHO, die „Dashboardisierung“ der Pandemiepolitik aufzugeben, besteht offenbar nicht. Kritiker wie Ulrich Keil warnen davor, dass so auch die saisonale Influenza zu einer Bedrohung aufgebauscht werden kann, die vermeintlich nach einer Impfkampagne verlangt.

Paradigmenwechsel in der Pandemiebekämpfung

Und doch gibt und gab es auch jenseits der Dashboards und täglichen Inzidenzzahl-Wasserstandsmeldungen Indikatoren und Anhaltspunkte, auf die sich Experten berufen konnten, um eine Pandemie für beendet zu erklären. Wie der Epidemiologe Klaus Stöhr Ende Mai gegenüber Cicero erklärte, ist eine pandemische Situation nach epidemiologischer Definition vorbei, wenn die Pathogenität eines Erregers sich der anderer Atemwegsinfektionen annähert. Das ist spätestens seit Ankunft der Omikron-Variante der Fall.

2009 beendete die WHO die Schweinegrippe mit genau dieser Begründung: „Die Influenza-Ausbrüche zeigen eine Intensität ähnlich derjenigen von saisonalen Epidemien“, hieß es damals. Ein weiteres Argument für die Beendigung des pandemischen Notstands war damals die Annahme einer mehrheitlich durch Infektion erreichten hohen Populationsimmunität. Die wird in Deutschland noch immer nicht systematisch untersucht, dürfte nach zwei Jahren Zirkulation und wahrscheinlicher Kreuzimmunität aber mindestens genauso anzunehmen sein.

Im Gegensatz zu Frankreich scheint sich Deutschland also sklavisch an die Vorgaben der WHO zu halten. Dazu passt auch die lakonische Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Cicero-Anfrage im Mai, wann Deutschland gedenkt, die endemische Phase einzuläuten. „Die Pandemie […] wurde von der WHO ausgerufen, und die WHO wird diese zu gegebener Zeit für beendet erklären.“

Dabei können die Mitgliedsländer der WHO bislang noch eigenmächtig entscheiden, ob sie sich an die Empfehlungen halten, die die WHO im Rahmen eines Internationalen Gesundheitsnotstands ausruft. Dass sich das bei der „nächsten Pandemie“ jedoch ändern könnte, hat Cicero in einem Artikel über den geplanten Pandemievertrag ausführlich dargelegt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen