24 August 2022

Die Deutschen und die Krise Staatsgläubigkeit in einer infantilisierten Gesellschaft (WELT+)

Die Deutschen und die Krise
Staatsgläubigkeit in einer infantilisierten Gesellschaft (WELT+)
, Chefredakteur
Die Deutschen pflegen ein unterwürfiges Verhältnis zum Staat. Von ihm erhoffen sie sich die Rettung aus jeder Not. Und merken gar nicht, wie er dabei immer übergriffiger wird. Kritik daran gibt es nur selten – kein Wunder.
In Deutschland betrug die Staatsquote, also die Höhe der Staatsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2021 ungefähr 51,6 Prozent. In der Schweiz lag sie bei 34,5 Prozent. Dennoch hat sich in Deutschland eine Weltanschauungs-Popkultur entwickelt, die weniger die Hyperaktivität des Staates problematisiert als diejenigen, die dem Staat Macht und Geld entziehen wollen.
Als die beiden Königsdisziplinen dieser Kulturpraktiken gelten das Denunzieren ernsthaft liberaler Haltungen als „rechts“ und die Schilderung jeder noch so milden Infragestellung der Opulenz des Sozialstaats als Anfang des Wegs zum Manchester-Kapitalismus.

Der Staat hat seine religiöse Überhöhung nicht zuletzt durch die Partei des wohlhabenden Bürgertums erreicht. Die Grünen verbinden ihre säkularreligiöse Moralarbeit mit einer Übertragung von Allmachtsfantasien auf den Staat.

Kardinäle der Staatsreligion

Wenig überraschend findet damit die Aufwertung nicht nur aller Staatsdiener (sprich: der eigenen Wähler) statt, sondern natürlich auch der Politiker, die als Kardinäle der Staatsreligion gelten müssen. Unter grünen Politikern finden sich besonders viele Prediger wie Robert Habeck und Winfried Kretschmann – und damit verbunden auch entsprechende Neigungen, ihrer Gemeinde auch abseits des Katechismus den rechten Weg zu weisen: irgendwo zwischen Waschlappengebrauch und Poolbeheizung.

Die Idee des übergriffigen Staates funktioniert nur, wenn dieser durch die Hingabe der Bürger/Gläubigen und die Autorität der Politiker/Priester legitimiert ist. Das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche hilft dabei.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück im Oktober 2008 erklärten, die Spareinlagen seien sicher, war das ein Moment, in dem die Liebe zum Staat mit dem Glauben an die Stabilität der eigenen Lebensentwürfe versöhnt wurde.

Enttäuschung in der Flüchtlingskrise

Umso dramatischer fiel die Enttäuschung in der Flüchtlingskrise aus, als diese in einen umfassenden Kontrollverlust der Bundesregierung mündete. Dass die Grenzen in Deutschland nicht mehr sicher waren, konstruierte Risse im Selbstbewusstsein der Deutschen.

Verschärft wurden diese Zweifel durch die Berichterstattung insbesondere öffentlich-rechtlicher Medien, die so taten, als hätte es diesen Kontrollverlust nicht gegeben. Und dabei ganz nahe an der Regierungsverklärung waren. Im übertragenen Sinne erinnerten manche Leitartikel und „Tagesthemen“-Kommentare an Predigten. Egal, wie die Wirklichkeit um die Prediger herum aussah.

In der Coronakrise konnte der Staat die Härten der Pandemie mit umfassendsten Subventionen in Abermilliardenhöhe abfedern, aber dabei verstetigte sich der Irrglaube, dass der Staat finanzpolitisch allmächtig sei – oder zumindest fast.

Parallel zu den Milliardenzahlungen entwickelte der Staat einen von den medial-kulturellen Eliten weitgehend bejubelten Ultrapaternalismus, der mit einem Ausbruch autoritärer Rhetorik und entsprechenden Kontrollmechanismen einherging. Die Polizei jagte Jugendliche durch Hamburger Parks. Nachbarn denunzierten Hedonisten, die heimlich Partys feierten. Und in den sozialen Netzwerken bastelten Hobby-Schutzmänner ein Kontrollregime der Extraklasse.

In der Coronapolitik kam die Staatsliebe der Deutschen zu sich. Sie war in Deutschland stets in allen politischen Lagern – bis auf das liberale – gleichermaßen verteilt. „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen“, wusste schon Kurt Tucholsky, „das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen“.

Neu in diesem Ideal sind die Claqueure, die den Beamt:innen (sic!) hinter dem Schalter applaudieren. Das hat auch mit einer Kultur zu tun, die weitgehend mit Steuergeld finanziert wird (und der man das ohne Heiner Müller und Christoph Schlingensief auch in jeder Sekunde anhört und ansieht). Und mit Medien, die öffentlich-rechtlich finanziert sind (und denen man das auch in der Regel anhört oder ansieht).

Mit Gehorsam, Beichte und Buße ist die vorherrschende Kultur so sehr auf die Machtabsicherungsinstanz des Staates fixiert, dass freiheitliche Gedanken nur als Häresie auftauchen oder als zu eliminierendes Störgeräusch. Immer schambefreiter werden FDP-Wähler und liberale Unionisten in den Bereich des Verfassungskritischen geschubst.

Seien es Corona-Maßnahmen oder die Staatsfinanzierung, rabiate Gesellschaftspolitik durch die Ampel oder das Aufblähen von Ministerien und Kanzlerämtern: In Sachen Staat geht es nur in eine Richtung: mehr. Ein herrliches Symbol dafür ist der geplante Erweiterungsbau des Bundeskanzleramtes. In der Machbarkeitsstudie 2018 ging man noch von 457 Millionen Euro Kosten aus, jetzt werden es wohl eher 640 Millionen.

Schon jetzt ist das Kanzleramt die größte Machtzentrale der Welt und hat auch in seiner Erscheinung in der Mitte der Hauptstadt etwas Kathedralenhaftes. In einer bürgerlichen Gesellschaft wachsen nicht Ministerien und Regierungsbauten, nicht steuerähnlich finanzierte Sender und deren Limousinenparks, nicht Gesetze und Vorschriften, sondern Unternehmertum und Eigenverantwortung, Villenviertel und sozialer Wohnungsbau, Stiftungen und Spitzenforschung. Die Staatsfixiertheit hat in vielen Bereichen längst Monopolcharakter. In einigen Kulturgenres ist es bereits eine Monokultur.

Die Gesellschaft wurde infantilisiert

Die Gegenwehr in den sozialen Netzwerken und auf den Straßen hat oft genug einen verzweifelten Ausdruck des Verbitterten und Hoffnungsfreien. Kommt jetzt noch eine saftige Rezession im Herbst oder Winter dazu, könnte es dieses Land übel durchschütteln. Die fortgesetzte Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger, die konsequente Bevormundung haben die Gesellschaft infantilisiert.

Durch die engen Kurven der Krise kommen sie nur noch mit staatlichen Stützrädern. Und zu viele Bürger bedanken sich dann noch artig bei „Vater Staat“. Wir brauchen eine ödipale Auflehnung gegen diese Autoritätshörigkeit. Wahrscheinlich ist sie nicht, aber nötiger denn je. Und jeder, der den Mut zur Freiheit hat, sollte loslegen

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