28 August 2022

Cancel Culture - Kultur bedeutet kulturelle Aneignung (Cicero+)

Cancel Culture
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Kultur bedeutet kulturelle Aneignung (Cicero+)
Der Vorwurf der kulturellen Aneignung gehört zu den neusten Trends in den ideologischen Wahn-Debatten unserer Zeit. Weißen soll so untersagt werden, Reggae zu spielen und Rastas zu tragen, oder Kindern, sich als Indianer zu verkleiden. Doch das Verbot kultureller Aneignung würde nicht nur zu absurden Konsequenzen führen. Es verkennt vor allem das Wesen der Kultur. 
KOLUMNE: GRAUZONE am 27. August 2022
Vor ein paar Tagen in Zürich in einem übrigens sehr empfehlenswerten links-alternativen Café im Züricher Langstraßenquartier: Der sehr freundliche Besitzer erzählt einem Gast, dass Aktivisten der Roten Fabrik (eine Art Rote Flora Zürichs) einen Freund unmissverständlich aufgefordert hätten, einen Traumfänger aus seinem Laden zu entfernen. So ein Traumfänger sei kulturelle Aneignung. Nur zur Erläuterung: Traumfänger sind ein besonders im links-alternativen Milieu beliebter Raumschmuck, der ursprünglich von den Anishinabe-Indianern stammt. 
Die Anekdote wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie nicht verdeutlichen würde, welch groteske Kapriolen der ideologische Wahn mitunter schlägt. Ausgerechnet in der alternativen Linken, wo es nie multikulturell genug zugehen konnte, wo seit seligen Hippiezeiten Accessoires außereuropäischer Kulturen zur Alltagsästhetik gehören, wo man das Räucherstäbchen schätzt, das Batikkleid, Weltmusik und fernöstliche Spiritualität, ausgerechnet dort also propagiert man neuerdings ein kulturelles Reinheitsgebot, demgegenüber die Kulturpolitik des Dritten Reiches das Prädikat weltoffen verdient. Absurder geht es kaum. 
Vom Szenekonflikt in linken Subkulturen in den bürgerlichen Alltag
Vielleicht könnte man das Problem getrost ignorieren, wenn es sich um einen reinen Szenekonflikt in linken Subkulturen handelte. Das aber ist nicht der Fall. Seit geraumer Zeit und mit immer größerer Häufigkeit und Vehemenz taucht der Vorwurf der kulturellen Aneignung auch im bürgerlichen Alltag auf und droht diesen zu vergiften. Was vor Jahren mit Hinweisen von Kindergärten begann, Kinder bitte nicht mehr als Indianer zu verkleiden, da dies rassistische Stereotypen fördere und zudem eine Aneignung der Kultur indigener Völker durch Vertreter weißer Kolonialmächte darstelle, greift mehr und mehr ins Kulturleben ein. Letzter Höhepunkt war der Abbruch eines Konzertes der aus Schweizern bestehenden Reggae-Band „Lauwarm“ in Bern. 
Mehr aus der „Grauzone“:
Unter dem grassierenden ideologischen Unsinn unserer Tage ist der Vorwurf der kulturellen Aneignung der mit Abstand dümmlichste. Würde man ihn wirklich ernst nehmen, unser Leben sähe ziemlich freudlos aus. Tee oder Kaffee trinken, Tabakwaren konsumieren, der Wok in der Küche, das japanische Santoku-Messer, das chinesische Service – all das müsste umgehend verschwinden. Und wie sähe es mit der Ernährung aus? Dürfen Europäer außereuropäische Küche genießen? Darf man noch in ein vietnamesisches Restaurant gehen, ein thailändisches, ein äthiopisches? Muss man vorher überprüfen, ob dort auch wirklich Vietnamesen, Thailänder und Äthiopier am Herd stehen? Und wie halten wir es mit unseren europäischen Kulturen: Italienische Nudeln, spanische Tapas, griechischer Tsatsiki – dürfen all das nur noch Italiener, Spanier oder Griechen herstellen und konsumieren? Und apropos Nudeln: Kamen die nicht ursprünglich aus Asien? Sind die nicht kulturelle Aneignung durch die Italiener? Darf man überhaupt Nudeln essen? Kartoffeln? Tomaten? 
Alle Hochkulturen entstanden durch Austausch mit anderen Kulturen
Doch nicht nur unsere kulinarische Kultur würde einen erheblichen Kahlschlag erleiden, wenn man den Vorwurf der kulturellen Aneignung zu Ende denken würde. Mit welchen Zahlen sollen wir rechnen? Darf man noch einen Pyjama tragen? Sich einen japanischen Druck an die Wand hängen? Schach spielen? Darf es noch weiße Blues-Bands geben? Basiert nicht die gesamte Rockmusik zu Teilen aus afrikanischen Einflüssen? 
Und grundsätzlich gefragt: Ist es überhaupt noch erlaubt, mit anderen Völkern zu handeln? Immerhin bedeutet Handel Austausch von Gütern und damit nolens volens kulturelle Aneignung. Und wie schaut’s mit unserer eigenen Kultur aus? Wollen wir Australiern verbieten, auf dem Oktoberfest bayerische Tracht zu tragen? Oder Japanern, in Tokio ein Oktoberfest samt Bierzelten zu feiern? Man könnte die Liste der Absurditäten beliebig verlängern. 
Doch das Konzept der Vermeidung kulturellen Aneignung hätte, ernsthaft durchgeführt, nicht nur lächerliche Folgen und wäre kaum durchführbar. Vor allem ist es Ausdruck eines unsäglichen und einfältigen Kulturbegriffs. Denn Kultur ist das Produkt kultureller Aneignung. Nur ganz wenige Kulturen auf diesem Planeten waren aufgrund ihrer besonderen geografischen Lage so abgeschottet, dass sie sich nicht mit anderen Kulturen austauschten – und diese Kulturen sind nicht ohne Grund vergleichsweise einfach. 
Alle Hochkulturen der Menschheit entstanden durch den Austausch mit anderen Kulturen, also durch kulturelle Aneignung. Wer kulturelle Aneignung abschaffen möchte, wendet sich somit gegen die Idee der Kultur selbst. Aber vermutlich ist genau das der Sinn der Sache. 

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