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Kultur bedeutet kulturelle Aneignung (Cicero+)
Kultur bedeutet kulturelle Aneignung (Cicero+)
Der Vorwurf der kulturellen Aneignung gehört zu den neusten Trends
in den ideologischen Wahn-Debatten unserer Zeit. Weißen soll so
untersagt werden, Reggae zu spielen und Rastas zu tragen, oder Kindern,
sich als Indianer zu verkleiden. Doch das Verbot kultureller Aneignung
würde nicht nur zu absurden Konsequenzen führen. Es verkennt vor allem
das Wesen der Kultur.
KOLUMNE: GRAUZONE am 27. August 2022
Vor ein paar Tagen in
Zürich in einem übrigens sehr empfehlenswerten links-alternativen Café
im Züricher Langstraßenquartier: Der sehr freundliche Besitzer erzählt
einem Gast, dass Aktivisten der Roten Fabrik (eine Art Rote Flora
Zürichs) einen Freund unmissverständlich aufgefordert hätten, einen
Traumfänger aus seinem Laden zu entfernen. So ein Traumfänger sei kulturelle Aneignung.
Nur zur Erläuterung: Traumfänger sind ein besonders im
links-alternativen Milieu beliebter Raumschmuck, der ursprünglich von
den Anishinabe-Indianern stammt.
Die Anekdote wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie nicht
verdeutlichen würde, welch groteske Kapriolen der ideologische Wahn
mitunter schlägt. Ausgerechnet in der alternativen Linken, wo es nie multikulturell
genug zugehen konnte, wo seit seligen Hippiezeiten Accessoires
außereuropäischer Kulturen zur Alltagsästhetik gehören, wo man das
Räucherstäbchen schätzt, das Batikkleid, Weltmusik und fernöstliche
Spiritualität, ausgerechnet dort also propagiert man neuerdings ein
kulturelles Reinheitsgebot, demgegenüber die Kulturpolitik des Dritten
Reiches das Prädikat weltoffen verdient. Absurder geht es kaum.
Vom Szenekonflikt in linken Subkulturen in den bürgerlichen Alltag
Vielleicht könnte man das Problem getrost ignorieren, wenn es sich um
einen reinen Szenekonflikt in linken Subkulturen handelte. Das aber ist
nicht der Fall. Seit geraumer Zeit und mit immer größerer Häufigkeit
und Vehemenz taucht der Vorwurf der kulturellen Aneignung auch im
bürgerlichen Alltag auf und droht diesen zu vergiften. Was vor Jahren
mit Hinweisen von Kindergärten begann, Kinder bitte nicht mehr als Indianer zu verkleiden,
da dies rassistische Stereotypen fördere und zudem eine Aneignung der
Kultur indigener Völker durch Vertreter weißer Kolonialmächte darstelle,
greift mehr und mehr ins Kulturleben ein. Letzter Höhepunkt war der
Abbruch eines Konzertes der aus Schweizern bestehenden Reggae-Band
„Lauwarm“ in Bern.
Mehr aus der „Grauzone“:
- Nancy Faeser und kommende Proteste: Prophylaktisches Framing
- 100 Jahre Nationalhymne: Die Würde der Uneindeutigkeit
- 70 Jahre „High Noon“: Hymne an das freie Individuum
- 75. Geburtstag von Arnold Schwarzenegger: Monument aus einer liberalen Zeit
- 200. Geburtstag von Gregor Mendel: Mönch und moderner Wissenschaftler
Unter dem grassierenden ideologischen Unsinn unserer Tage ist der
Vorwurf der kulturellen Aneignung der mit Abstand dümmlichste. Würde man
ihn wirklich ernst nehmen, unser Leben sähe ziemlich freudlos aus. Tee
oder Kaffee trinken, Tabakwaren konsumieren, der Wok in der Küche, das
japanische Santoku-Messer, das chinesische Service – all das müsste
umgehend verschwinden. Und wie sähe es mit der Ernährung aus? Dürfen
Europäer außereuropäische Küche genießen? Darf man noch in ein
vietnamesisches Restaurant gehen, ein thailändisches, ein äthiopisches?
Muss man vorher überprüfen, ob dort auch wirklich Vietnamesen,
Thailänder und Äthiopier am Herd stehen? Und wie halten wir es mit
unseren europäischen Kulturen: Italienische Nudeln, spanische Tapas,
griechischer Tsatsiki – dürfen all das nur noch Italiener, Spanier oder
Griechen herstellen und konsumieren? Und apropos Nudeln: Kamen die nicht
ursprünglich aus Asien? Sind die nicht kulturelle Aneignung durch die
Italiener? Darf man überhaupt Nudeln essen? Kartoffeln? Tomaten?
Alle Hochkulturen entstanden durch Austausch mit anderen Kulturen
Doch nicht nur unsere kulinarische Kultur würde einen erheblichen
Kahlschlag erleiden, wenn man den Vorwurf der kulturellen Aneignung zu
Ende denken würde. Mit welchen Zahlen sollen wir rechnen? Darf man noch
einen Pyjama tragen? Sich einen japanischen Druck an die Wand hängen?
Schach spielen? Darf es noch weiße Blues-Bands geben? Basiert nicht die
gesamte Rockmusik zu Teilen aus afrikanischen Einflüssen?
Und grundsätzlich gefragt: Ist es überhaupt noch erlaubt, mit anderen
Völkern zu handeln? Immerhin bedeutet Handel Austausch von Gütern und
damit nolens volens kulturelle Aneignung. Und wie schaut’s mit unserer
eigenen Kultur aus? Wollen wir Australiern verbieten, auf dem
Oktoberfest bayerische Tracht zu tragen? Oder Japanern, in Tokio ein
Oktoberfest samt Bierzelten zu feiern? Man könnte die Liste der
Absurditäten beliebig verlängern.
Doch das Konzept der Vermeidung kulturellen Aneignung hätte,
ernsthaft durchgeführt, nicht nur lächerliche Folgen und wäre kaum
durchführbar. Vor allem ist es Ausdruck eines unsäglichen und
einfältigen Kulturbegriffs. Denn Kultur ist das Produkt kultureller
Aneignung. Nur ganz wenige Kulturen auf diesem Planeten waren aufgrund
ihrer besonderen geografischen Lage so abgeschottet, dass sie sich nicht
mit anderen Kulturen austauschten – und diese Kulturen sind nicht ohne
Grund vergleichsweise einfach.
Alle Hochkulturen der Menschheit entstanden durch den Austausch mit
anderen Kulturen, also durch kulturelle Aneignung. Wer kulturelle
Aneignung abschaffen möchte, wendet sich somit gegen die Idee der Kultur
selbst. Aber vermutlich ist genau das der Sinn der Sache.
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