25 August 2022

„Berichterstattung teilweise verhindert, kritische Informationen heruntergespielt“ (WELT+)

Vorwürfe gegen den NDR -
Führungskräfte agieren wie „Pressesprecher der Ministerien“ 
„Berichterstattung teilweise verhindert, kritische Informationen heruntergespielt“ (WELT+)
Mehrere NDR-Redakteure erheben laut einem vertraulichen Untersuchungsbericht schwere Vorwürfe gegen die Senderleitung in Kiel. Die Anschuldigungen offenbaren keine Verschwendungsorgien, sie greifen vielmehr das Herz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an: den unabhängigen Journalismus.
NDR-Intendant Joachim Knuth hat sich vor einer Woche vor seine Belegschaft gestellt und kam schnell zur Sache. „Dies ist eine tiefe Krise des RBB, die Auswirkungen auf den gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat, die ARD und den NDR“, sagte der Senderchef. Er hätte die ganze Enthüllungen über die Intendantin in Berlin nicht für möglich gehalten, sei fassungslos. „Aber seien Sie versichert, dass Patricia Schlesinger weiß, wie zornig wir über den eingetretenen Schaden sind.“
Dann zieht Knuth einen Strich. „Heute soll es darum gehen, wie die Dinge bei uns im NDR laufen und, um so viel schon vorweg zu nehmen: Vieles läuft hier NICHT wie offensichtlich beim RBB.“ Beim NDR würde es keine Boni geben, die Gehälter der Senderspitze seien komplett transparent und seit zwei Jahren nicht gestiegen, erklärt Knuth. Er habe auch nie wie Schlesinger Abendessen bei sich zu Hause dienstlich abgerechnet. Sein Büro habe er bei seinem Einzug lediglich einmal streichen lassen. „Mehr nicht.“ Und sein Dienstwagen, das betont Knuth, der hat auch keine Massage-Sitze.

Die Haltung, der moralische Kompass und auch die Compliance-Strukturen – hört man Knuth zu, ist beim NDR alles vorbildlich. Doch es gibt Dokumente, vertrauliche Untersuchungsberichte, die einen Schatten auf diese heile Welt werfen. Sie offenbaren keine Verschwendungsorgien, Luxus-Exzesse oder dergleichen, vielmehr greifen sie das Herz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an: den unabhängigen Journalismus.

Neun NDR-Mitarbeiter aus dem Rundfunkhaus in Kiel haben sich nach Informationen von Business Insider in den vergangenen zwei Jahren persönlich – unter Zusicherung ihrer Anonymität – an den Redaktionsausschuss des NDR gewandt. Das Gremium aus mehr als 20 gewählten freien und festen Journalisten dient als Anlaufstelle für interne Beschwerden. Die Vorwürfe, die die Redakteure in Kiel erhoben haben, sprengten jedoch die alltäglichen Scharmützel in einer Redaktion.

Führungskräfte agieren wie „Pressesprecher der Ministerien“

Die „Berichterstattung werde teilweise verhindert und kritische Informationen heruntergespielt“, heißt es zu den Schilderungen der Mitarbeiter in einem vertraulichen Bericht aus dem September 2021. „Autoren würden abgezogen und Beiträge in den Abnahmen massiv verändert.“ Die Vorwürfe der Redakteure mündeten gar in der Behauptung, es gebe beim NDR in Kiel einen „politischen Filter“, Führungskräfte würden wie „Pressesprecher der Ministerien“ agieren, die kritischen Themen frühzeitig die Relevanz absprechen.

Von dieser angespannten Atmosphäre in Kiel erzählt Knuth in seiner Ansprache vor einer Woche: nichts. Dabei war er über die Vorgänge stets gut informiert. Dies bestätigte die NDR-Sprecherin auf Anfrage. In einer ersten Stellungnahme erklärte sie zudem, dass der Vorgang „aus Sicht des Redaktionsausschusses, des beteiligten Mitarbeiters und des zuständigen Programmbereichs aufgearbeitet und abgeschlossen“ sei. Zudem hätten sich die kritischen Schilderungen als „nicht zutreffend erwiesen“.

Als Business Insider den NDR am Dienstag mit dem konkreten Inhalt vorliegender interner Dokumente erneut konfrontierte, zog der Sender sein Statement zurück. „In der Tat haben wir Anlass zur Korrektur unserer Antworten, was ich sehr bedauere“, so die Sprecherin. Nun heißt es, dass es bislang keinen Konsens zwischen Reaktionsausschuss und Redaktionsleitung hinsichtlich der „Causa Grote“ gibt. Was die Vorwürfe zum Arbeitsklima und den „politischen Filter“ angehe, würden die Programmverantwortlichen diese zurückweisen, aber die Kritik ernst nehmen. „Der Austausch darüber dauert bis heute an“, sagt die NDR-Sprecherin.

Affäre um Ex-Innenminister der CDU war der Auslöser

Wie konnte es beim NDR so weit kommen, dass Redakteure um die Unabhängigkeit ihrer Berichterstattung fürchten und Vorgesetzten indirekt Zensur vorwerfen? Der Fall begann am 28. April 2020. An diesem Tag trat Hans-Joachim Grote (CDU) als Innenminister in Schleswig-Holstein mit sofortiger Wirkung zurück. Die Hintergründe sind nebulös: Es ging um eine heikle Rocker-Affäre, um mögliches Fehlverhalten von Sicherheitsbehörden und Ermittlungen gegen Polizisten wegen Geheimnisverrat.

In diesem Zuge erhielt Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) im April 2020 den Hinweis aus der Staatsanwaltschaft, dass Grote offensichtlich fragwürdige Kontakte zu einem beschuldigten Polizeigewerkschafter und einem Journalisten hatte. In Vieraugengesprächen habe Günther seinen Parteifreund damit konfrontiert, berichtete der Ministerpräsident später. Dabei hätte Grote ihn mehrfach angelogen und sein Vertrauen verspielt. Genau das bestreitet Grote – trotz Rücktritt – bis heute. Es steht Wort gegen Wort.

Ein interessantes Thema, dachte sich auch NDR-Journalist Stefan Z. (Name geändert). Kurz nach dem Rücktritt erhielt er aus der Abteilung „Politik und Recherche“ den Auftrag, sich um Grote zu kümmern. Er bekam zunächst ein Hintergrundgespräch mit dem Ex-Minister, dann ein persönliches Statement, das er für einen Fernsehbeitrag verwenden wollte.

Laut Untersuchungsbericht des Redaktionsausschusses entfernte die Politikchefin Julia Stein bei der Abnahme jedoch einige Texttafeln mit Grotes Zitaten. So verschwanden direkte Vorwürfe gegen den Ministerpräsidenten. Übrig blieb: „Mich berührt weniger das Ausscheiden aus dem Amt als vielmehr der Umgang mit meinem Lebenswerk. Jetzt quasi vom Hof gejagt zu werden tut menschlich sehr weh. Ich habe wenigstens mehr Zeit zum Golfspielen und für Konzertbesuche. Und ich will mir einen Traum erfüllen: Als Senior Student Kunstgeschichte studieren.“

Die Chefs griffen ein, stoppten den NDR-Reporter

Daraufhin vereinbarte der Journalist ein Interview mit Grote, um über die Hintergründe des Rücktritts und Ungereimtheiten zu sprechen. Auch hier griffen die Vorgesetzten von Z., Julia Stein und Norbert Lorentzen ein, lehnten das Interview ab. Die Begründung: Es gebe keine Belege für einen Verdacht gegen den Ministerpräsidenten und neue Erkenntnisse seien durch das Interview nicht zu erwarten. Nachdem eine interne Klärung nicht gelang, wandte sich Z. im Herbst 2020 an den Redaktionsausschuss.

Monatelang untersuchte das Gremium den Fall, analysierte Chat-Verläufe und befragte Mitarbeiter und betroffene Führungskräfte in Kiel. Im September 2021 verfasste der Ausschuss einen vertraulichen Abschlussbericht, der auch der NDR-Geschäftsführung vorgelegt wurde. Auf 30 Seiten wägt der Ausschuss alle Fakten und Äußerungen ab – und teilt letztlich die Vorwürfe von Z. So heißt es, dass der bei der Beitragsabnahme entfernte Teil der Stellungnahme von Grote von Relevanz gewesen wäre. Zudem sei die Ablehnung des Interviews nicht nachvollziehbar. „Das Interview mit Herrn Grote hätte geführt werden müssen. Die von Norbert Lorentzen und Julia Stein angeführten Gründe für eine Absage überzeugen nicht. In der Hauptsache stützen sie sich auf die fehlende Beleglage und fordern weitergehende Recherche ein. Der Redaktionsausschuss sieht in Interviews durchaus eine Form der Recherche.“

Eine Sendersprecherin sagt zu diesem Konflikt in Kiel: „Aus Sicht des NDR handelt es sich dabei um die unterschiedliche journalistische Bewertung einer tagesaktuellen redaktionellen Entscheidung. Dies bewertet der NDR als üblichen Vorgang im redaktionellen Tagesgeschäft und nicht als schwerwiegenden Vorwurf, aus dem sich eine Handlungsnotwendigkeit ergibt.“ Einen politisch motivierten Einfluss habe es hier jedenfalls nicht gegeben, dies hätte auch der Redaktionsausschuss bestätigt, als er in einer Ergänzung zum Abschlussbericht im Dezember 2021 schrieb: „Den Verdacht, dass eine politische Motivation dahinstehen könne, macht sich der Redaktionsausschuss nicht zu eigen.“ Was der NDR nicht erwähnt, die Passage in dem Bericht geht noch weiter. Demnach bestehe die Gefahr, dass genau dieser Verdacht entstehen könnte, „wenn nicht gründlich aufgeklärt wird und der Fall an die Öffentlichkeit gelangt“.

Z. ist kein Einzelfall

Im Rahmen der Untersuchung zeigte sich jedoch, dass Z. kein Einzelfall ist. Gleich acht Mitarbeiter aus dem Landesfunkhaus in Kiel hätten sich in diesem Zuge mit ihren Sorgen vertraulich an den Redaktionsausschuss gewandt und die Schilderungen von Z. bestätigt. „Sie berichten uns, dass sie den Eindruck hätten, es gäbe einen Filter in der Redaktion. Berichterstattung werde teilweise verhindert und kritische Informationen heruntergespielt. Autoren würden abgezogen und Beiträge in den Abnahmen massiv verändert. Die Stimmung in der Abteilung sei vergiftet, da Konflikte so lange schwelen“, fasst das Gremium die Gespräche mit den Mitarbeitern zusammen.

Der Redaktionsausschuss vermerkt, dass die Vorwürfe vor allem den Programmbereich Fernsehen und die trimediale Abteilung „Politik und Recherche“ betreffen würden. Den Bereich, in dem auch Z. gearbeitet hat. Im Bericht heißt es, dass die Schilderungen der vielen Mitarbeiter sich ähneln würden. „Die Kolleginnen und Kollegen berichten uns von einem „Klima der Angst“ und großem Druck. Es werde gezielt versucht herauszufinden, wer sich an den Redaktionsausschuss gewandt hat.“

„Daniel“ statt Ministerpräsident

Die Redakteure, die sich an den Ausschuss gewandt haben, würden Z. als „exzellenten Journalisten“ beschreiben. „Es sei erschreckend, wie ein solcher Kollege von „Vorgesetzen klein gehalten“ werde „und auf seine Arbeit teilweise massiv Einfluss genommen wird.“ Aus ihrer Sicht handelt es sich nicht um einen Einzelfall“, heißt es in dem Bericht.

Weiter heißt es: „Es werde teilweise nicht vom Ministerpräsidenten Daniel Günther oder seinem Stellvertreter Heiner Garg, sondern von „Daniel“ oder „Heiner“ gesprochen.“ Der Redaktionsausschuss des NDR hält die Aussagen der Redakteure – so das Fazit – für „glaubwürdig“.

Der NDR erklärt dazu, dass sich die „pauschale Beurteilung ‚Klima der Angst‘“ aus Sicht der Verantwortlichen in Kiel nach persönlichen Gesprächen mit zahlreichen Mitarbeitenden nicht bestätigt habe. Abgeschlossen sei der Vorgang allerdings nicht. „Die Chefredaktion führt Einzelgespräche mit allen Mitarbeitenden. Auch der Redaktionsausschuss führt weitere Gespräche im Landesfunkhaus“, sagt die NDR-Sprecherin.

Zufall oder nicht: Nachdem Business Insider den NDR erstmals mit den Recherchen konfrontierte, schrieb der langjährige Direktor des Landesfunkhauses Schleswig-Holstein, Volker Thormählen, wenige Stunden später eine Nachricht an die Mitarbeiter und lud sie zu einem „Open Talk“ ein. „Sicher sind viele von Euch ähnlich fassungslos wie ich über die Nachrichten rund um die Führung des RBB“, schreibt Thormählen. „Der öffentliche Fokus richtet sich aber eben nicht nur auf den RBB. Im NDR merken wir das an einer wahren Flut von Presseanfragen.“

Der Funkhaus-Direktor freue sich auf einen „zwanglosen Austausch“ am kommenden Freitag. „An Euren Einschätzungen und Wahrnehmungen bin ich sehr interessiert.“

Dieser Text erschien zuerst bei Business Insider, das wie WELT zur Axel Springer SE gehört.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen