28 Dezember 2022

Kommentar - Christian Drosten erklärt die Pandemie für beendet – die Reaktionen zeigen, wie autoritätsgläubig Deutschland bis heute ist (NZZ)

Kommentar
Christian Drosten erklärt die Pandemie für beendet – die Reaktionen zeigen, wie autoritätsgläubig Deutschland bis heute ist (NZZ)
Kein Wissenschafter hatte in den vergangenen Jahren so viel Einfluss auf die deutsche Politik wie der Virologe Christian Drosten. Das war nicht sein Fehler, aber es war ein Fehler. Für die Rückkehr zur Normalität braucht das Land seinen Ratschlag nicht. 
Beatrice Achterberg, Berlin, 27.12.2022
In Deutschland endet die Corona-Pandemie eben später. Andere westliche Länder mögen längst zur Normalität zurückgefunden haben; der amerikanische Präsident etwa zog den Schlussstrich im September, sein französischer Amtskollege im August. Doch die Bundesrepublik brauchte noch Zeit, um sich vom Virus zu verabschieden. Bis jetzt. Denn nun hat Christian Drosten höchstselbst der German Virusangst den Todesstoss versetzt: Nach seiner Einschätzung sei die Pandemie vorbei, sagte die Nummer eins der deutschen Corona-Deuter dem Berliner «Tagesspiegel». Noch interessanter als Drostens späte Erkenntnis sind die Reaktionen darauf.
In jedem anderen Land hätte man die Aussage eines einzelnen Virologen, zumal so spät, achselzuckend zur Kenntnis genommen. In Deutschland reagierte der Regierungsapparat prompt. «Als politische Konsequenz sollten wir die letzten Corona-Schutzmassnahmen beenden», verkündete allen voran Justizminister Marco Buschmann. Denn: Drosten habe in der Pandemie bekanntlich zu den vorsichtigsten Wissenschaftern gehört.
Der liberale Justizminister scheint auf eine solche Handreichung nur gewartet zu haben. Laut dem «Tagesspiegel» soll Buschmann den sozialdemokratischen Gesundheitsminister Karl Lauterbach per Brief aufgefordert haben, die noch verbliebenen deutschen Corona-Regeln, etwa die Maskenpflicht im Fernverkehr, ausser Kraft zu setzen.
Deutschland war zu autoritätsgläubig
Dass der Justizminister allen Ernstes ein Drosten-Interview braucht, um seine Forderung nach der Rückkehr zur Normalität zu formulieren, zeigt, wie autoritätsgläubig nicht nur er, sondern die ganze Bundesrepublik mit dieser Pandemie umgegangen ist und bis heute umgeht. Statt die Erfahrungen anderer Länder zu berücksichtigen und anderslautenden wissenschaftlichen Rat zur Kenntnis zu nehmen, vertrauten die Regierungsverantwortlichen vor allem einem Virologen. Drostens Aufrufe zu Lockdowns oder seine Studie über die Ansteckungsgefahr durch Kinder waren richtungsweisend.
Gewiss, Drosten ist nicht verantwortlich dafür, dass ihn die Deutschen zur obersten Corona-Autorität gemacht haben. Auch ist es nicht die Aufgabe eines Wissenschafters, seine Thesen mit der demokratischen Grundordnung in Einklang zu bringen. Das gehört in die Verantwortung der gewählten Volksvertreter. Allerdings hat Drosten seine Rolle dankbar angenommen und in vielen Wortmeldungen ausgefüllt. Dabei hat er andersdenkende, für mehr Liberalität werbende Kollegen seiner Zunft wiederholt zu diskreditieren versucht.
Die ganze westliche Welt lebt seit Monaten im Post-Pandemie-Zeitalter. Nur der deutsche Sonderweg sieht nach wie vor einen Mix an Regeln vor. Justizminister Buschmann hat recht, wenn er die überholten Massnahmen beenden will. Aber er irrt, wenn er meint, sich dabei noch auf Drosten berufen zu müssen. Die Daten und die Erkenntnisse aus anderen Ländern reichen völlig aus, schon seit Monaten.

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