Christian Drosten erklärt die Pandemie für beendet – die Reaktionen zeigen, wie autoritätsgläubig Deutschland bis heute ist (NZZ)
Kein
Wissenschafter hatte in den vergangenen Jahren so viel Einfluss auf die
deutsche Politik wie der Virologe Christian Drosten. Das war nicht sein
Fehler, aber es war ein Fehler. Für die Rückkehr zur Normalität braucht
das Land seinen Ratschlag nicht.
27.12.2022
In
Deutschland endet die Corona-Pandemie eben später. Andere westliche
Länder mögen längst zur Normalität zurückgefunden haben; der
amerikanische Präsident etwa zog den Schlussstrich im September, sein
französischer Amtskollege im August. Doch die Bundesrepublik brauchte
noch Zeit, um sich vom Virus zu verabschieden. Bis jetzt. Denn nun hat
Christian Drosten höchstselbst der German Virusangst den
Todesstoss versetzt: Nach seiner Einschätzung sei die Pandemie vorbei,
sagte die Nummer eins der deutschen Corona-Deuter dem Berliner
«Tagesspiegel». Noch interessanter als Drostens späte Erkenntnis sind
die Reaktionen darauf.
In
jedem anderen Land hätte man die Aussage eines einzelnen Virologen,
zumal so spät, achselzuckend zur Kenntnis genommen. In Deutschland
reagierte der Regierungsapparat prompt. «Als politische Konsequenz
sollten wir die letzten Corona-Schutzmassnahmen beenden», verkündete
allen voran Justizminister Marco Buschmann. Denn: Drosten habe in der Pandemie bekanntlich zu den vorsichtigsten Wissenschaftern gehört.
Der
liberale Justizminister scheint auf eine solche Handreichung nur
gewartet zu haben. Laut dem «Tagesspiegel» soll Buschmann den
sozialdemokratischen Gesundheitsminister Karl Lauterbach per Brief
aufgefordert haben, die noch verbliebenen deutschen Corona-Regeln, etwa
die Maskenpflicht im Fernverkehr, ausser Kraft zu setzen.
Deutschland war zu autoritätsgläubig
Dass
der Justizminister allen Ernstes ein Drosten-Interview braucht, um
seine Forderung nach der Rückkehr zur Normalität zu formulieren, zeigt,
wie autoritätsgläubig nicht nur er, sondern die ganze Bundesrepublik mit
dieser Pandemie umgegangen ist und bis heute umgeht. Statt die
Erfahrungen anderer Länder zu berücksichtigen und anderslautenden
wissenschaftlichen Rat zur Kenntnis zu nehmen, vertrauten die
Regierungsverantwortlichen vor allem einem Virologen. Drostens Aufrufe
zu Lockdowns oder seine Studie über die Ansteckungsgefahr durch Kinder
waren richtungsweisend.
Gewiss,
Drosten ist nicht verantwortlich dafür, dass ihn die Deutschen zur
obersten Corona-Autorität gemacht haben. Auch ist es nicht die Aufgabe
eines Wissenschafters, seine Thesen mit der demokratischen Grundordnung
in Einklang zu bringen. Das gehört in die Verantwortung der gewählten
Volksvertreter. Allerdings hat Drosten seine Rolle dankbar angenommen
und in vielen Wortmeldungen ausgefüllt. Dabei hat er andersdenkende, für
mehr Liberalität werbende Kollegen seiner Zunft wiederholt zu
diskreditieren versucht.
Die ganze westliche Welt lebt seit Monaten im Post-Pandemie-Zeitalter. Nur der deutsche Sonderweg sieht nach wie vor einen Mix an Regeln vor.
Justizminister Buschmann hat recht, wenn er die überholten Massnahmen
beenden will. Aber er irrt, wenn er meint, sich dabei noch auf Drosten
berufen zu müssen. Die Daten und die Erkenntnisse aus anderen Ländern
reichen völlig aus, schon seit Monaten.
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