18 Dezember 2022

Im Dauerkrisen-Modus - Die Deutschen am Ende der Gewissheiten (WELT+)

Im Dauerkrisen-Modus
Die Deutschen am Ende der Gewissheiten
Wenn es im Winter kalt ist, wird geheizt. Ist das Kind krank, bekommen die Eltern Medikamente in der Apotheke. Nach einem schweren Unfall findet das Opfer einen Platz in der Intensivstation. Ruft man in Notlagen die Polizei, kommt in Minutenschnelle ein Streifenwagen.
Die Rente wird spätestens mit Mitte 60 ausbezahlt, und man kann ganz gut davon leben. Wer den Urlaub in der Sonne verbringen will, steigt für wenig Geld ins Flugzeug. Auch Geringverdienende fahren Auto und haben genug Geld fürs Tanken. Und der Strom kommt aus der Steckdose.
Alle diese Sätze gehören zum Inventar der Wohlstandsgesellschaft, wie wir sie kennen. Oder besser: Wie wir sie kannten.

Das Ende der Gewissheiten, auf die alle Bürger bauen konnten, kam mal mit Ansage, mal urplötzlich. Nun herrscht sie allerorten, die Unsicherheit, auf der ein abstrakt organisiertes Gemeinwesen schwer fußen kann.

Autos im Autoland? Ein Auslaufmodell, genau wie Fernreisen im Land der Reiseweltmeister. Mal werden Medikamente knapp wie einst Kinderkleidung in der DDR. Mal wird die Flugreise verteufelt von denen, die gerne viel fliegen. Denn die Lage ist ernst. Nicht einmal mehr die Weihnachtsbeleuchtung oder das warme Thermalbad im kühlen Winter kann oder will sich das arme Neudeutschland mehr leisten.

Stromsperre und Verdunkelung drohen sogar daheim? Bisher predigte die Wissenschaft, dass Kinder, Kranke und Alte mindestens 20 Grad Raumtemperatur für ein gesundes Leben benötigen. Viel Licht, gerade auch künstliches, rettet uns in der dunklen Jahreszeit vor Depressionen. Doch nun kommt es im schlimmsten Fall so weit, dass Millionen in Skiunterwäsche frierend den Mond anstarren, der angesichts eines flächendeckenden Blackouts in seiner kühlen Pracht besser zu sehen ist denn je, am Himmel hell und klar.

Und der Wald, voller statischer Windmühlen, steht schwarz und schweiget. Erst diese Woche, der kalendarische Winter hat noch gar nicht begonnen, warnten die Energieversorger im grün-industriellen Musterländle Baden-Württemberg vor möglichen Abschaltungen. Es fehlt der Schuss französische Atomenergie im grünen Mix. Hatte uns denn niemand erklärt, dass die Energiewende im Sommer mit sauberen Windrädern und Sonnenkollektoren beginnt und an Winterflautetagen mit Waschlappen, kalten Füßen und Bibbern endet?

Plötzlich waren Bürgerrechte futsch

Nehmen wir all das zusammen, nehmen wir die Dauerbeschallung des so gut wie unabwendbaren Weltuntergangs durch planetare Erwärmung bei gleichzeitiger individueller Verkühlung, nehmen wir die Klage über mangelnden Nachwuchs hierzulande bei bedrohlicher Massenvermehrung an ökologisch empfindlichen Punkten der Welt, nehmen wir Unwetter und Trockenheiten, Waldbrände und Flutschäden, Hunger und Seuchen, ohne die keine Nachrichten mehr komplett sind, dann ist es in den letzten zwei Jahren sogar für Dickfellige ziemlich arg gekommen.

Bürgerrechte waren in der Pandemie plötzlich futsch, Bewegungsfreiheit und Atemluft auch. Manche Maßnahme, so nötig sie vielleicht anfangs erschien, hätte man sich in einer freien Gesellschaft nicht vorstellen können. Aber auch das war Zeitenwende: Dass die linken Fackelträger von Menschenrechten und Demos plötzlich jubelten, wenn die Polizei busselnde Jugendliche im Park jagte, Widerspenstige verhauen wurden und die Obrigkeit ganze Landstriche abzuriegeln versuchte.

Kriegt bei all dem Beschwören des Beschwurbelns niemand einen Schwindel? Merkt niemand, wie der Teppich behutsamer Skepsis und des Vertrauens aufs Bewährte uns systematisch unter den Füßen weggezogen wird? Und sind Toleranz und Respekt für andere Meinungen, man mag sie teilen oder nicht, im bösartigen Twittergewitter so volatil geworden wie aufgepumpte Börsenwerte?

Demokratie – das hieß unter den linken Querdenkern von einst doch Freiraum für Widerborstigkeit. Jetzt läuft alles Unerwünschte und lieber Überhörte unter Spaltung und Hetze.

Besteht die letzte Beständigkeit nurmehr im Meistertitel des FC Bayern München? Denn auch die Nationalmannschaft hat sich der Zeitenwende elegant angepasst und sich ans Verlieren gewöhnt. Doch wenn im Sport das Siegen nicht mehr klappt, machen immerhin Waffenhersteller ein großes Plus – und das im Luftreich der einstigen pazifistischen Friedenschaffer, die vor ein paar Jahren nicht einmal eine Wasserpistole in Krisengebiete exportieren wollten. Nun sind es eben Panzer und Haubitzen, wenn wir denn genug Munition dafür auf Lager hätten.

Doch ohnehin funktioniert Politik, auf deren pragmatische Klugheit man sich in der Bundesrepublik von Adenauer über Schmidt bis Kohl so lange verlassen konnte, inzwischen nach dem PR-Prinzip: Strategie ist die Kunst, so zu schießen, als hätte man noch Patronen. Der Rest ist Rodeo – oben bleiben.

Demokratie vs. Disruption

Indessen ist als letzte der wie auch immer brüchigen Gewissheiten nach über siebzig Jahren gar nicht so faulem Frieden der Angriffskrieg zurück in Europas Gefilden. Es wird vom Invasor gebombt und gemordet ohne Hemmungen. Und klar, wir sind – zum Glück endlich auf der gerechten Seite in der Defensive – auch da wieder voll involviert.

War es das, was Angela Merkel meinte, als sie kurz vor ihrem Abtreten äußerte, es werde in der nächsten Zeit gigantische Veränderungen unseres Alltags geben, wie wir sie uns kaum vorzustellen vermöchten? Und wenn sie, die niemals Fehler zugibt, all das Schlamassel vorhersah – warum hat sie unser Land und uns nicht darauf vorbereitet?

Früher, als man sich auf gewisse Gewissheiten noch verlassen konnte, gab es die sture Oma, über die alle in der Familie milde lächelten. Sie kannte den Hunger aus dem Steckrübenwinter 1916/17 und war deswegen jeden Herbst panisch besorgt, dass genug Kartoffeln in den Keller kamen, dass massenhaft Obst eingekocht wurde und auf dem Dachboden ein Trockenschinken hing für schwere Zeiten. Lachhaft, diese Furcht aus überwundenen Tagen, wo heute doch alles im Supermarkt bequem zu kaufen ist.

Und ebenso komisch, wie Oma sich sträubte, den alten Holzofen aus der Küche zu werfen, weil den bei Gas und Strom ohnehin keiner mehr brauchte. Man weiß ja nie, hatte Oma gegrummelt und davon erzählt, dass sie als Kind in Kriegszeiten wenigstens am Holzfeuer nicht frieren musste.

Kriegszeiten? Energieknappheit? Stromsperre? Verdunkelung? Das waren in der sich munter durchmodernisierenden Gesellschaft Vokabeln aus dem Mittelalter. Heute entdeckt die Soziologie, die bis vor Kurzem nur das regelhafte Funktionieren der Globalisierung zu beschreiben versuchte, den Riss, der durch unser Leben geht und uns statt nach vorne in die Zukunft der zahllosen Sicherheiten und digitalen Möglichkeiten in die Unsicherheit der Vergangenheit und der analogen Unmöglichkeiten zu zerren droht.

„Disorder“, also ganz simpel Unordnung, heißt der aktuelle Bestseller der Cambridger Politologin Helen Thompson. Sie hat dem Lesepublikum keine beruhigenden Deutungen der Gegenwart und dem, was daraus folgt, anzubieten. Öl, so sagt sie gegen jede ökologische Korrektheit, werde noch auf Jahrzehnte über globale Macht entscheiden. Deswegen werde alle Energie mit oder ohne Frieden in der Ukraine knapp und teuer bleiben.

Die Klimakrise sei nicht durch Aktionismus in den Griff zu kriegen. Individualverkehr und Eigenheim seien möglicherweise nicht mehr zu finanzieren – was die sozialdemokratische Utopie des bescheidenen Wohlstands für alle gleich mit in das neue Lebensgefühl stürzt, das Thompson mit dem harten Begriff „disruption“ beschreibt. Könnte man nicht gleich sagen: Distopie?

Dass autoritäre Imperien von Narzissten wie Xi Jinping und Wladimir Putin dominiert werden, ist nichts Neues. Doch wenn im urdemokratischen Amerika die Hälfte aller Menschen ihr politisches System nurmehr als ordinäre Clownerie hinnimmt, ist etwas gewaltig aus dem Lot. Ein System, in dem Macht geordnet übergeben wird, in dem die andere Meinung Achtung findet und wo die Taten der Herrschenden kritisier- und falsifizierbar bleiben, ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Das ist wohl die wichtigste Gewissheit, die uns zu entgleiten droht: die Stabilität und die Überlegenheit demokratischer Ordnung. Keiner weiß, ob und wie sie die Disruption der kommenden Jahre übersteht.

Lässt sich so noch ein Lebensplan entwerfen?

Ein Riss geht also, inzwischen also auch wissenschaftlich beglaubigt, durch unsere Welt, in der die Kinder es seit mindestens drei Generationen besser hatten als die Eltern. Statt dieses nicht mehr einhaltbaren Versprechens von Fortschritt und Wohlstand preist der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz von der Humboldt-Universität jetzt die „Resilienz“: Die gesamte Gesellschaft müsse lernen, sich gegen die unvermeidlichen Risiken zu wappnen. Im Vergleich zum Lobpreis der riskanten Zukunft durch Reckwitzens Vorgänger als Zeitgeistdeuter, den Berufsoptimisten Ulrich Beck, klingt diese neue Taktik nach Wagenburg für Anfänger.

Doch funktioniert eine Gesellschaft in der verinnerlichten Defensive? Lässt sich mit Daseinsfurcht und ohne Gewissheiten überhaupt eine Familie gründen? Ein Lebensplan entwerfen? Ist ein Aufbruch nach Morgen möglich, wenn die Akteure sich am liebsten sedieren und in der Dauerschleife der digitalen Welt von der Realität, die es ja leider immer noch gibt, bedröhnt abkoppeln? Womöglich hat die Politik, die sich in solch widrigen Zeiten aufs Beschwichtigen der Ängste und die Bekämpfung aller Widerworte konzentriert, ihre Kernaufgabe aus den Augen verloren.

Wenn Klimahysteriker wie Luisa Neubauer drohen, dass beim radikalen Handeln ab jetzt keine Rücksicht auf demokratische Werte mehr genommen wird, sind wir endgültig im Panikmodus angekommen. Kommen wir da je wieder hinaus? Wenn nicht, dann sollte sich niemand mehr wundern, wenn einer immer schweigsameren Mehrheit alles wurscht zu werden beginnt. Wo keine Gewissheiten über die Energieversorgung einer Industriegesellschaft mehr bestehen, investiert auch der Einzelne kaum persönliche Energie in die eigene Zukunft.

Wozu auch? Während in den Ministerien und Rathäusern am inklusiven, untoxischen, diversen und emissionsfreien Wolkenreich wortreich gebastelt wird, schotten sich aus Zukunftsangst immer mehr Bürger im Privaten ab – mit der einzig verbliebenen Utopie, es werde vielleicht nicht gar so schlimm kommen.

Solche Menschen, und es sind angesichts des Katastrophengewitters gar nicht wenige, erwarten vom Staat nichts mehr, jedenfalls nichts Gutes. Der verstorbene britische Historiker Tony Judt, ein Sozialdemokrat reinsten Wassers, hat vor etlichen Jahren einer immer mehr Kompetenzen übernehmenden und dabei immer undemokratischer agierenden EU ins Stammbuch geschrieben, dass die Menschen vom Staat gar keine ehrgeizigen Projekte, keinen rückwirkenden Balsam auf historische Ungerechtigkeiten, keine verordnete Verbrüderung und keine gelenkte Sozialutopie erwarten, sondern ganz simple Dinge: Wohnraum, Kranken- und Altenversorgung, Sicherheit auf der Straße, Verfügung über Lebensmittel, Zugang zu Bildung.

Die Liste ist kurz. Und eigentlich haben unsere Regierenden – vor allem im Vergleich mit den hochtrabend gescheiterten Lügenideologen von Links und Rechts – diese Kernaufgaben ab 1945 ordentlich abgearbeitet. Dass das Einfache über viele Jahre so gut geklappt hat, dass sich auf Gewissheiten Lebensläufe bauen ließen, das tat mehr für die Akzeptanz der Demokratie als alle Sonntagsreden über Gemeinsinn und Teilhabe. Das Wichtigste war stets, dass – mal abgesehen vom Klopapier – die Regale im Laden gefüllt waren, beim Notruf jemand den Hörer abnahm und das Geld samt der Rente und der Miete einigermaßen stabil blieb.

Politik entfernt sich vom mehrheitsfähigen Konsens

Nun also kommt der Einstieg in die Inflation der Ungewissheit. Nun tönen in der Politik Aktivisten vom Überleben, in dem es kein gutes Leben mehr geben kann.

Und wir lesen, wie wir bald aus Obst- und Kartoffelschalen oder gerne auch aus getrockneten Insekten ein emissionsfrei leckeres Mahl zubereiten können. Wir lernen, dass Heizen bei stetiger Bewegung gar nicht so wichtig ist, und wie man mit ein paar Kerzen, Dosenerbsen und Wasserflaschen frohgemut über den Stromausfall hinwegkommt. Nicht zufällig klingt das Puritanisch. Ob gebunkerter Champagner und Beruhigungspillen nicht die bessere Idee wäre?

Doch selbst das bisher Undenkbare, nämlich einen begrenzten Atomkrieg, so beschwichtigen uns Militärexperten, kann man irgendwie im Keller überleben. Atomkraft nein, Atombomben ja? Nicht einmal mehr das ist unmöglich. Denn kein Mensch, so stand gleichfalls zu lesen, hat in der instabilen Welt der Globalisierung noch ein verbrieftes Recht auf Unversehrtheit. Schämen sollten wir uns, dass es uns immer noch so gut geht, wie es eigentlich alle anderen verdient haben. Nur wir nicht.

Eine Politik, welche diese Minimierung von Gewissheiten hinnimmt, wenn nicht befeuert, und gleichzeitig in aller Welt auserwählten Minderheiten immer neue Versprechen auf Teilhabe, Gerechtigkeit und Glück macht, Hauskatzen, Hummeln und Blumen inklusive – eine solche Politik entfernt sich vom ebenso langweiligen wie mehrheitsfähigen Konsens und baut ihre Zukunft auf unversöhnliche Widersprüche, anstatt erst mal ihre Hausaufgaben zu erledigen.

Anders gesagt: Anstatt die eigene Kundschaft lernen zu lassen, frierend im Regen zu stehen, wäre ein vom Staat garantierter Schirm und ein Mantel zurzeit keine schlechte Idee. Heizung und Strom sind nämlich keine spinnerten Erfindungen und auch kein Privileg für Reiche. Dasselbe gilt für Urlaub, Schule, Wohnung, Krankenhaus.

Wer sich eine teure Karte fürs Theater kauft und dort keine Heizung, kein Licht und keine Stühle vorfindet, den wird die Vorstellung herzlich wenig interessieren. Für eine Demokratie, die nicht mehr auf Sicherheit, sondern immer freudiger auf Risiko spielt und den Verlust dann auf die ächzende Zivilgesellschaft abwälzt, gilt dasselbe. Dann spielen die Komparsen auf der Bühne vor leeren Rängen nurmehr für sich selbst.


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