30 Dezember 2022

Die demokratische Vernunft der Berufspolitiker ist ein alter Mythos, der politische Teilhabe reduziert und den Technokraten in die Hände spielt (NZZ)

Die demokratische Vernunft der Berufspolitiker ist ein alter Mythos, der politische Teilhabe reduziert und den Technokraten in die Hände spielt (NZZ)
Repräsentative Systeme waren ursprünglich nicht darauf ausgerichtet, die Partizipation der Bürger zu ermöglichen. Sie sollten die Vorherrschaft der wenigen sichern.
Oliver Zimmer 27.12.2022
Am 28. Oktober 1969 forderte Willy Brandt als frisch gekürter Regierungschef die Mitglieder des Bundestags auf, in Deutschland künftig mehr Demokratie zuzulassen. «Wir wollen mehr Demokratie wagen.» So lautete der kurze Satz, der eine naturgemäss eher technische Regierungserklärung zur vielleicht berühmtesten politischen Rede der deutschen Nachkriegszeit machte.
Brandt argumentierte, dass die deutsche Demokratie nur durch erhöhte bürgerliche Teilnahme zu sichern sei. Zu dieser Einschätzung passt die doppelte Selbstkritik am Schluss seiner Rede – eine Selbstkritik, die sich auf die Politiker wie auf die Bürger der jungen Republik bezog: «Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz.»
Gut zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verstand Willy Brandt unter «mehr Demokratie wagen», dass die demokratische Selbstverantwortung höher gewichtet werde als die Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat und seine Exponenten in Politik und Verwaltung. Den Vorschlag, das aktive Wahlalter von 21 auf 18 und das passive von 25 auf 21 Jahre zu senken, rechtfertigte er mit der Aussicht auf Freiheitsgewinn: «Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.»

Von den meisten deutschen Politikern und Intellektuellen wird Brandts Rede bis heute im Geiste der Beschwichtigung ausgelegt: weniger als Aufruf zur Reform denn als gediegenes Bekenntnis des grossen Nachkriegskanzlers zur repräsentativen Demokratie. Das ist Brandts Rede natürlich auch. Und gleichzeitig geht sie deutlich darüber hinaus. Inhaltlich gehört sie zu jener Tradition der Herrschaftskritik, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder vorgetragen wurde. Die Kritik bezieht sich seit dem «Völkerfrühling» von 1848 auch auf das, was man im deutschen Sprachraum repräsentative Demokratie, im englischen dagegen meistens – und von der Sache her ungleich präziser – als repräsentatives Regieren («representative government») bezeichnet.

Akademiker sind übervertreten

Eine solche Kritik stellt das repräsentative System nicht grundsätzlich infrage. Was sie fordert, ist die Ausgestaltung des liberalen Verfassungsstaates durch vermehrte demokratische Partizipation. Und gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Misstrauens gegenüber dem politischen Status quo. Denn das repräsentative System steht hier unter dem begründeten Verdacht, den Interessen, Erfahrungen und Präferenzen einer wohlhabenden, mit Bildungszertifikaten ausgestatteten Schicht besser zu entsprechen als jenen der Mehrheit, die diese Privilegien nicht geniesst.

Von den 2019 gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags besitzen 82 Prozent einen Hochschulabschluss – in der Gesamtbevölkerung sind es lediglich 18 Prozent. In den grossen Kammern von Österreich (48 Prozent akademisch Gebildete gegenüber 14 Prozent in der Gesamtbevölkerung) und der Schweiz (61 Prozent gegenüber 27 Prozent) ist die Übervertretung von Akademikern etwas geringer.

Die besagte Kritik erinnert uns daran, dass die herkömmliche Gleichsetzung von Repräsentation und Demokratie – konzeptuell wie historisch – unhaltbar ist. Darauf haben am wortgewaltigsten die politischen Philosophinnen Hannah Arendt und Hanna Fenichel Piktin hingewiesen. Die partizipatorische Demokratie geht auf die Stadtstaaten der griechischen Antike zurück; ihr berühmtestes Beispiel ist das klassische Athen, wo gewisse Ämter durch ein qualifiziertes Losverfahren vergeben wurden.

Dagegen wurde das System der Repräsentation erst Jahrhunderte später zu einer wichtigen Institution. Als Leitmotiv wirkte hier nicht die politische Beteiligung der vielen, sondern die Vorherrschaft der wenigen. Fürsten und Könige entsandten Dienstleute in entlegene Regionen, meist mit dem Ziel, mehr Einkünfte zu generieren. Ambitionierte Grundherrscher trachteten danach, ihr Territorium administrativ zu durchdringen. Was wir hier am Werk sehen, sind Spielarten der absolutistischen Staatsbildung.

Führen soll eine kleine Schicht

Erst in den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts entstand mit der Fusion von Demokratie und Repräsentation eine neue politische Konstellation. Die Leitbegriffe, mit denen führende Köpfe dieser Umbruchszeit – etwa James Madison in den USA oder Abbé Sieyès in Frankreich – ihren Ambitionen Schubkraft verliehen, waren die Nation und das Volk. Madison und seine Mitstreiter hoben in den «Federalist Papers» 1787 das Volk als Souverän der nationalen, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Republik auf den Schild. Und in Frankreich forderte Sieyès 1789, dass der Dritte Stand der Bürger fortan die Nation bilde, von der alle Macht im Staat auszugehen habe.

Doch in den Pamphleten von begnadeten Rhetorikern wie Madison und Sieyès fungierten Volk und Nation primär als abstrakte Begriffe der politischen Mobilisierung. Sie bildeten die ideologischen Waffen, ohne die sich ab diesem Zeitpunkt kein Staat mehr machen liess. In Wirklichkeit gründeten die neuen Republiken nicht auf der aktiven Teilnahme des «Demos» an den Staatsgeschäften, sondern auf der Führung durch eine kleine Schicht von angeblich besonders Befähigten. Eine «natural aristocracy», eine Aristokratie des Talents, sollte an die Stelle des Geburtsadels treten.

Dazu passte, dass James Madison und Alexander Hamilton in den «Federalist Papers» die Demokratie durchwegs als ein Symbol provinzieller Parteienherrschaft darstellten: als eine die Republik bedrohende Kraft. Auch Sieyès wollte die demokratische Teilhabe auf eine Minderheit von Repräsentanten begrenzen. Die Arbeitsteilung, die besonders die Wirtschaft zunehmend prägte, galt ihm als Signum des Fortschritts. Ihr sollte sich auch die Politik im Staat bedingungslos unterwerfen: «Aufgeklärte Repräsentation besteht darin, Dinge zu erledigen. Dinge zu erledigen, bedeutet, sie in Auftrag zu geben, indem man einen Experten auswählt, der sie erledigt.»

Damit sind einige der wichtigsten Widerstände skizziert, mit denen sich die Demokratie der aktiven Bürger seit dem Beginn der Moderne konfrontiert sieht. Zu diesem Thema sind in den letzten Jahren auffällig viele Bücher erschienen, die meisten in englischer Sprache. Fast macht es den Anschein, als ob sich heute auch liberale Gelehrte nicht mehr mit Floskeln wie «demokratischer Westen», «liberal-demokratische Ordnung» oder «repräsentative Demokratie» begnügen wollten.

Wie steht es um die Vernunft der Experten?

Auch bei den Studien des Verfassungsrechtlers Jedediah Purdy («Two Cheers for Politics: Why Democracy is Flawed, Frightening – and our Best Hope», Basic Books, New York, 2022) und der Politologin Hélène Landemore («Open Democracy: Reinventing Popular Rule for the Twenty-First Century», Princeton University Press, 2020) scheint demokratisches Unbehagen als Inspiration gewirkt zu haben. Beide Autoren identifizieren das im Westen dominante, rein repräsentative System als Brutstätte einer technokratischen politischen Kultur. Danach ist die Vernunft politischer Entscheidungen nur dann gewährleistet, wenn sie der Dynamik der öffentlich-demokratischen Politik entzogen werden.

Wer danach trachtet, die Demokratie um ihre demokratische Substanz zu bringen und durch eine DINO (Democracy in Name Only) zu ersetzen, dem stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung. Besonders effektiv sind staatliche Zentralisierung oder die Delegation der Entscheidungsgewalt an Berufspolitiker, Spitzenbeamte oder hohe Gerichte.

Sowohl Purdy als auch Landemore beschäftigen sich primär mit ihrem Land, den USA. Purdy kritisiert den dominanten Einfluss der amerikanischen Verfassung auf die Machtverhältnisse. Dabei stösst er sich besonders an den Electoral Colleges, die von Verfassungsvätern zur Kontrolle der demokratischen Massen eingeführt wurden und von denen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Republikaner profitierten. Auch den weitverbreiteten Glauben an die Weisheit und die Unbefangenheit von Richtern entblösst Purdy anhand des amerikanischen Supreme Courts als einen die Demokratie untergrabenden Mythos.

Auch das stärker an akademischen Konventionen orientierte Buch von Landemore enthält neue Anregungen. Die vielleicht interessanteste betrifft die Vernunft demokratischer Entscheidungen. Das Insistieren auf die überlegene politische Vernunft von Experten und Politikern mit Ivy-League-Abschluss entblösst Landemore als Fake News im Dienste einer technokratischen Weltanschauung. So gebe es keinen belegbaren Zusammenhang zwischen Informiertheit im Sinne politologischer Umfragen und korrektem Wahlverhalten im Sinne politisch nachhaltiger Entscheidungen.

Es braucht Zugehörigkeit

Trotz innovativen Gedanken bleiben die Reformvorschläge von Purdy wie von Landemore bemerkenswert abstrakt und ahistorisch. Während Purdy die nationale Mehrheitsdemokratie stärken möchte, fordert Landemore ihre Weiterung in Richtung einer universellen Demokratie. Die Einsicht, dass demokratisches Leben am ehesten dort gedeiht, wo sich Menschen einer Gemeinde, einer Region oder einer Nation zugehörig fühlen, ist beiden Autoren kaum eine Randbemerkung wert. Das überrascht auch nicht, ist es doch Mode geworden, Zugehörigkeitsgefühle mit nationalistischem Kirchturmdenken gleichzusetzen.

Was eine Demokratie lebendig macht, ist jedoch mitnichten die Verklärung der eigenen Gemeinschaft. Hurrapatriotismus ist dem demokratischen Leben genauso abträglich wie Desinteresse am eigenen Gemeinwesen. Unentbehrlich ist dagegen ein Mindestmass an kritischer Identifikation. Denn wo die Bereitschaft abnimmt, über öffentliche Fragen zu streiten, weil sie einen als Individuen kaltlassen, verdünnt sich die demokratische Substanz. Und wo die Demokratie nicht mehr gewagt wird, mutieren Menschen zu Befehlsempfängern.

Oliver Zimmer ist Forschungsdirektor bei Crema. Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Buch, das er mit dem Ökonomen Bruno S. Frey verfasst hat: «Mehr Demokratie wagen. Für eine Teilhabe aller» erscheint am 16. Januar beim Berliner Aufbau-Verlag.

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