19 Dezember 2022

Sanktionen gegen Russland - Milliardenschwerer Schuss ins eigene Knie (Cicero+)

Sanktionen gegen Russland
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Milliardenschwerer Schuss ins eigene Knie (Cicero+)
Mit immer neuen Sanktionen möchte die EU die politische Elite Russlands bestrafen und dessen Militär kampfunfähig machen. Doch erfüllen die Sanktionen des Westens ihren eigentlichen Zweck - oder droht vielmehr eine Deindustrialisierung Deutschlands? Statt eines Überschusses an Gesinnungsethik braucht es wieder mehr Rationalität in der Außenpolitik.
VON FRITZ SÖLLNER am 19. Dezember 2022
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die EU eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt: Exportverbote (u.a. für Hochtechnologie, für militärisch nutzbare Güter, für Luxusgüter, für Ausrüstung für die Energiewirtschaft und die Luftfahrtindustrie, aber auch – kurioserweise – für Blumen und Feuerwehrautos); Importverbote (u.a. für Kohle, Stahl, nicht über Pipelines geliefertes Erdöl); Strafmaßnahmen gegen Einzelpersonen (vor allem Reiseverbote und das „Einfrieren“ von Vermögenswerten); Überflugverbote für russische Flugzeuge; Einlaufverbote für russische Schiffe; den weitgehenden Ausschluss russischer Banken vom internationalen Finanzkommunikationsnetz SWIFT; den Ausschluss der russischen Zentralbank von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich; und das „Einfrieren“ der Devisenreserven der russischen Zentralbank. 
Weitere Sanktionen kommen ständig dazu; erst kürzlich wurde die Liste der Sanktionen um einen Preisdeckel für russisches Erdöl in Höhe von 60 US-Dollar pro Barrel verlängert. Laut Europäischem Rat soll mit diesen Maßnahmen dafür gesorgt werden, „dass Russlands Handlungen schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen und die russischen Möglichkeiten zur Fortsetzung der Aggression wirksam vereitelt werden“. Außerdem sollen „der für die Invasion verantwortlichen politischen Elite Russlands spürbare wirtschaftliche und politische Kosten“ auferlegt werden. Selbstverständlich ließ Russland diese Sanktionen nicht unbeantwortet, sondern reagierte darauf mit Gegensanktionen, unter denen die Einschränkung der Lieferung von Gas und anderen Rohstoffen am schwerwiegendsten ist. Man kann deshalb ohne Übertreibung von einem Wirtschaftskrieg sprechen, der parallel zum eigentlichen Krieg stattfindet.

Die Folgen für Russland

Die Sanktionen der EU, der USA und anderer westlicher Staaten haben die russische Wirtschaft stark in Mitleidenschaft gezogen. Zwar ist der Zusammenbruch des Banken- und Finanzsystems sowie der Absturz des Rubels verhindert worden, doch muss für 2022 mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von mindestens zehn Prozent gerechnet werden. Für die Folgejahre erscheint eine wirtschaftliche Stagnation noch das günstigste Szenario. Die offizielle Arbeitslosigkeit ist zwar niedrig geblieben, doch dürfte die Realität angesichts von Kurzarbeit und Produktionseinschränkungen in vielen Branchen anders aussehen.

Dies gilt vor allem für die Sektoren, in denen internationale Unternehmen eine große Rolle gespielt haben, wie zum Beispiel den Automobilbau. Hier hat sich der Rückzug vieler westlicher Unternehmen besonders stark ausgewirkt. Auf der anderen Seite ist das Exportvolumen von Erdgas und Erdöl zwar deutlich gesunken, doch wurde dies vom Preisanstieg dieser Rohstoffe überkompensiert, sodass die Exporterlöse seit Kriegsbeginn sogar gestiegen sind.

Die 2014 nach der Krim-Annexion verhängten Sanktionen haben sich auf die russische Wirtschaft per Saldo positiv ausgewirkt. Bei den direkt betroffenen Gütern wurde die Produktion von Importsubstituten auf- bzw. ausgebaut, und die Gegensanktionen Russlands, welche die Lebensmittelimporte betrafen, führten dazu, dass die russische Land- und Lebensmittelwirtschaft wesentlich wettbewerbsfähiger wurde und Russland heute kein Nettoimporteur, sondern ein Nettoexporteur von Agrarerzeugnissen ist. Ähnliche langfristig positive Effekte sind bei den aktuellen Sanktionen zwar nicht ausgeschlossen, aber angesichts der bisher ungekannten Breite und Tiefe der Sanktionen eher unwahrscheinlich. Dies gilt vor allem deshalb, weil – nicht primär als Folge der Sanktionen, sondern als Folge des Krieges – viele junge und gut ausgebildete Russen ihr Land verlassen haben und noch verlassen werden.

Gewinner und Verlierer der Sanktionspolitik

Die Sanktionen haben selbstverständlich nicht nur Russland betroffen, sondern auch Drittländer und die sanktionierenden Länder selbst. Um die Auswirkungen auf letztere, und hier vor allem auf Deutschland, soll es nun gehen. Es ist klar, dass die Exportwirtschaft insofern leidet, als Exporte nach Russland verboten sind. Dadurch kommt es zu Umsatz-, Gewinn- und unter Umständen auch Beschäftigungseinbußen. Davon betroffen ist besonders Deutschland, das innerhalb der EU am meisten nach Russland exportiert hat. Allerdings machten die Russlandexporte nur einen kleinen Teil der Gesamtexporte aus (1,9% im Jahr 2021), sodass deren Einbruch um fast die Hälfte (26,63 Milliarden Euro 2021 versus 12,54 Milliarden Euro von Januar bis Oktober 2022) durchaus verschmerzbar ist.

Daneben werden die Direktinvestitionen deutscher und anderer westlicher Unternehmen in Russland an Wert verlieren: durch schlechtere Konjunkturaussichten infolge von Krieg und Sanktionen, durch den (mehr oder weniger freiwilligen) Rückzug vom russischen Markt, aber auch durch Konfiszierungen. Die Höhe der notwendigen Abschreibungen lässt sich noch nicht genau beziffern; sie werden aber wohl die Existenz der Muttergesellschaften nicht gefährden.

Das Hauptproblem, vor allem für Deutschland, sind die Importrestriktionen bei Rohstoffen und die Gegensanktionen Russlands auf dem Gebiet der Gaslieferungen. Zusammen haben beide zu einer deutlichen Angebotsverknappung und zu teilweise extremen Preisanstiegen geführt. Betroffen waren davon vor allem Erdgas, daneben auch Rohöl. In der Folge stiegen auch die Strompreise deutlich. Durch den Anstieg der Importpreise kam es zu einer Verschlechterung der Terms of Trade, d.h. des Austauschverhältnisses zwischen Import- und Exportgütern. Das bedeutet, dass der Realwert an Gütern, die Deutschland für eine bestimmte Menge an Exportgütern importieren kann, gesunken ist. Damit einher gehen kräftige Realeinkommensverluste für die deutsche Volkswirtschaft, die einen Großteil des für 2022 eigentlich erwarteten Wachstums zunichtemachen. 

Beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland

Das ifo-Institut rechnet für 2022 mit einem Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von nur 1,6 Prozent und für 2023 mit einer Kontraktion um 0,3 Prozent. Es könnte aber auch schlimmer kommen: Sollte Russland seine Energieexporte in die EU vollständig einstellen, wären Energierationierungen und weitere Produktionsrückgänge spätestens 2023 nicht zu vermeiden und die Rezession würde dementsprechend deutlich schärfer ausfallen. Die hohen Energiepreise haben die Inflation weiter angeheizt, wenngleich dieses Problem nicht nur der Sanktionspolitik, sondern auch und vor allem der desaströsen Geldpolitik der EZB in den letzten zwölf Jahren anzulasten ist.

Als indirekte Folge der Sanktionen und Gegensanktionen könnte man auch die starke Zunahme der Staatsverschuldung nennen. In dem Bestreben, die Auswirkungen des Energiepreisanstiegs durch „Entlastungspakete“ und „Preisbremsen“ abzumildern, hat die Bundesregierung an neuen Schulden 2022 Euro 95 Milliarden über den Haushalt und für 2023 und 2024 Euro 200 Milliarden über einen Sonderfonds aufgenommen – Schulden, die eine große Last für künftige Generationen darstellen. 

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Diese Preisbremsen werden allerdings nicht in der Lage sein zu verhindern, dass die Energiepreise auf Dauer deutlich höher als vor Ausbruch des Krieges sein werden. Das gilt insbesondere für Erdgas, falls die Lieferungen russischen Gases längerfristig ausbleiben sollten und durch Transporte teuren Flüssiggases aus den USA oder Katar ersetzt werden müssen. Dadurch werden nicht nur die Haushalte auf Dauer belastet, sondern es wird auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie massiv gefährdet. Man muss davon ausgehen, dass, wie die Volkswirte der Deutschen Bank schreiben, die aktuelle Energiekrise der „Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland“ ist. 

Beispiele für diese Entwicklung lassen sich unschwer finden. So kündigte die BASF vor Kurzem einerseits Stellenstreichungen in Deutschland und andererseits die Errichtung eines zehn Milliarden Euro teuren Chemiewerks in China an. Allerdings geht diese Entwicklung nicht allein und nicht vor allem auf das Konto der Sanktionspolitik bzw. des Krieges, sondern ist zu einem Großteil der deutschen Energiepolitik der letzten 20 Jahre geschuldet, welche sich einseitig auf Klimaschutz und die „Energiewende“ fokussiert und dabei die Ziele der Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit vernachlässigt hat.

Hauptgewinner: die USA

Wie in jeder Krise gibt es auch in dieser Krise Gewinner: Durch den Anstieg der Strompreise haben die Erzeuger von Strom aus Kohle, Kernkraft und Erdöl Rekordgewinne eingefahren. Und als Folge nicht der Sanktionen, sondern des Krieges winken der Rüstungsindustrie Aufträge in Milliardenhöhe. Dennoch dürfte außer Zweifel stehen, dass Deutschland per Saldo durch die Sanktionspolitik große wirtschaftliche Verluste erlitten hat und wahrscheinlich noch weiter erleiden wird. Aber es gibt nicht nur auf Seiten von Drittländern, sondern auch auf Seiten der sanktionierenden Länder solche, die eindeutig zu den Gewinnern zählen. In ihrer Rolle als Erdgaslieferanten profitieren zum Beispiel Norwegen und die USA von den stark gestiegenen Gaspreisen. 

Aber es gibt noch weitere Gründe, weswegen die USA als der Hauptgewinner der Sanktionspolitik des Westens gelten können. Erstens haben sie für ihr Flüssiggas neue Märkte erschlossen – und zwar nicht nur kurzfristig, sondern auf Dauer, wozu nicht zuletzt die Zerstörung der Nordstream-Pipelines beigetragen hat. (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!) Zweitens können sie aufgrund ihrer im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa billigeren und zuverlässigeren Energieversorgung mit einer Zunahme ausländischer Direktinvestitionen rechnen. Und drittens haben sich die Geschäftsaussichten der amerikanischen Rüstungsindustrie glänzend entwickelt – zum einen wegen der gestiegenen Nachfrage insbesondere der Nato-Länder, zum anderen als Folge der Exportsanktionen des Westens, die die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Konkurrenz auf den Weltmärkten beeinträchtigen werden.

Eine neue Weltwirtschaftsordnung?

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Folgen von Krieg und Sanktionen auch grundsätzlicher und langfristiger Natur sein werden. Insbesondere die Sanktionen im Finanzbereich schaffen Anreize, sich Alternativen zu suchen – sowohl für Russland als auch für potentielle Adressaten künftiger westlicher Sanktionen. Anstelle von SWIFT werden diese Länder in Zukunft verstärkt das russische SPFS (System for Transfer and Financial Messages) und das chinesische CIPS (Cross-Border Interbank Payments System) nutzen.

Und das „Einfrieren“ oder die Konfiszierung internationaler Devisenreserven, vor allem von Dollar- und Euroreserven, wird dazu führen, dass sich betroffene oder „gefährdete“ Länder anderen Währungen und Edelmetallen zum Zweck der Reservehaltung zuwenden. Auf diese Weise kann es zu einer „De-Dollarisierung“ der Weltwirtschaft und schließlich zum Entstehen eines neuen Weltfinanzsystems kommen – wodurch Europa und vor allem die USA langfristig an Einfluss verlieren würden.

Auch die Welthandelsordnung wird in Zukunft anders aussehen: Die Export- und Importsanktionen werden in vielen Ländern den Wunsch nach größerer Autarkie und Widerstandsfähigkeit gegen mögliche Sanktionen geweckt haben. Dies kann einerseits das Horten von Rohstoffen und Lebensmitteln, andererseits den Aufbau und den Schutz strategischer Industrien zur Folge haben. Damit käme es zu einer „De-Globalisierung“ und einer Abnahme der internationalen Handelsbeziehungen, was mit weltweiten Wohlstandsverlusten verbunden wäre, unter denen letztlich alle Länder leiden würden.

Haben die Russland-Sanktionen ihren Zweck erfüllt?

Die Antwort auf diese Frage muss eindeutig „nein“ lauten. Russland und der russischen Wirtschaft wurde zwar schwerer Schaden zugefügt, aber es ist nicht ersichtlich, dass „die russischen Möglichkeiten zur Fortsetzung der Aggression wirksam vereitelt“ wurden. Die Exportsanktionen des Westens vor allem im Bereich der Hochtechnologie haben zwar die Produktion von Rüstungsgütern erschwert bzw. verteuert, sodass es in einigen Bereichen schon zu Nachschubschwierigkeiten gekommen ist. Ob dadurch das militärische Potential Russlands so weit geschwächt werden kann, dass es zu einem Rückzug aus der Ukraine kommt, erscheint allerdings fraglich. Wenn keine modernen Waffen mehr zur Verfügung stehen, kann Russland immer noch auf das gewaltige Arsenal aus Sowjetzeiten zurückgreifen – und damit vielleicht sogar noch mehr Schaden anrichten. Das könnte etwa der Fall sein, wenn man wegen der Knappheit an modernen Lenkwaffen zu Flächenbombardements à la Vietnam übergeht.

Dass der russischen Elite „spürbare Kosten“ auferlegt wurden, ist nicht zu bezweifeln. Aber wie es scheint, hat sich dadurch bislang an der Loyalität zu Putin und der Unterstützung des Krieges wenig geändert. Denn die Reiseeinschränkungen sind zwar sicher schmerzhaft, aber den Mitgliedern der Elite stehen noch viele Länder offen, und auch westliche Luxusgüter finden weiterhin ihren Weg nach Russland, wenngleich zu deutlich höheren Preisen. Hauptleidtragende der Sanktionen sind die breiten Schichten des Volkes, bei dem sich eine Kriegsmüdigkeit, wenn überhaupt, vor allem aufgrund der hohen Gefallenenzahlen, kaum aber wegen der wirtschaftlichen Nachteile, bemerkbar macht.

Da das Ziel der Sanktionen in einer Verhaltensänderung der russischen Regierung besteht und nicht darin, einen möglichst großen Schaden anzurichten, ist der Grad der Zielerreichung bislang äußerst bescheiden. Dass sich dies in näherer Zukunft ändert, ist nicht abzusehen. Auf der anderen Seite sind die mit den Sanktionen und Gegensanktionen verbundenen Kosten für die sanktionierenden Länder sehr hoch, was insbesondere für Deutschland mit seinen traditionell engen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland gilt. Eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse würde wohl zu dem Ergebnis kommen, dass die Sanktionspolitik höchstwahrscheinlich für Europa, ganz sicher aber für Deutschland ein „schlechtes Geschäft“ – und ein Festhalten an dieser Politik deshalb nicht rational ist. Für die USA mag das Ergebnis eines solchen Kalküls anders aussehen.

Mehr Rationalität in der Außenpolitik

In der Frage der Sanktionspolitik kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass auch hier, wie in so vielen anderen Politikbereichen, die Gesinnungs- über die Verantwortungsethik triumphiert. Aus der berechtigten Empörung über die russische Aggression sind Maßnahmen ergriffen worden, von denen mehr als fraglich ist, ob sie ihren Zweck erfüllen und von denen man inzwischen weiß, dass sie mit sehr hohen Kosten für das eigene Land verbunden sind.

Ein rationales Sanktionsregime würde in einem ersten Schritt klare Ziele definieren, in einem zweiten Schritt die Schwachstellen des Gegners identifizieren und in einem dritten Schritt die am effektivsten erscheinenden Sanktionen verhängen. Wichtig ist aber auch der vierte Schritt: die Überprüfung der Wirkung der verhängten Sanktionen. Wenn diese nicht die gewünschte Wirkung zeigen oder wenn mit ihnen nicht vorhergesehene bzw. nicht gewollte Nebenwirkungen verbunden sind, dann muss die Sanktionspolitik auf den Prüfstand gestellt und revidiert werden.

Für die Sanktionspolitik gilt dabei, was für jede Art von Politik gilt: Ein Nationalstaat hat per definitionem nationale Interessen, und diese sind es, die im Mittelpunkt der Politik zu stehen haben. Aus Sicht der Nationalökonomie ist das eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland gibt es aber viele Politiker, denen man dies ins Gedächtnis rufen muss – wie dies vor Kurzem Klaus von Dohnanyi getan hat.

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