27 Dezember 2022

Kommentar In Deutschland macht sich ein Hang zur Besserwisserei breit. Das könnte politisch gefährlich werden (WELT+)

Kommentar
In Deutschland macht sich ein Hang zur Besserwisserei breit. Das könnte politisch gefährlich werden (WELT+)
Deutsche neigen nicht zum Extremismus – eigentlich. Doch in der politisch-medialen Sphäre fallen zunehmend Besserwisserei und Bevormundung auf. Die Verachtung des Normalen gibt Anlass zur Sorge.
Susanne Gaschke, Berlin, 27.12.2022
Das moderne Deutschland war lange kein Land, um das man sich unter Demokratie-Gesichtspunkten Sorgen machen musste. 25 Prozent der Deutschen verorten sich, nach einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach aus diesem Jahr, exakt in der Mitte des demokratischen Meinungsspektrums; 36 Prozent ein wenig links, 29 Prozent ein wenig rechts dieser Mitte. Das ergibt 90 Prozent zwischen Mitte-links und Mitte-rechts. Eigentlich beruhigend.
Die Gefahr, dass Deutschland in einen Rechtspopulismus à la Donald Trump abgleitet, scheint demnach eher gering zu sein. Gleichwohl kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, das Justemilieu der Bundesrepublik tue so ziemlich alles, um vorhandene Spaltungstendenzen in dieser tendenziell freundlichen «Mitte»-Gesellschaft ohne Not zu verschärfen.
Dominanz des linksliberal-grünen Milieus
Es gibt eine – vermutlich gar nicht übergrosse, aber lautstarke – Schicht von Journalistinnen, Professoren, Kulturschaffenden, Politikern und Beamtinnen, die sehr klare Vorstellungen darüber äussern, wie das Gute Leben, und zwar bitte für alle, auszusehen habe: klimaneutral, geschlechtergerecht, queer-tolerant, rassismussensibel, coronasolidarisch und in jeder Hinsicht gegen rechts. Wobei die Definition, was als «rechts» zu gelten hat, natürlich bei den Inhabern der Deutungshoheit liegt.

Unter der Fürsorge dieser Wohlmeinenden polarisiert sich die Gesellschaft tatsächlich. Beunruhigen müssen heute Umfragezahlen, wonach nur 42 Prozent der Bevölkerung mit «der politischen Situation in Deutschland» zufrieden sind. Laut einer offiziellen Regierungserhebung, vor kurzem veröffentlicht im Jahresbericht des Ost-Beauftragten 2022, befürworten gerade einmal 59 Prozent der Westdeutschen und nur 39 Prozent der Ostdeutschen die «Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert».

In allen ostdeutschen Bundesländern ist die rechtspopulistische Alternative für Deutschland zweitstärkste Partei. In Umfragen steht die AfD gegenwärtig sogar auf Platz eins, so in Thüringen (30 Prozent) und Sachsen (28 Prozent).

Die Dominanz des linksliberal-grünen Milieus hatte während der drei grossen Koalitionen unter der Christlichdemokratin Angela Merkel begonnen. Unter der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP setzt sie sich nun fort. Immer häufiger geht es in den regierungsamtlich angestossenen Debatten um zeitgeistige Sekundärthemen: zum Beispiel um die Work-Life-Balance bei der Bundeswehr, wogegen absolut nichts zu sagen ist – ausser dass die Einsatzfähigkeit der Truppe zehnmal wichtiger wäre. Oder es geht um diversitätsfreundliche Anzeigenkampagnen der Deutschen Bahn – statt um die Pünktlichkeit der Züge. Als der grüne Oberbürgermeister von Tübingen diesen Umstand kritisierte, wurde er von seiner eigenen Partei kritisiert.

Oder es geht um die Erfüllung der Genderquote statt um die Kompetenz von Ministern und Ministerinnen; um das Adoptionsrecht für lesbische Mütter statt um real existierende, gute Kita-Plätze. Es geht – zu Recht – um die maximale Verfolgung sich verschwörender Reichsbürger, aber viel zu selten darum, wie man Menschen für die Demokratie zurückgewinnt.

«Lifestyle-Linke» und «ländliches Bewusstsein»

«Das Meinungsklima wird nicht nur von rechts vergiftet», schreibt die Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht in ihrem Buch «Die Selbstgerechten». Die «Lifestyle-Linken» zeigten eine offensichtliche Neigung, «ihre Privilegien für persönliche Tugenden zu halten und ihre Weltsicht und Lebensweise zum Inbegriff von Progressivität und Verantwortung zu erklären».

Das Milieu, das Wagenknecht «Lifestyle-Linke» nennt, residiert in Grossstädten – wohnt, wenn nicht in den Villenvierteln, dann um die Universitäten herum, arbeitet in Bundes- und Landesverwaltungen und in den Medien.

«Sie schauen mit Überheblichkeit auf die Lebenswelt, die Nöte, ja sogar die Sprache jener Menschen herab, die nie eine Universität besuchen konnten, eher im kleinstädtischen Milieu leben und die Zutaten für ihren Grillabend schon deshalb bei Aldi holen, weil das Geld bis zum Monatsende reichen muss», schreibt Wagenknecht. Sie hat auf jeden Fall einen Punkt, und so wenig vergleichbar die Parteiensysteme und die Gesellschaften Deutschlands und der USA auch sein mögen: Hier lohnt sich der Blick nach Amerika.

In den USA gab es im gesamten Wahlkampf des Jahres 2016 wohl keine unfreiwillig ehrlichere Aussage als die Formulierung der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die Trump-Anhänger seien ein «basket of deplorables», auf Deutsch: ein Haufen Beklagenswerter. Gern sprachen Demokraten auch von «White Trash», wenn sie Trump-Fans vor Augen hatten.

James David Vance, Nachkomme irisch-schottischer Einwanderer, aufgewachsen in Ohio und gerade neu gewählter republikanischer Senator für diesen Gliedstaat, hat 2016 ein bemerkenswertes Buch aus der Perspektive dieses «weissen Mülls» geschrieben: «Hillbilly-Elegie».

Darin geht es um das Gefühl einer grossen sozialen Gruppe, um nicht zu sagen: einer «Klasse», sich permanent hochzukämpfen – gegen Arbeitslosigkeit, gegen Drogenabhängigkeit und gegen die Verachtung tatsächlicher oder vermeintlicher Eliten. «Diese Leute reden von uns als «Hillbillys, Rednecks oder White Trash», schreibt Vance: «Ich rede von Nachbarn, Freunden und Verwandten.»

Eine andere Autorin, Katherine Cramer, Professorin für Politikwissenschaft an der University of Wisconsin-Madison, war 2016 weniger überrascht vom Wahlsieg Donald Trumps als viele andere politische Beobachter. Das könnte daran gelegen haben, dass sie seit Jahren Feldforschung in ihrem Gliedstaat Wisconsin betrieb, Interviews mit Landwirten führte, mit den Leuten an der Tankstelle Kaffee trank.

Cramer beschrieb ein «rural consciousness», ein ländliches Bewusstsein, das mit dem Gefühl verbunden war, von urbanen Gewinnern verachtet zu werden. «Es geht nicht um Fakten und politische Strategien», schrieb Cramer in einem Beitrag für die «New York Times», «sondern darum, wie diese Menschen die Welt und ihren Platz in ihr sehen.»

Arrogante Leute, die vom Leben keine Ahnung haben

Der Konflikt zwischen Washington und ländlichen Gebieten ist in Amerika seit je politikprägend. Für Deutschland dürfte Ost/West wichtiger sein als Stadt/Land, auch wenn letzterer Gegensatz ebenfalls eine gewisse Rolle spielt – zum Beispiel beim Streit über den Individualverkehr und ganz besonders den als umweltschädlich gebrandmarkten Diesel.

In fast allen Meinungsumfragen zu politisch heiklen Themen (von Corona bis zum Ukraine-Krieg) gibt es deutliche Unterschiede zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West. Im Westen schüttelt man gern über die Ostler den Kopf, die Demokratie und Freiheit angeblich niemals verinnerlicht hätten. Aber geht es in Wahrheit vielleicht auch hier um ganz andere Themen? Um Identität und verletzten Stolz?

Eine zweite Sphäre des Sich-abgehängt-Fühlens, diesmal nicht geografisch, sondern sozial definiert, ist das nichtakademische Milieu. Wer mit Friseurinnen, Kosmetikerinnen, Kinderfrauen, Marktbeschickern oder Installateuren spricht, bekommt das Bild einer unerträglich arroganten Auftraggeberschaft gezeichnet, die vom richtigen Leben keine Ahnung hat. Und die es trotz aller demonstrativen Wokeness an jeder Sensibilität gegenüber blossen Bediensteten fehlen lässt.

Respekt bedeutet Achtung für das Normale

Der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz hatte «Respekt» zu einem Leitmotiv seines Bundestagswahlkampfs gemacht. Doch ist zu befürchten, dass er «Respekt» zu eng definiert: als rein quantitatives Entlohnungskriterium.

Der Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde wird in vielen Haushalten für ein wenig Aufatmen sorgen, weil man von anstrengender, frustrierender Arbeit jetzt ein klein wenig besser leben kann. Aber Respekt bedeutet eigentlich mehr: Achtung für ganz normale Menschen, die täglich für ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen; die trotz aller Müdigkeit mit ihren Kindern die Hausaufgaben machen; die nicht plötzlich gezwungen werden wollen, mit Kollegen anders zu sprechen, als sie es immer getan haben; die nicht über jeden politisch verkündeten Fortschritt begeistert sind, weil irgendein «Fortschritt» in Arbeitswelt und Freizeit ständig über sie kommt, ob sie wollen oder nicht. Herablassung ist das Letzte, was diese Leute brauchen.

Es kann alles noch lange gutgehen. Aber auf Dauer reicht es wahrscheinlich auch in Deutschland nicht, nur zu hoffen, dass kein böser Charismatiker wie Donald Trump sein Haupt erhebt – damit hatte ja auch in Amerika niemand ernsthaft gerechnet. Man müsste jetzt, heute, sofort mit dem anfangen, was Katherine Cramer in Wisconsin getan hat: den anderen Leuten zuhören.

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