Redakteur im Ressort Wirtschaft und Finanzen 26.12.2022
WELT: Herr Stelter, laut dem Institut für Demoskopie glauben 85 Prozent der Bundesbürger, die Politik könne am ehesten dazu beitragen, die Inflation zu bremsen. Bei der Europäischen Zentralbank sehen nur ganze 33 Prozent die Verantwortung. Welche Schlüsse erlauben diese Zahlen?
Daniel Stelter: Die Bürger nehmen die Inflation vor allem als Folge der stark gestiegenen Energiepreise im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wahr und fordern zu Recht von der Politik Maßnahmen zur Kostendämpfung und damit zur Senkung der Inflation. Aus Sicht der EZB ist es ein Glücksfall – so kann sie von ihrem eigenen Versagen ablenken.
WELT: Welches Versagen meinen Sie?
Stelter: In Wahrheit ist es ja so, dass die Inflation bereits vor dem Krieg deutlich gestiegen war. Auslöser waren neben den Störungen in den Lieferketten im Zuge der Pandemie vor allem die großzügigen staatlichen Stützungsprogramme, die die EZB faktisch finanziert hat. Dies verstärkte noch die schon seit Jahren zu laxe Geldpolitik und legte erst die Grundlage für die Inflation.
WELT: Diese Geldpolitik hat jetzt eine weitere Konsequenz. Die Zinswende, mit der die Inflation bekämpft werden soll, sorgt dafür, dass die Notenbanken den Geschäftsbanken, denen sie im Gegenzug für ihre Anleihekäufe Zentralbankgeld gutschrieb, jetzt auch höhere Zinsen zahlen müssen. Schätzungen zufolge sind das für 2023 rund 92 Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt für die jährlichen Überweisungen der Notenbanken an ihre Finanzminister. Landet das Problem am Ende beim Steuerzahler?
Stelter: Wir müssen nüchtern anerkennen, dass es auch in der Geldpolitik keine wirtschaftspolitischen Maßnahmen ohne Nebenwirkungen gibt – auch wenn es manchmal dauert, bis sie sich zeigen. Solange die Zinsen tief waren, war der erwähnte Mechanismus ein einträgliches Geschäft, von dem auch die Finanzminister der Euro-Staaten profitierten. Nun drohen herbe Verluste, es besteht tatsächlich das Risiko, dass die Staaten die Notenbanken stützen müssen. Schon der Wegfall der bisherigen Ausschüttungen trifft die Kassen der Finanzminister.
WELT: Deutschlands Beteiligung am Corona-Wiederaufbaufonds ist gerade vom Bundesverfassungsgericht durchgewinkt worden, da droht schon die nächste Schuldenvergemeinschaftung: EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht jetzt von einem Souveränitätsfonds auf europäischer Ebene als Antwort auf den „Inflation Reduction Act“, mit dem die USA ihre Wirtschaft schützen wollen. Die Problemlagen, unter deren Vorwand der Haftungsausschluss aus den europäischen Verträgen ausgehebelt werden soll, wirken zunehmend beliebiger.
Stelter: Es ist schade, dass bei dem Urteil die gut begründete abweichende Meinung des Richters Müller so wenig Beachtung gefunden hat. Mit klaren Worten warnt er vor der Einführung einer neuen EU-Finanzarchitektur durch die Hintertür. Und zwar zu Recht. Es war immer das erklärte Ziel von Frankreich und Italien, Deutschland in eine Schulden- und Transferunion zu zwingen. Das löst aber nicht die grundlegenden Probleme des Euro und der EU.
WELT: Kann dieses Europa nicht nur dann im Wettbewerb mit China und den USA bestehen, wenn es zusammenhält – auch bei der Staatsfinanzierung?
Stelter: Die Annahme enthält einen Denkfehler. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands wird angesichts des demografischen Wandels, der verkorksten Energiepolitik, der realistischen Gefahr der De-Industrialisierung und des Rückstaus bei Infrastruktur und Digitalisierung massiv überschätzt.
Eine Transferunion zuungunsten Deutschlands führt zu einer Überbelastung und ist auch nicht gerecht. Die deutschen Privathaushalte haben relativ zur Wirtschaftsleistung weniger Vermögen als Italiener, Franzosen und Spanier. Statt neue Schulden zu machen und in dauerhafte Transfers einzusteigen, sollten deshalb alle Staaten – auch Deutschland – in einer einmaligen Aktion bestehende Schulden auf europäischer Ebene poolen und dafür gemeinsam haften.
WELT: Die aktuellen finanziellen Nöte in Europa resultieren auch aus der Lage am Energiemarkt. Renate Köcher vom IfD sagte Mitte Dezember, die Bürger hätten längst einen Haken an die Energiewende gemacht, bevor ihnen die krasse Abhängigkeit von russischem Gas bewusst geworden sei. Danach habe ein rapider Wandel zur Befürwortung von Kernkraft eingesetzt. Die Politik ignoriert das mit ihren Entscheidungen – abgesehen von der FDP, die immer mal wieder aufbegehrt. Wird die Atomdebatte im Frühjahr noch einmal aufgerollt?
Stelter: Es gehört zu den Phänomenen der deutschen Politik und der öffentlichen Diskussion, dass es gelingt, die Augen vor der Realität konsequent zu verschließen. Die Energiewende ist seit Jahren gescheitert und statt – wie von der Politik immer erzählt – unserem Vorbild zu folgen, beobachtet die Welt belustigt, erstaunt und durchaus mit Schadenfreude, wie wir mit voller Kraft vor die Wand fahren.
WELT: Einer muss doch den Anfang machen.
Stelter: Aber doch nicht so. Wir hatten schon vor dem Krieg das Phänomen, dass wir trotz der Investition von geschätzt 500 Milliarden Euro den teuersten Strom und zugleich einen hohen CO2-Ausstoß hatten. Es ist beeindruckend, wie diese Erkenntnis auch angesichts der akuten Energiekrise weiter verdrängt wird. Das Problem, das wir lösen müssen, ist die Speicherung von Energie. Und zwar nicht vom Tag für die Nacht, sondern vom Sommer für den Winter. In dieser Situation dann auch noch die verbliebenen Kernkraftwerke abzuschalten, ist mit rationalem Verhalten nicht zu erklären. Wenn wir wirklich glauben, nur noch ein bestimmtes Budget an CO2 zur Verfügung zu haben, dann sollten wir es sicher nicht für Kohlekraftwerke verwenden.
WELT: Welchen Weg müsste die Regierung denn gehen, um dem akuten Energienotstand zu begegnen?
Stelter: Neben dem Weiterbetrieb der Kernkraftwerke wäre das auch die Förderung von Erdgas in Deutschland, was zudem umweltfreundlicher wäre als Flüssiggas aus aller Welt. Angesichts dieser die Realität leugnenden Politik ist es nachvollziehbar, dass die Wirtschaft sich nach besseren Standorten umsieht. Die Regierung lebt offenbar in der Illusion, die deutsche Wirtschaft sei „unkaputtbar“.
WELT: Die energieintensive Industrie und der Autosektor als Rückgrat der deutschen Wirtschaft werden durch politische Entscheidungen bereits stark in Mitleidenschaft gezogen. Ist die hohe Bonität, die die Finanzmärkte Deutschland zugestehen und auf die es auch Befürworter einer Schuldenunion ja abgesehen haben dürften, mittelfristig gefährdet?
Stelter: Ja. Diese Bonität ist auf Dauer nicht zu halten. Demografie, Energiepolitik, Klimapolitik, Infrastruktur, Digitalisierung, Abgabenlast, Bürokratie: Wohin man auch blickt, schwächt die Politik die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Wir sind auf dem besten Wege, wieder der kranke Mann Europas zu sein. Nur diesmal dürfte ein Neustart deutlich schwerer sein als unter der Regierung Schröder.
WELT: Zu den verschlechterten Bedingungen gegenüber damals zählt auch die Lage am Arbeitsmarkt. Viel mehr Menschen als erwartet nutzen die Angebote, früher in Rente zu gehen, gleichzeitig wird das Bürgergeld eingeführt, das trotz Korrekturen Anreize zur Arbeitsaufnahme minimiert. Dabei gibt es in Deutschland über 800.000 unbesetzte Stellen. Ist die Einwanderungsoffensive das geeignete Werkzeug, um unser Fachkräfteproblem zu lösen?
Stelter: Nein. Wir bräuchten auf Jahre eine Nettozuwanderung in Größenordnungen, die nicht realisierbar sind. Hinzu kommt, dass es uns nicht gelingt, ausreichend qualifizierte Zuwanderer anzulocken und jene, die zu uns auf dem Asylweg gekommen sind, entsprechend zu qualifizieren und zu integrieren. Auch hier zeigt sich seit Jahren ein eklatantes Versagen der Politik. Wir müssen die nachfolgende Generation besser ausbilden, den Anteil der Studenten reduzieren und die berufliche Ausbildung stärken. Und wir müssen den Anteil des öffentlichen Sektors am Arbeitsmarkt reduzieren, damit mehr Menschen dort aktiv sind, wo das Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet wird. Bürgergeld oder gar die von vielen gewünschte Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens senden die falschen Signale.
WELT: Diese nationalen Entwicklungen verstärken sich noch, weil wir zugleich mit den Folgen der Rückabwicklung der Globalisierung zurechtkommen müssen. Wie kommt Deutschland als klassische Exportnation am besten durch diese neue Ära?
Stelter: Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die Globalisierung zurückgedreht wird. Wir müssen hier drei Dinge beachten. Zum einen bräuchte es ein globales Verständnis dafür, die De-Globalisierung nicht zu weit zu treiben. Dafür müssen wir auf diplomatischem Weg werben. Denn die Folge ist ein Wohlstandsverlust für alle Länder. Zum Zweiten sollten wir in der Außenpolitik anerkennen, dass es vorerst nicht möglich sein wird, unser Verständnis von Menschenrechten global durchzusetzen. Drittens gilt der Grundsatz weiter, dass man sich unverzichtbar macht, wenn die Produkte deutlich besser sind als die der Wettbewerber. Für diese Ziele müssen wir die Grundlagen legen.
WELT: Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage wirkt auch auf den Wohnungsmarkt, der zudem mit Blick auf den Klimaschutz von ungekannten regulatorischen Eingriffen geprägt ist. Die Aufteilung der CO2-Kosten sorgt genauso für Konfliktpotenzial wie das gesetzlich verfügte Quasi-Verbot von Gas- und Ölheizungen ab 2024. Wie werden diese Entwicklungen den deutschen Wohnungsmarkt verändern?
Stelter: Mit Verboten werden wir weder das Klima retten noch den Standort sichern. Echte Klimapolitik intensiviert die Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Das Verbot von Öl- und Gasheizungen und die Verpflichtung für Wärmepumpen bedeutet nichts anderes als die massive Entwertung vorhandenen Vermögens. 3000 Milliarden Euro soll die energetische Erneuerung des Immobilienbestandes kosten. Leider können wir diesen Kosten keine verhinderten Klimafolgeschäden gegenrechnen, da keine Aussicht besteht, dass es der Welt gelingt, den Klimawandel aufzuhalten. Allen Fortschritten zum Trotz.
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