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11 Dezember 2022
Business Class Edition: Auf dem Weihnachtsmarkt sehen wir die wahre Lebensqualität vieler Deutscher
Business Class Edition
:
Auf dem Weihnachtsmarkt sehen wir die wahre Lebensqualität vieler Deutscher
Deutschland: Wo geht's zur Mitte?
Gabor Steingart
, 09.12.2022
Wenn man nach den Gründen für die Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung, für die zunehmende politische Apathie weiter Teile der Gesellschaft und damit auch die hohen Nichtwähleranteile sucht, dann kann man Soziologen befragen oder die Depeschen der Meinungsforscher lesen.
Aber allemal vielversprechender wäre es, wenn man die Spurensuche direkt an der Quelle beginnt, also beim Volk selbst. Zum Beispiel bei Menschen wie Oliver Börner aus der Eifel, ein mir unbekannter Mensch, der in dieser Woche seine Sicht auf die Welt mit mir teilte:
Wir sollten nicht ausschließen, dass der Weihnachtsmarkt von Ochtendung repräsentativer ist für unser Land als der Deutsche Bundestag. Wir sehen vor unserem inneren Auge die festlich geschmückten Weihnachtsbäume, den Glühweinstand und den Holzkohlegrill. In Wahrheit aber blicken wir hier der kulturellen und wirtschaftlichen Mitte des Landes in die Seele.
An Orten wie Ochtendung will man nicht die Welt, sondern die eigene Normalität retten. Die Lieblingsvokabel der Menschen lautet nicht Breakthrough Innovation, sondern Gemütlichkeit. Dieser „innere Lebensbezirk des Menschen“, wie Sebastian Haffner sich einst ausdrückte, wird durch passiven Widerstand gegen die Anfeindungen der Moderne verteidigt. Hier wollen die Menschen Wohlstand und ein Feierabendbier, nicht Revolution und Sozialismus.
Regierung verstört durch Neubau des Kanzleramtes - weil gleichzeitig Büchereien geschlossen werden.
In diesen Kathedralen der Normalität träumt man nicht von CarSharing, sondern vom Carport. Man kämpft nicht gegen die Bodenversiegelung, sondern um eine Parzelle im Neubaugebiet. Man hat nichts gegen binäre Persönlichkeiten, nur kennt man sie leider gar nicht. Man hat hier nichts gegen den Ruf der Grünen nach einem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Nur hätte man gern, dass außer Parolen auch ab und zu ein Bus vorbeikommt.
Nicht der Neubau des Bundeskanzleramtes per se verstört, wohl aber die Gleichzeitigkeit von Neubau in Berlin und der Schließung von Bücherei, Schwimmbad und Sparkasse im eigenen Ort. Früher baute der Staat Dorfgemeinschaftshäuser, heute Asylbewerberheime.
Wenn man die Wahl hätte zwischen einem weiteren Abend am Schwenkgrill oder einer identitätspolitischen Nachhilfestunde von Ricarda Lang, wüsste sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland zu entscheiden. In Orten wie Ochtendung ist Winnetou noch ein Indianer und kein Vertreter eines indigenen Volksstammes. Hier erwartet man, dass unsere Fußballnationalmannschaft nicht zuerst den Ton, sondern das Tor trifft.
Wo Politiker jetzt wieder zur Mitte finden können
Und der jugendliche Teil von Ochtendung wird auf dem Weihnachtsmarkt mutmaßlich nicht gendern, sondern tanzen, trinken und flirten. Man fühlt sich als Teil einer neuen, nicht der letzten Generation. Man hängt an den Gewohnheiten, aber klebt nicht auf der Straße.
Man will hier nicht verzichten, sondern reisen. Natürlich würde man auch gerne die Welt retten, aber sie vorher erstmal kennenzulernen, wäre doch auch nicht schlecht. Weil man ja ahnt, dass es hinter dem Ortsschild von Ochtendung eine bunte, eine verrückte Vielfalt der Länder und Völker zu entdecken gilt.
Ein Vorschlag zur Güte
Während es die Jugend in die Ferne drängt, sollten Politiker und Hauptstadtjournalisten unbedingt in die entgegengesetzte Richtung reisen. Vielleicht finden sie in Ochtendung in der Eifel das, was sie vor vielen Jahren in Berlin verloren haben: die politische Mitte.
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