Business Class Edition: Auf dem Weihnachtsmarkt sehen wir die wahre Lebensqualität vieler Deutscher Deutschland: Wo geht's zur Mitte? Gabor Steingart , 09.12.2022 Wenn man nach den Gründen für die Entfremdung zwischen Politik und
Bevölkerung, für die zunehmende politische Apathie weiter Teile der
Gesellschaft und damit auch die hohen Nichtwähleranteile sucht, dann
kann man Soziologen befragen oder die Depeschen der Meinungsforscher
lesen.
Aber allemal vielversprechender wäre es, wenn man die
Spurensuche direkt an der Quelle beginnt, also beim Volk selbst. Zum
Beispiel bei Menschen wie Oliver Börner aus der Eifel, ein mir
unbekannter Mensch, der in dieser Woche seine Sicht auf die Welt mit mir
teilte:
Wir
sollten nicht ausschließen, dass der Weihnachtsmarkt von Ochtendung
repräsentativer ist für unser Land als der Deutsche Bundestag. Wir sehen
vor unserem inneren Auge die festlich geschmückten Weihnachtsbäume, den
Glühweinstand und den Holzkohlegrill. In Wahrheit aber blicken wir hier
der kulturellen und wirtschaftlichen Mitte des Landes in die Seele. An
Orten wie Ochtendung will man nicht die Welt, sondern die eigene
Normalität retten. Die Lieblingsvokabel der Menschen lautet nicht
Breakthrough Innovation, sondern Gemütlichkeit. Dieser „innere
Lebensbezirk des Menschen“, wie Sebastian Haffner sich einst ausdrückte,
wird durch passiven Widerstand gegen die Anfeindungen der Moderne
verteidigt. Hier wollen die Menschen Wohlstand und ein Feierabendbier,
nicht Revolution und Sozialismus. Regierung verstört durch Neubau des Kanzleramtes - weil gleichzeitig Büchereien geschlossen werden.
In
diesen Kathedralen der Normalität träumt man nicht von CarSharing,
sondern vom Carport. Man kämpft nicht gegen die Bodenversiegelung,
sondern um eine Parzelle im Neubaugebiet. Man hat nichts gegen binäre
Persönlichkeiten, nur kennt man sie leider gar nicht. Man hat hier
nichts gegen den Ruf der Grünen nach einem Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs. Nur hätte man gern, dass außer Parolen auch ab und zu ein
Bus vorbeikommt.
Nicht
der Neubau des Bundeskanzleramtes per se verstört, wohl aber die
Gleichzeitigkeit von Neubau in Berlin und der Schließung von Bücherei,
Schwimmbad und Sparkasse im eigenen Ort. Früher baute der Staat
Dorfgemeinschaftshäuser, heute Asylbewerberheime. Wenn man die Wahl
hätte zwischen einem weiteren Abend am Schwenkgrill oder einer
identitätspolitischen Nachhilfestunde von Ricarda Lang, wüsste sich die
Mehrheit der Menschen in Deutschland zu entscheiden. In Orten wie
Ochtendung ist Winnetou noch ein Indianer und kein Vertreter eines
indigenen Volksstammes. Hier erwartet man, dass unsere
Fußballnationalmannschaft nicht zuerst den Ton, sondern das Tor trifft.
Wo Politiker jetzt wieder zur Mitte finden können
Und
der jugendliche Teil von Ochtendung wird auf dem Weihnachtsmarkt
mutmaßlich nicht gendern, sondern tanzen, trinken und flirten. Man fühlt
sich als Teil einer neuen, nicht der letzten Generation. Man hängt an
den Gewohnheiten, aber klebt nicht auf der Straße. Man will hier
nicht verzichten, sondern reisen. Natürlich würde man auch gerne die
Welt retten, aber sie vorher erstmal kennenzulernen, wäre doch auch
nicht schlecht. Weil man ja ahnt, dass es hinter dem Ortsschild von
Ochtendung eine bunte, eine verrückte Vielfalt der Länder und Völker zu
entdecken gilt. Ein Vorschlag zur Güte
Während es die Jugend
in die Ferne drängt, sollten Politiker und Hauptstadtjournalisten
unbedingt in die entgegengesetzte Richtung reisen. Vielleicht finden sie
in Ochtendung in der Eifel das, was sie vor vielen Jahren in Berlin
verloren haben: die politische Mitte.
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