Die
Wohlstandsgesellschaft in Europa mit all den sozialen Absicherungen
ermöglichte einen weitreichenden Individualisierungsprozess. Die daraus
abgeleitete Weltverbesserungs-ideologie ist gut gemeint, aber wenig
durchdacht.
Acht
westeuropäische Fussballnationalmannschaften – Deutschland, England,
die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Wales, Frankreich, Dänemark (und
auch Schweden und Norwegen, die sich jedoch nicht für die WM
qualifiziert haben) – wollten durch das Tragen der Captainbinde mit dem
von einem Herz eingerahmten Regenbogenmotiv ein Zeichen setzen.
Es
sollte ein Statement sein gegen Homophobie und Rassismus sowie für
Offenheit, Toleranz, Menschenrechte und Freiheit, insbesondere auch für
LGBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transmenschen,
intergeschlechtliche sowie queere Menschen).
«Zivilisierungsprozess» europäischer Machart
Vor
hundert Jahren zogen Missionare aus, um Menschen in allen Teilen der
Welt zu «bekehren», ihnen ihren «Teufelsglauben» samt Ritualen
auszutreiben und ihnen das Evangelium zu verkünden. Ganz im Sinne der
«Herrenländer» und ihrer Kolonialisierungsstrategie vollzogen sie, meist
unbewusst, einen «Zivilisierungsprozess» europäischer Machart, der
letztlich Unterwerfung und Assimilation an das Selbstverständnis der
Herrschenden und ihre Werte bedeutete.
Rückblickend
– gerade aus der Perspektive europäisch-postkolonialer Wissenschafter
und ihres aktivistischen Gefolges – werden Missionare als Handlanger des
Kolonialismus identifiziert. Religion – Welterklärung, Vermittlung von
Sinnhaftigkeit und Werten – und ökonomisch-politisches System ergänzen
sich gegenseitig.
Der
Versuch, anderen Menschen die eigene Weltsicht aufzuzwingen, ist kein
modernes Phänomen. Alle auf Expansion angelegten politischen Gebilde,
seien es Königreiche oder Staaten unterschiedlichster Struktur,
einschliesslich Terrororganisationen, versuchten (und versuchen), den
Unterworfenen ihren Glauben aufzuzwingen, sie gefügig zu machen und
ihnen ihre Wertvorstellungen einzuimpfen.
Mit
den «One Love»-Binden wollten die erwähnten europäischen
Fussballverbände in Katar eine Botschaft verkünden, wie sie nur in
westeuropäischen Wohlfahrtsgesellschaften entstanden sein konnte.
Wohlfahrtsstaaten sind das Resultat kapitalistischen Wirtschaftens,
kombiniert mit den in Europa historisch gewachsenen und erkämpften
Demokratiestrukturen. Sie weisen ein dichtes Netz sozialer Absicherungen
auf, das Menschen bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter
auffängt.
Inzwischen
gelten diese Leistungen als selbstverständlich, fast so, als wäre dies
in allen Ländern der Fall. In der Folge haben Wohlfahrtsstaaten für
Frauen und Männer Freiheitsräume zur individuellen Selbstverwirklichung
hervorgebracht, die gesellschaftlich definierten Zuordnungen zu
Geschlechter- oder Verwandtschaftskategorien eine Absage erteilen.
Geschlecht, Sexualität, Kinderkriegen, Partnerschaft, Ehe und
Verwandtschaft sind zum Spielfeld immer unverbindlicher werdender,
individuell präferierter Konfigurationen geworden – nicht zuletzt
angetrieben von den Motoren und Körpervorstellungen der kapitalistischen
Schönheits- und Pornoindustrie.
Wie
der Sozialwissenschafter Mathieu Hilgers festgestellt hat, wird bei der
Berufung auf individuelle Freiheiten zum Zweck der Selbstverwirklichung
die Frage nach den sozialen und ökonomischen Bedingungen, die diese
erst ermöglicht haben, gar nicht gestellt.
Das
gilt auch für die «One Love»-Missionare in den Fussballstadien von
Katar. Aus der historisch einmaligen Situation der
Wohlstandsgesellschaft einiger weniger Industrienationen wird eine
Weltverbesserungsideologie abgeleitet und verbreitet – wie bei den
Missionaren vor hundert Jahren sicher in guter Absicht, aber mit
Blindheit geschlagen.
Die Gemeinschaft und deren Wohlergehen
Zwei
Dinge werden ausgeblendet: Die meisten der Länder der 211
Mitgliedsverbände der Fifa sind keine Wohlfahrtsstaaten. Diese Aufgabe
übernehmen, wenn auch mit zunehmenden Schwierigkeiten, überlieferte
soziale Strukturen, die auf Verwandtschaft basieren, auf
Familienstrukturen und ihren intergenerationalen Beziehungen, auf Clans,
auf Geschlechter- und Altersgruppen, auf Nachbarschaftsorganisationen
mit dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe sowie auf
Glaubensgemeinschaften.
Nicht
die Freiheit des Individuums steht im Vordergrund, sondern die
Gemeinschaft und deren Wohlergehen, was in den meisten Ländern des
Südens vor allem Überleben bedeutet. Das funktioniert nur dann, wenn
jedes Mitglied die Pflichten erfüllt, die mit seinem Platz in der
Gesellschaft verbunden sind. Dahinter steht jeweils eine
kulturspezifische, religiös begründete Ethik.
Katar
ist, wie andere Golfstaaten auch, ein islamischer und nicht säkularer
Staat. Das Menschheitsbild – und damit auch Geschlechterrollen und
Sexualleben – ist, wie in vielen weiteren Ländern, religiös begründet.
Der Vorstoss zur «One Love»-Binde kam übrigens ursprünglich vom
niederländischen Fussballverband, war aber auch dort umstritten: Der
türkischstämmige Captain eines Erstligavereins lehnte sie mit Hinweis
auf seine Religion ab.
Hugo
Lloris, Captain der französischen Nationalmannschaft, erklärte, dass er
keine «One Love»-Binde tragen werde. Es sei eine Frage des Respekts
gegenüber dem Gastgeberland. Dem ist eigentlich nichts beizufügen, umso
mehr, als jeder Verband der Einladung Katars freiwillig Folge geleistet
hat.
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