02 Dezember 2022

Die «One Love»-Binde und das missionarische Sendungsbewusstsein der West-Europäer (NZZ)

Die «One Love»-Binde und das missionarische Sendungsbewusstsein
Die Wohlstandsgesellschaft in Europa mit all den sozialen Absicherungen ermöglichte einen weitreichenden Individualisierungsprozess. Die daraus abgeleitete Weltverbesserungs-ideologie ist gut gemeint, aber wenig durchdacht.
Brigitta Hauser-Schäublin, emeritierte Professorin für Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. 01.12.2022.
Die gleiche Selbstherrlichkeit und felsenfeste Überzeugung der Europäer, dass sie Verkünder des einzig richtigen Glaubens und Weltbildes sind, wie sie die Missionare des frühen 20. Jahrhunderts zur Schau trugen, zeigt sich in den medial bejubelten «One Love»-Propagandisten in Katar.
Acht westeuropäische Fussballnationalmannschaften – Deutschland, England, die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Wales, Frankreich, Dänemark (und auch Schweden und Norwegen, die sich jedoch nicht für die WM qualifiziert haben) – wollten durch das Tragen der Captainbinde mit dem von einem Herz eingerahmten Regenbogenmotiv ein Zeichen setzen.
Es sollte ein Statement sein gegen Homophobie und Rassismus sowie für Offenheit, Toleranz, Menschenrechte und Freiheit, insbesondere auch für LGBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transmenschen, intergeschlechtliche sowie queere Menschen).
«Zivilisierungsprozess» europäischer Machart
Vor hundert Jahren zogen Missionare aus, um Menschen in allen Teilen der Welt zu «bekehren», ihnen ihren «Teufelsglauben» samt Ritualen auszutreiben und ihnen das Evangelium zu verkünden. Ganz im Sinne der «Herrenländer» und ihrer Kolonialisierungsstrategie vollzogen sie, meist unbewusst, einen «Zivilisierungsprozess» europäischer Machart, der letztlich Unterwerfung und Assimilation an das Selbstverständnis der Herrschenden und ihre Werte bedeutete.
Rückblickend – gerade aus der Perspektive europäisch-postkolonialer Wissenschafter und ihres aktivistischen Gefolges – werden Missionare als Handlanger des Kolonialismus identifiziert. Religion – Welterklärung, Vermittlung von Sinnhaftigkeit und Werten – und ökonomisch-politisches System ergänzen sich gegenseitig.
Der Versuch, anderen Menschen die eigene Weltsicht aufzuzwingen, ist kein modernes Phänomen. Alle auf Expansion angelegten politischen Gebilde, seien es Königreiche oder Staaten unterschiedlichster Struktur, einschliesslich Terrororganisationen, versuchten (und versuchen), den Unterworfenen ihren Glauben aufzuzwingen, sie gefügig zu machen und ihnen ihre Wertvorstellungen einzuimpfen.
Mit den «One Love»-Binden wollten die erwähnten europäischen Fussballverbände in Katar eine Botschaft verkünden, wie sie nur in westeuropäischen Wohlfahrtsgesellschaften entstanden sein konnte. Wohlfahrtsstaaten sind das Resultat kapitalistischen Wirtschaftens, kombiniert mit den in Europa historisch gewachsenen und erkämpften Demokratiestrukturen. Sie weisen ein dichtes Netz sozialer Absicherungen auf, das Menschen bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter auffängt.
Inzwischen gelten diese Leistungen als selbstverständlich, fast so, als wäre dies in allen Ländern der Fall. In der Folge haben Wohlfahrtsstaaten für Frauen und Männer Freiheitsräume zur individuellen Selbstverwirklichung hervorgebracht, die gesellschaftlich definierten Zuordnungen zu Geschlechter- oder Verwandtschaftskategorien eine Absage erteilen. Geschlecht, Sexualität, Kinderkriegen, Partnerschaft, Ehe und Verwandtschaft sind zum Spielfeld immer unverbindlicher werdender, individuell präferierter Konfigurationen geworden – nicht zuletzt angetrieben von den Motoren und Körpervorstellungen der kapitalistischen Schönheits- und Pornoindustrie.
Wie der Sozialwissenschafter Mathieu Hilgers festgestellt hat, wird bei der Berufung auf individuelle Freiheiten zum Zweck der Selbstverwirklichung die Frage nach den sozialen und ökonomischen Bedingungen, die diese erst ermöglicht haben, gar nicht gestellt.
Das gilt auch für die «One Love»-Missionare in den Fussballstadien von Katar. Aus der historisch einmaligen Situation der Wohlstandsgesellschaft einiger weniger Industrienationen wird eine Weltverbesserungsideologie abgeleitet und verbreitet – wie bei den Missionaren vor hundert Jahren sicher in guter Absicht, aber mit Blindheit geschlagen.
Die Gemeinschaft und deren Wohlergehen
Zwei Dinge werden ausgeblendet: Die meisten der Länder der 211 Mitgliedsverbände der Fifa sind keine Wohlfahrtsstaaten. Diese Aufgabe übernehmen, wenn auch mit zunehmenden Schwierigkeiten, überlieferte soziale Strukturen, die auf Verwandtschaft basieren, auf Familienstrukturen und ihren intergenerationalen Beziehungen, auf Clans, auf Geschlechter- und Altersgruppen, auf Nachbarschaftsorganisationen mit dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe sowie auf Glaubensgemeinschaften.
Nicht die Freiheit des Individuums steht im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft und deren Wohlergehen, was in den meisten Ländern des Südens vor allem Überleben bedeutet. Das funktioniert nur dann, wenn jedes Mitglied die Pflichten erfüllt, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verbunden sind. Dahinter steht jeweils eine kulturspezifische, religiös begründete Ethik.
Katar ist, wie andere Golfstaaten auch, ein islamischer und nicht säkularer Staat. Das Menschheitsbild – und damit auch Geschlechterrollen und Sexualleben – ist, wie in vielen weiteren Ländern, religiös begründet. Der Vorstoss zur «One Love»-Binde kam übrigens ursprünglich vom niederländischen Fussballverband, war aber auch dort umstritten: Der türkischstämmige Captain eines Erstligavereins lehnte sie mit Hinweis auf seine Religion ab.
Hugo Lloris, Captain der französischen Nationalmannschaft, erklärte, dass er keine «One Love»-Binde tragen werde. Es sei eine Frage des Respekts gegenüber dem Gastgeberland. Dem ist eigentlich nichts beizufügen, umso mehr, als jeder Verband der Einladung Katars freiwillig Folge geleistet hat.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen