In
Berlin klappte am Wahltag nichts, und deswegen wird die Wahl
voraussichtlich wiederholt. Für manche überraschend, will sich das
oberste Gericht der Hauptstadt nicht mit dem Chaos abfinden.
Es
sind nämlich nicht nur die «Querdenker» auf den Straßen, die "Hand an
die Demokratie" legen, sondern auch schlampige öffentlich Bedienstete.
Von Christian Dittrich
Ein
Jahr nach der Wahl hat in Berlin der Wahlkampf begonnen, und zwar in
einem Hörsaal der Freien Universität. Hier verkündete der
Verfassungsgerichtshof des Landes am Mittwoch, dass die schiefgegangene
Abstimmung wegen zu vieler Fehler voraussichtlich ungültig sei und
wiederholt werden müsse. Ein Raunen ging durch den Raum. Es ist zwar
noch kein Urteil, sondern nur die vorläufige Einschätzung der neun
Verfassungsrichter; und doch – ein starkes Zeichen. Es sagt: Der
berüchtigte Berliner Schlendrian darf bei einem so grundlegenden Vorgang
wie einer Parlamentswahl nicht hingenommen werden. Das ist konsequent
und richtig – und doch mehr, als viele sich gewünscht haben.
«Das ist ein Paukenschlag!», sagte Stephan Bröchler, der Mann, der die
Misere jetzt auszubaden hat. Er ist ab Oktober der neue
Landeswahlleiter. Seine Vorgängerin Ulrike Rockmann bekam wegen der
Organisation der Chaos-Wahl in der Verhandlung eine solche Breitseite
vom Gericht, dass ein anderer Ausgang des Verfahrens als die
Ungültigerklärung der Wahl kaum mehr vorstellbar ist.
Schon
die Vorbereitung sei so schlecht gewesen, dass dies als Wahlfehler
einzustufen sei, sagte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Die
Durchführung der Wahl sei ebenfalls mangelhaft gewesen. Die Fehler seien
mandatsrelevant, und das Korrekturinteresse der Bürger überwiege das
Bestandsinteresse des Parlaments.
Drei Minuten für sechs Stimmen auf fünf Zetteln
Zur Erinnerung: Am Tag der Bundestagswahl im September 2021 ging in Berlin alles Mögliche schief. Sechs Stimmen waren auf fünf Stimmzetteln abzugeben, nämlich für den Bundestag, den Landtag (er heißt hier Abgeordnetenhaus) und die Bezirksverordnetenversammlungen sowie ein Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungsunternehmen. Drei Minuten pro Wahlvorgang hatte Rockmann dafür kalkuliert, doch viele brauchten länger, bis sie sich in dem Wust zurechtfanden. Obendrein war ein Grossteil der Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt, weil der Berlin-Marathon stattfand.
Am Wahltag gab es in vielen Wahllokalen keine oder die falschen Stimmzettel, nicht genug Kabinen, stundenlange Wartezeiten. Die 2256 Wahllokale waren wegen fehlender Stimmzettel während der Öffnungszeit insgesamt 83 Stunden geschlossen, so dass eine unbekannte Zahl von Personen nicht wählen konnte, nach der Öffnungszeit hingegen zusammengerechnet 350 Stunden geöffnet, so dass während des Anstehens schon die Hochrechnungen verfolgt werden konnten, und zwar in nahezu der Hälfte der Wahllokale, nämlich 1066. Das alles entspreche nicht den Anforderungen an eine ungehinderte und unbeeinflusste Wahl, sagte Selting.
Ein bisschen Einspruch, bitte
Nach dem Paukenschlag waren die Beteiligten dran. Die Landeswahlleiterin Rockmann rechnete vor, warum ihre Annahmen plausibel waren, und positionierte sich gegen eine vollständige Neuwahl. Man könne ja die Stimmen, die auf hektisch zusammenkopierten und daher ungültigen Stimmzetteln abgegeben und dennoch gezählt wurden, noch finden, nachzählen und rausrechnen. Dann werde sich auch zeigen, dass sich am Ergebnis nichts ändere. Ja gut, eine «hohe vierstellige Zahl» sei das gewesen, doch auf das Ganze von Berlin gerechnet, mache das ja nichts aus. Es sei ja fast überall gutgegangen.
Noch weiter ging Innenstaatssekretär Torsten Akmann. Sinngemäß sagte er, in neunzig Prozent der Fälle sei alles korrekt abgelaufen, das reiche doch wohl. Die Innenverwaltung hatte auch Einspruch eingelegt, aber nur für einzelne Wahllokale in 3 der 78 Wahlkreise und nur für die Erststimmen. Ihr Anwalt Ulrich Karpenstein räumte zwar ein, dass es «Ärgernisse» gegeben habe, doch eine Wiederholung der kompletten Wahl gehe ja nun zu weit.Aus den Wahllokalen waren zuvor teilweise skandalöse Schilderungen zu hören gewesen, auch aus denen, wo offiziell alles ordnungsgemäß verlaufen war. Es fehlten Urnen, Wahlämter waren nicht erreichbar, mancherorts wurde der Rat erteilt, doch «mit Pappkartons zu improvisieren» (als Wahlurne, die eigentlich verschlossen sein muss), und wenn die Zahl der ausgezählten Stimmen nur wenig von derjenigen der abgegebenen Stimmen abwich, hiess es mancherorts: «Was, wegen der paar Stimmen wollt ihr alles noch mal zählen? Macht doch nicht so einen Aufstand!»
Deswegen ist es wichtig, dass der Verfassungsgerichtshof sich nicht auf mahnende Worte beschränkt.
Die Exekutive legt Hand an die Demokratie
Man hat es in Amerika gesehen: Joe Biden ist an der Macht, weil kleine und große Wahlbehörden und Abstimmungsleiter sich geweigert haben, ihre Arbeit schlecht oder schlampig zu machen, obwohl sie unter Druck standen, das zu tun – am Schluss sogar der Vizepräsident, der sich geweigert hat, die Unordnung des Prozesses, die die Republikaner erzeugen wollten, durchgehen zu lassen. Noch nicht einmal die physische Gewalt der Capitol-Stürmer konnte die amerikanischen Institutionen davon abhalten, zu funktionieren. So – und nur so – funktioniert die Demokratie.
Wenn Bürger ihre Institutionen nicht verteidigten, würden sie der Tyrannei den Weg ebnen, schreibt der US-Historiker Timothy Snyder. In Berlin haben sehr viele Wahlbehörden und die in ihnen sitzenden Angestellten des öffentlichen Dienstes ihren Job schrecklich schlampig gemacht. Und anschließend hat man so getan, als ob die Schlampigkeit eine lässliche Sünde wäre. Das ist sie aber nicht. Hier legt die Exekutive Hand an die Wurzel der Demokratie. Es sind nicht nur die «Querdenker» auf den Straßen, die das tun, sondern auch solche öffentlich Bediensteten.
Drei Minuten für sechs Stimmen auf fünf Zetteln
Zur Erinnerung: Am Tag der Bundestagswahl im September 2021 ging in Berlin alles Mögliche schief. Sechs Stimmen waren auf fünf Stimmzetteln abzugeben, nämlich für den Bundestag, den Landtag (er heißt hier Abgeordnetenhaus) und die Bezirksverordnetenversammlungen sowie ein Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungsunternehmen. Drei Minuten pro Wahlvorgang hatte Rockmann dafür kalkuliert, doch viele brauchten länger, bis sie sich in dem Wust zurechtfanden. Obendrein war ein Grossteil der Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt, weil der Berlin-Marathon stattfand.
Am Wahltag gab es in vielen Wahllokalen keine oder die falschen Stimmzettel, nicht genug Kabinen, stundenlange Wartezeiten. Die 2256 Wahllokale waren wegen fehlender Stimmzettel während der Öffnungszeit insgesamt 83 Stunden geschlossen, so dass eine unbekannte Zahl von Personen nicht wählen konnte, nach der Öffnungszeit hingegen zusammengerechnet 350 Stunden geöffnet, so dass während des Anstehens schon die Hochrechnungen verfolgt werden konnten, und zwar in nahezu der Hälfte der Wahllokale, nämlich 1066. Das alles entspreche nicht den Anforderungen an eine ungehinderte und unbeeinflusste Wahl, sagte Selting.
Ein bisschen Einspruch, bitte
Nach dem Paukenschlag waren die Beteiligten dran. Die Landeswahlleiterin Rockmann rechnete vor, warum ihre Annahmen plausibel waren, und positionierte sich gegen eine vollständige Neuwahl. Man könne ja die Stimmen, die auf hektisch zusammenkopierten und daher ungültigen Stimmzetteln abgegeben und dennoch gezählt wurden, noch finden, nachzählen und rausrechnen. Dann werde sich auch zeigen, dass sich am Ergebnis nichts ändere. Ja gut, eine «hohe vierstellige Zahl» sei das gewesen, doch auf das Ganze von Berlin gerechnet, mache das ja nichts aus. Es sei ja fast überall gutgegangen.
Noch weiter ging Innenstaatssekretär Torsten Akmann. Sinngemäß sagte er, in neunzig Prozent der Fälle sei alles korrekt abgelaufen, das reiche doch wohl. Die Innenverwaltung hatte auch Einspruch eingelegt, aber nur für einzelne Wahllokale in 3 der 78 Wahlkreise und nur für die Erststimmen. Ihr Anwalt Ulrich Karpenstein räumte zwar ein, dass es «Ärgernisse» gegeben habe, doch eine Wiederholung der kompletten Wahl gehe ja nun zu weit.Aus den Wahllokalen waren zuvor teilweise skandalöse Schilderungen zu hören gewesen, auch aus denen, wo offiziell alles ordnungsgemäß verlaufen war. Es fehlten Urnen, Wahlämter waren nicht erreichbar, mancherorts wurde der Rat erteilt, doch «mit Pappkartons zu improvisieren» (als Wahlurne, die eigentlich verschlossen sein muss), und wenn die Zahl der ausgezählten Stimmen nur wenig von derjenigen der abgegebenen Stimmen abwich, hiess es mancherorts: «Was, wegen der paar Stimmen wollt ihr alles noch mal zählen? Macht doch nicht so einen Aufstand!»
Deswegen ist es wichtig, dass der Verfassungsgerichtshof sich nicht auf mahnende Worte beschränkt.
Die Exekutive legt Hand an die Demokratie
Man hat es in Amerika gesehen: Joe Biden ist an der Macht, weil kleine und große Wahlbehörden und Abstimmungsleiter sich geweigert haben, ihre Arbeit schlecht oder schlampig zu machen, obwohl sie unter Druck standen, das zu tun – am Schluss sogar der Vizepräsident, der sich geweigert hat, die Unordnung des Prozesses, die die Republikaner erzeugen wollten, durchgehen zu lassen. Noch nicht einmal die physische Gewalt der Capitol-Stürmer konnte die amerikanischen Institutionen davon abhalten, zu funktionieren. So – und nur so – funktioniert die Demokratie.
Wenn Bürger ihre Institutionen nicht verteidigten, würden sie der Tyrannei den Weg ebnen, schreibt der US-Historiker Timothy Snyder. In Berlin haben sehr viele Wahlbehörden und die in ihnen sitzenden Angestellten des öffentlichen Dienstes ihren Job schrecklich schlampig gemacht. Und anschließend hat man so getan, als ob die Schlampigkeit eine lässliche Sünde wäre. Das ist sie aber nicht. Hier legt die Exekutive Hand an die Wurzel der Demokratie. Es sind nicht nur die «Querdenker» auf den Straßen, die das tun, sondern auch solche öffentlich Bediensteten.
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