22 September 2022

Der andere Blick - Wer ein Kraftwerk blockiert, ist kein Aktivist, sondern kriminell (NZZ)

Der andere Blick
Wer ein Kraftwerk blockiert, ist kein Aktivist, sondern kriminell (NZZ)
In Brandenburg legen 40 Menschen einen Teil des drittgrössten deutschen Kraftwerks lahm, und fast keinen interessiert es. Das liegt auch an einer verniedlichenden Sprache, die Extremisten zu Aktivisten macht.
Marc Felix Serrao, Berlin, 21.09.2022
Stell dir vor, es ist Energiekrise, und du kannst einfach mal ein Kraftwerk lahmlegen. So geschehen an diesem Montag im brandenburgischen Jänschwalde nahe der polnischen Grenze. Etwa 40 Menschen blockierten Gleise und Förderbänder von Deutschlands drittgrösstem Kraftwerk und sorgten dafür, dass die Betreiber zeitweise die halbe Anlage vom Netz nehmen mussten. Ein Unternehmenssprecher sprach später von einem «Angriff auf die Versorgungssicherheit». Angesichts der prekären deutschen Lage war das keine Übertreibung.
«Jede Kilowattstunde hilft»: Das hat der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck den Bürgern und Unternehmen des Landes schon im Juni eingeschärft. Bedenkt man, dass die Blockade vom Montag die Stromproduktion in Jänschwalde um ein Gigawatt reduziert haben soll, hätte Habeck eine Million Gründe, die Verantwortlichen zu kritisieren. Aber vom Minister kam – nichts.
Die ganze Bundesregierung schwieg zu dem Angriff. Die überregionalen Medien berichteten allenfalls knapp und routiniert. Gewiss, der Kraftwerksbetreiber Leag protestierte und erstattete Anzeige; er ist eines der grössten Energieunternehmen im Osten Deutschlands und einer der wichtigsten Arbeitgeber der Region. Auch der brandenburgische Innenminister von der CDU reagierte. Er nannte die Blockierer «Verbrecher» und wünschte ihnen empfindliche Strafen. Aber den Rest der Republik liess der Angriff auf eine kuriose Weise kalt.
«Wer nicht hüpft, der ist für Kohle, hey, hey!»
Liegt es daran, dass die Temperaturen noch herbstlich und die dramatisch gestiegenen Strom- und Gaspreise bei vielen Bürgern noch nicht in Form von real gewordenen Rechnungen angekommen sind? Vermutlich auch. Aber der Hauptgrund für das entspannte Desinteresse dürfte das Etikett sein, mit dem fast alle Medien die Kraftwerkblockierer reflexhaft präsentiert haben: als «Klimaaktivisten».
Der Begriff hat für die meisten Menschen bis heute einen positiven Klang. Man denkt an Greta Thunberg, ihr selbstgemachtes Schild und ihre Millionen meist sehr jungen Anhänger. Klima und Aktivismus, das klingt wie Umweltbewusstsein plus Frühsport: «Wer nicht hüpft, der ist für Kohle, hey, hey!»
Für viele Klimaaktivisten ist der Begriff auch nach wie vor passend. Sie engagieren sich für einen Ausbau erneuerbarer Energiequellen, verzichten aufs Auto, reisen CO2-sparend und essen kaum Fleisch oder gar keines mehr. Aber es gibt auch die anderen, die sich vor lauter Sorge ums Klima nicht nur ein bisschen radikalisiert haben.
Umschwärmte Leitfiguren wie Luisa Neubauer
Sie kleben ihre Hände auf Strassenkreuzungen oder an historischen Gemälden fest, durchstechen Autoreifen und versuchen, Teile der Energieinfrastruktur zu blockieren, mal im Hafen von Hamburg, mal auf einer Baustelle für ein geplantes Flüssiggas-Terminal. Angetrieben werden sie dabei auch von medial umschwärmten Leitfiguren wie Luisa Neubauer, die mal dazu aufrufen, «zu blockieren, was zerstört», und mal damit kokettieren, eine Pipeline in die Luft zu jagen. Nur im Spass, versteht sich.
Es wäre falsch, Menschen, die sich – zu Recht – für mehr Klimaschutz einsetzen, pauschal zu kriminalisieren. Es ist auch falsch, wie etwa die AfD, von «Klimaterroristen» zu sprechen; noch ist niemand in den Untergrund gegangen, und noch sind die Mittel des Protests fast ausnahmslos gewaltlos.
Aber es ist ebenso falsch, Menschen, die ein Kraftwerk blockieren und damit die Energieversorgung einer kriselnden Volkswirtschaft gefährden, als Aktivisten zu bezeichnen. Die Verniedlichung wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. «Sollen sie doch alle kalt duschen», spotteten die Blockierer von Jänschwalde nach ihrer Aktion auf Twitter. Wie lustig. Im Winter, bei Minusgraden, würden Stromausfälle schnell lebensbedrohlich werden.
Wer Straftaten begeht, um politische Ziele zu erreichen, ist ein Extremist. So muss man ihn oder sie nennen. Ob der grüne Minister Habeck, der in Deutschland für die Energiesicherheit hauptverantwortlich ist und nach eigenem Bekunden um jede Kilowattstunde kämpft, beim nächsten Angriff auf ein Kraftwerk oder eine Pipeline die richtigen Worte findet?

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