Maulkorb für Monarchiekritiker?
Staatstrauer um Queen entfacht in Grossbritannien Debatte um Meinungsäusserungsfreiheit (NZZ)
(Parallelen zu Deutschland)
Der Tod der Queen hat in Grossbritannien
grosse Betroffenheit ausgelöst, die britischen Medien berichten
ausgiebig darüber. Gegen Monarchiekritiker ging die Polizei in den
letzten Tagen derweil mit erstaunlicher Härte vor.
Niklaus Nuspliger, London
15.09.2022
Die Monarchie steht in Grossbritannien auf sicherem Fundament. In
Umfragen spricht sich bloss etwa ein Viertel der Bevölkerung für ein
gewähltes Staatsoberhaupt aus. Auch der Wechsel auf dem Thron vermag
daran wenig zu ändern: Charles III. hat in seinen ersten Auftritten als
König den richtigen Ton getroffen und stösst auf Wohlwollen, was sich in
den ersten Umfragen seit dem Ableben der Queen zeigt: Im Mai hatten in
einer Befragung des Instituts Yougov bloss 32 Prozent der Briten die
Erwartung geäussert, dass Charles ein guter König werde. Nun ist dieser Wert auf 63 Prozent emporgeschnellt. Hartes Vorgehen der Polizei
Umso erstaunlicher wirkt die Härte, mit der die Staatsgewalt in den letzten Tagen gegen die vereinzelten republikanischen Demonstranten vorgegangen ist.
So verhaftete die schottische Polizei am Sonntag eine junge Frau vor
der St.-Giles-Kathedrale, die auf einem Plakat den Imperialismus
geisselte und die Abschaffung der Monarchie forderte. Das gleiche
Schicksal ereilte einen Demonstranten, der die feierliche Prozession mit
dem Sarg der Queen mit Zwischenrufen störte – und der den wegen der
Sexaffäre rund um den pädophilen Financier Jeffrey Epstein in Verruf
geratenen Prinzen Andrew als «kranken alten Mann» betitelte.
Ähnliche
Vorfälle ereigneten sich in England: Vor dem Buckingham-Palast drohte
die Polizei einem Anwalt mit der Verhaftung für den Fall, dass er auf
ein weisses Blatt Papier die Worte «nicht mein König» schreiben sollte.
Und bei einer lokalen Proklamation von König Charles III. wurde ein
Demonstrant in Polizeigewahrsam genommen für den provokativen
Zwischenruf: «Wer hat ihn gewählt?»
Vergleich mit Cancel-CultureDie Vorfälle haben im Land eine Debatte um die Meinungsäusserungsfreiheit ausgelöst. Die Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy kritisierte,
Bürger würden verhaftet, weil sie ihre Opposition gegen vererbbare und
nicht gewählte Macht äusserten. «Wenn dies in Russland geschähe, würde
unsere Regierung das auf der Weltbühne kritisieren.»
Brendan O’Neil, der Chefkommentator des libertären Online-Magazins «Spiked», verglich die Unterdrückung republikanischer Proteste mit der linken Cancel-Culture:
Zwar seien der Ort und der Zeitpunkt angesichts der Trauer um die Queen
völlig pietätlos, doch müsse man in einer Demokratie beleidigende
Stellungnahmen ertragen. Auch der ehemalige Tory-Minister David Davis,
ein überzeugter Monarchist, erklärte, solange von Demonstranten keine
Gewalt ausgehe, sei ein liberaler Ansatz angebracht.
BBC in heikler Lage
Weniger
Meinungsvielfalt als üblich ist derzeit auch in den britischen Medien
sichtbar. Alle Zeitungen und TV-Stationen setzen seit dem Ableben der
Queen auf Sondersendungen und -beilagen, Hommagen, Rückblenden und
Interviews mit trauernden Bürgern. Die für ihre Rücksichtslosigkeit
bekannte Presse berichtet andächtig über die letzte Reise der Queen im
Sarg und wohlwollend über die ersten Amtshandlungen von König Charles
III. Die Erfolge der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren
oder die gigantische Staatsintervention der neuen Premierministerin
Truss in den Energiemarkt verkommen zu Randnotizen.
In
einer besonders heiklen Lage befindet sich die BBC. Der
öffentlichrechtliche Sender ist zwar weltweit für unabhängigen
Qualitätsjournalismus bekannt, spielt aber im Vereinigten Königreich
auch eine staatstragende Rolle und steht der Monarchie nahe. Laut
Insidern herrschte in den Chefetagen der BBC seit Jahren grosse Angst,
dass der Sender die Berichterstattung zum Tod der Queen vermasseln
könnte – zumal die konservative Regierung erwägt, dem Sender den öffentlichen Geldhahn zuzudrehen. Fast die Hälfte kämpfte mit Tränen
2002
hatte sich eine Welle der Empörung über die BBC ergossen, als ein
Moderator den Tod der Mutter der Queen mit burgunderroter statt
schwarzer Krawatte verkündet hatte. Diesmal trug der Fernsehsprecher
eine schwarze Krawatte. Insgesamt erhielt der patriotische Ton der BBC
Applaus vom konservativen Boulevardblatt «Daily Mail», das die «einfache, aber magistrale» Berichterstattung lobte. Der Tod der Queen hat enorme Betroffenheit ausgelöst. Ausserhalb des
Zentrums von London geht das Alltagsleben aber vielerorts normal weiter.
Nicht alle Briten nehmen an den Zeremonien teil, welche die mediale
Berichterstattung dominieren, oder stehen stundenlang Schlange, um der
verstorbenen Monarchin die letzte Ehre zu erweisen. Laut einer Umfrage
haben 44 Prozent der Briten nach dem Tod der Queen geweint oder mit den
Tränen gekämpft. 52 Prozent fanden die Absage von Sport- und
Kulturveranstaltungen angebracht. Und eine überwältigende Mehrheit von
86 Prozent ist glücklich darüber, dass sie am Tag der Beerdigung der
Queen am Montag einen zusätzlichen Feiertag erhalten.
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