27 September 2022

Wer ist Giorgia Meloni, die künftige Regierungschefin Italiens? (NZZ)

Wer ist Giorgia Meloni, die künftige Regierungschefin Italiens?
Im Ausland kennen die 45-Jährige nur wenige, doch die schrille Rechtspolitikerin aus dem Römer Arbeiterviertel Garbatella mischt schon seit Jahrzehnten in der italienischen Politik mit.

Andrea Spalinger

Noch vor wenigen Jahren hätte niemand geglaubt, dass ausgerechnet Giorgia Meloni als erste Frau in den Palazzo Chigi, den Regierungspalast im Herzen von Rom, einziehen könnte. Ihre Fratelli d’Italia kamen bei nationalen Wahlen jeweils auf ein paar wenige Prozentpunkte, und wegen ihrer faschistischen Wurzeln schien die Politikerin mit der ungeschliffenen Römer Schnauze nicht akzeptabel für das wichtigste politische Amt im Land.

Das Mädchen aus Garbatella

Möglich geworden ist ihr Sieg, weil sich seit den letzten Wahlen alle anderen Parteien mit dem Regieren versucht und keine besonders gute Figur dabei gemacht haben. Es war auch etwas Glück dabei. Hätte der Lega-Chef Matteo Salvini seine Popularität nicht so arrogant verspielt, stünde nun wohl er an der Spitze des siegreichen rechten Lagers. Meloni hat aber auch härter als alle anderen gearbeitet, um dahin zu kommen.

Erst in der Schule, die sie als gehänseltes, übergewichtiges Mädchen mit Bestnoten abschloss. Dann im ruppigen, männerdominierten Umfeld postfaschistischer Jugendorganisationen und Parteien.

Giorgia Meloni wird 1977 in einem wohlhabenden Viertel im Norden von Rom geboren und lernt schon als Kind, dass einem im Leben nichts geschenkt wird. Der Vater kommt aus gutbürgerlichem Haus und arbeitet als Steuerberater. Als sie und ihre ältere Schwester Arianna noch ganz klein sind, verlässt er die Familie jedoch, um die Welt zu umsegeln und sich dann auf den Kanaren niederzulassen.

Für die Mutter bedeutet die Trennung einen schmerzlichen sozialen Abstieg. Vom grosszügigen Einfamilienhaus im Norden muss sie in eine kleine Wohnung im Arbeiterviertel Garbatella im Süden der Hauptstadt ziehen, wo auch ihre Eltern leben. Sie arbeitet, die Mädchen verbringen viel Zeit bei den Grosseltern. Als Politikerin wird Meloni später ihre Herkunft aus Garbatella bei jeder Gelegenheit herausstreichen, um klarzumachen, dass sie eine aus dem Volk ist.
Ein abwesender Vater und großer Ehrgeiz

Der Vater zeigt für die beiden Töchter sein Leben lang wenig Interesse. Man kann sich gut vorstellen, dass sich die Jüngere aus Protest gegen ihn, der kommunistisch wählte, dem rechten Spektrum zugewandt hat. Die Abwesenheit des Vaters scheint ihr Leben aber auch sonst geprägt zu haben. In ihrer 2021 erschienenen Autobiografie «Io sono Giorgia» schreibt Meloni selbst, der konstante Drang, etwas zu erreichen und akzeptiert zu werden, vor allem auch in sehr maskulinem Umfeld, sei wahrscheinlich eine Folge der fehlenden Zuwendung ihres Vaters.

Als 15-Jährige schliesst sie sich der Jugendbewegung des Movimento Sociale Italiano an, einer 1946 von ehemaligen Exponenten des faschistischen Regimes gegründeten Partei, die 1995 in der Alleanza Nationale (AN) aufging. In dieser Bewegung am äussersten rechten Rand findet sie eine neue Familie, sie gehört wieder irgendwo dazu.

Anstatt wie andere Teenager das Leben zu geniessen, nimmt Meloni an Demonstrationen teil und debattiert mit rechten Kameraden. Sie arbeitet als Babysitterin, in Bars und als Garderobenfrau. Später dann auch als Journalistin für das Sprachrohr der Postfaschisten, die Zeitung «Secolo d’Italia».

Als Jüngste ins Parlament und ins Kabinett

2004 wird Meloni Präsidentin des Jugendflügels der AN. Sie ist die erste Frau an der Spitze einer Nachwuchsorganisation der extremen Rechten. Zwei Jahre später wird sie mithilfe ihres Mentors, des AN-Chefs Gianfranco Fini, ins Abgeordnetenhaus gewählt. Mit 29 Jahren ist sie die Jüngste in der Kammer und wird sogar deren Vizepräsidentin. Als Silvio Berlusconi 2008 zum vierten Mal Ministerpräsident wird, übernimmt Meloni als jüngste Ministerin in der Geschichte der Republik das Dossier Jugend. Sie arbeitet verbissen und wird auch von linken Kollegen geschätzt.

Bis 1994 wurden die Erben des Faschismus von allen anderen Parteien als Paria behandelt. Berlusconi bricht dieses Tabu, indem er sie in sein rechtes Bündnis einbezieht und damit salonfähig macht. Die Faschismus-Debatte spaltet Italiens Politik danach jahrzehntelang.

Meloni, die den faschistischen Diktator Mussolini als 19-Jährige als «den grössten Politiker der letzten fünfzig Jahre» bezeichnet hatte, gibt sich als junge Ministerin geschichtskritischer und präsentiert sich als Vertreterin einer modernen rechten Kraft, welche die in der Verfassung garantierten Rechte und Werte hochhält.

2009 löst sich die AN auf und wird Teil von Berlusconis Popolo della Libertà. Der egomanische Patriarch lässt jungen Kräften jedoch wenig Platz. 2012 verlässt Meloni mit anderen Unzufriedenen die Partei, gründet die Fratelli d’Italia und kehrt damit zur postfaschistischen Tradition zurück. Ihre «Brüder» übernehmen das alte Parteisymbol, eine Flamme in den Farben der italienischen Trikolore, die das ewige Feuer auf dem Grab von Mussolini symbolisiert.
Partner zu beruhigen, hat sich Meloni jüngst sichtlich bemüht, diese Vergangenheit abzuschütteln. Für ihre Partei gehöre der Faschismus der Geschichte an, erklärte sie unter anderem auch in einem an das ausländische Publikum gerichteten Video. Die symbolträchtige Flamme schmückt aber weiterhin ihr Parteilogo, und viele ihrer Mitstreiter stehen bis heute dem rechtsextremen Milieu nahe.

Der engste Kreis um Meloni ist seit den militanten Zeiten in Rom der gleiche geblieben. Zu ihm gehört Francesco Lollobrigida, der Fraktionsvorsitzende der Fratelli in der Kammer und Ehemann von Melonis Schwester. Als Regierungsmitglied der Region Latium hat er unter anderem ein Mausoleum für Rodolfo Graziani errichten lassen, den faschistischen General, dessen Name für die schweren Kriegsverbrechen des Mussolini-Regimes in Äthiopien steht. Treue Gefährten trugen bisher zu Melonis Stärke bei, könnten künftig aber zu einer Achillesferse werden.

Von ihren Macho-Partnern unterschätzt

Bei den Wahlen 2013 kommt Melonis neue Partei auf knapp 2 Prozent. 2018 spielen die Fratelli mit etwas über 4 Prozent noch immer eine marginale Rolle. Ihre Koalitionspartner, Berlusconis Forza Italia und Salvinis Lega, dominieren das rechte Lager und nehmen die Juniorpartnerin wenig ernst.

2016 kandidiert die schwangere Meloni für das Bürgermeisteramt in Rom. Im Wahlkampf muss sie sich viele frauenfeindliche Sprüche anhören. In ihrer Heimatstadt ist die vorlaute Rechtsaussen-Politikerin damals schon sehr viel populärer als auf nationaler Ebene. Ihre 20 Prozent reichen zwar nicht für den Sieg, Meloni ist nun aber keine politische Randerscheinung mehr.

Noch im gleichen Jahr kommt ihre Tochter Ginevra zur Welt. Meloni erklärt in Interviews, das heiss ersehnte Kind habe alles verändert. Politisch ist sie so aktiv wie eh und je. Sie bringt Ginevra nun aber in ihren Rede auffallend häufig ins Spiel, etwa wenn es um Schulpolitik oder um Covid-Impfungen für Kinder geht, denen sie kritisch gegenübersteht.

Gott, Vaterland und Familie

Die 45-Jährige ist nicht verheiratet. Sie scheint mit ihrem Mailänder Lebenspartner Andrea Giambruno – einem Nachrichtenmoderator aus Berlusconis Mediaset-Imperium – eine emanzipierte Beziehung zu leben. Was so gar nicht zu ihrem verbissenen Kampf für erzkonservative Lebensformen und christliche Werte passen will.

Neben Gott und Vaterland steht in Melonis Rhetorik die traditionelle Familie an oberster Stelle, sie spricht von der «natürlichen» Familie und hetzt vor einschlägigem Publikum gegen die «Gay-Lobby» und gegen die «kriminellen» Migranten. Es mag erstaunen, dass ausgerechnet sie, die als Scheidungskind alles andere als eine einfache Kindheit hatte, so verbissen für traditionelle Familienstrukturen kämpft.

Eine Mehrheit der Italienerinnen und Italiener teilt laut Umfragen Melonis konservative Wertvorstellungen in Bezug auf Abtreibungen oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht. Dass sie am Sonntag mit Abstand die meisten Stimmen erhalten hat, dürfte vor allem damit zu erklären sein, dass sie als unverbrauchte Kraft wahrgenommen wird, obwohl sie seit dreißig Jahren politisch aktiv ist. Ihr Sieg scheint aber auch mit der Faszination einer Frau zu tun zu haben, die sich im machistischen italienischen Politzirkus aus eigener Kraft hochgearbeitet hat.

In einem Interview mit dem «Corriere della Sera» sagte Meloni, sie habe immer das Gefühl, nicht zu genügen. Als ob es nie reichen würde, was sie tue. Sie wolle es immer besser machen – und besser und besser. Vielleicht sei das aber auch ihr Glück und werde ihr dabei helfen, mit den Füssen auf dem Boden zu bleiben.

Tatsächlich dürfte Meloni wohl nicht wie viele ihrer männlichen Vorgänger an Selbstüberschätzung scheitern. Ihr grösstes Problem ist, dass sie es nur nach ganz oben geschafft hat, indem sie ihre Vergangenheit schöngefärbt und ihre Rhetorik gedämpft hat. Was sich der harte Kern ihrer Anhänger am rechten Rand wünscht und was sie moderateren Italienern und europäischen Partnern versprochen hat, klafft weit auseinander. Doch zweideutige Positionen werden zum Problem, sobald man die Oppositionsbank verlässt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen