03 Oktober 2022

Deutschland steht vor einer neuen Migrations- und Flüchtlingskrise – und kaum einer will es wahrhaben (NZZ)

Deutschland steht vor einer neuen Migrations- und Flüchtlingskrise – und kaum einer will es wahrhaben (NZZ)
Seit Beginn des Jahres hat die Bundesrepublik bereits mehr Menschen aus anderen Ländern aufgenommen als im ganzen Jahr 2020 – die vielen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine und desertierende Russen nicht eingerechnet. Kommunalpolitiker schlagen Alarm.
Fatina Keilani, Berlin 28.09.2022
(Dazu:
Polizeigewerkschaft schlägt Alarm - „Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise“)
Deutschland steuert auf eine neue Migrations- und Flüchtlingskrise zu, nur vollzieht sich dies bis anhin nahezu lautlos. In der öffentlichen Diskussion dominieren die anderen, miteinander verknüpften Krisen: Inflation, Energieversorgung, Ukraine-Krieg. Dass die Kommunen des Landes wegen der immer weiter steigenden Zahl der Zuwanderer Alarm schlagen, geht fast unter. Dabei meldet ein Landkreis nach dem anderen, keine Kapazitäten mehr zu haben. Zwölf von sechzehn Bundesländern nehmen schon seit Wochen niemanden mehr auf.
Die beiden Spitzenverbände Deutscher Städtetag und Deutscher Städte- und Gemeindebund schrieben deshalb einen gemeinsamen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz. Darin fordern sie einen «Flüchtlingsgipfel» und vergleichen die gegenwärtige Lage mit jener des Krisenjahrs 2015. Passiert ist bis jetzt nichts.
Das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (Bamf) meldete auf Nachfrage der NZZ folgende Zahlen: Bis Ende August dieses Jahres wurden bundesweit 115.402 Asyl-Erstanträge gestellt, im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 85.230. Das bedeutet eine Zunahme der Antragszahlen um 35 Prozent. Es wurden schon jetzt mehr Menschen aufgenommen als im gesamten Vorjahr.
Dies alles geschieht in einem sich verschärfenden gesellschaftlichen Klima. Zeitungsberichte über Asylbewerber, die bei voll aufgedrehter Heizung die Fenster offen lassen und deren Heizkosten der Staat trägt, stehen neben Schilderungen armer Rentner, die bis vor kurzem gerade so über den Monat gekommen sind, nun aber ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können.
Selbst wenn manche Schilderung zugespitzt sein mag und Einzelfälle populistisch dramatisiert werden, um Sozialneid zu schüren, ist doch eine gesellschaftliche Spaltung die reale Gefahr dieser Entwicklung – eine Spaltung, die Russlands Machthaber Wladimir Putin nur recht sein kann. Auch der Rechtsruck in Europa, der sich jüngst bei der Wahl in Italien und zuvor in Schweden zeigte, könnte hier eine Ursache haben.
Innerhalb Europas ist es besonders attraktiv, nach Deutschland zu «flüchten», auch wenn man gar nicht asylberechtigt ist. Denn wer erst einmal im Verfahren ist, wird vom Staat voll alimentiert und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit selbst dann nicht ausgeschafft, wenn der Asylantrag abgelehnt ist. Andere europäische Länder sind weniger spendabel – und mitunter froh über die deutsche Willkommenskultur. So lassen etwa Griechenland und Italien Migranten grosszügig nach Deutschland weiterreisen, obwohl sie eigentlich zuständig wären.

Die Angst vor russischen Agenten

Flüchtlinge aus der Ukraine bekommen vom deutschen Staat Wohnung, Heizung, Kleidung, medizinische Versorgung und die volle Grundsicherung finanziert – ohne Überprüfung der Bedürftigkeit. Bei manchen dürfte die Motivation zum Arbeiten unter diesen Bedingungen erlahmen. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz kritisierte am Montag einen grassierenden «Sozialtourismus»; viele Ukrainer pendelten zwischen Deutschland und dem Heimatland. Tags drauf nahm er die Äusserung nach Kritik zurück und bat um Entschuldigung. Es handle sich um Einzelfälle. Im Netz löste das Hin und Her starke Reaktionen aus. Viele stimmten dem Begriff des «Sozialtourismus» zu und bedauerten Merz’ Rückzieher.

Als Nächstes muss mit einem Zustrom russischer Deserteure gerechnet werden, die sich der Mobilmachung für den Ukraine-Krieg entziehen wollen. In welchem Ausmass Deutschland auch diese Menschen aufnehmen wird, ist noch in der Diskussion. Laut dem Bundeskanzleramt will man einerseits helfen, andererseits aber sicherstellen, dass keine neuen russischen Agenten eingeschleust werden. Die deutsche Regierung hat erst im April Dutzende Mitglieder des diplomatischen Personals der russischen Botschaft wegen des Verdachts der nachrichtendienstlichen Tätigkeit ausgewiesen.

Neben diesen kriegsbedingten «neuen» Flüchtlingsströmen steigen auch die Zahlen der Migranten aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und Tunesien sowie aus afrikanischen Staaten in alarmierender Weise. Das zuständige Bundesamt registriert verstärkt Ankünfte über das Mittelmeer aus Tunesien und Libyen, aber auch aus der Türkei über die sogenannte Balkanroute nach Italien. Für die meisten Antragsteller, die vor allem vor der wirtschaftlichen Lage in ihren Heimatländern und nicht vor politischer Verfolgung flüchten, gibt es keine reguläre Möglichkeit der Zuwanderung nach Deutschland. Also versuchen sie es mit einem Asylantrag. Die Mehrheit wird abgelehnt – und bleibt trotzdem.

Aus den oppositionellen Unionsparteien kommt Kritik. «Das Abwarten der Bundesregierung in dieser Lage ist fahrlässig», sagt etwa die stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Andrea Lindholz. «Die Bundesregierung muss jetzt mit den Schengen-Partnern den Schutz der EU-Aussengrenzen stärken und illegale Schleusungen aus der Türkei unterbinden.»

Die Ampelregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, das deutsche Ausländerrecht grundlegend zu reformieren. Die reguläre Zuwanderung dringend benötigter Fachkräfte wird deutlich erleichtert. Theoretisch sollen im Gegenzug all jene Antragsteller effektiver ausgeschafft werden, für die es in Deutschland keine Perspektive gibt. De facto fällt dieser Teil der Reform aber aus. Es wird seit Jahren kaum jemand, der abgelehnt wurde, auch tatsächlich aus Deutschland ausgeschafft.

Länder wie etwa die Türkei handhaben das anders. Von dort wurden allein im laufenden Jahr rund 40 000 Afghanen in ihre Heimat zurückgeflogen. Nun fürchten auch die rund vier Millionen aufgenommenen Syrer die Ausschaffung und machen sich auf den Weg nach Europa. Die neue deutsche Flüchtlings- und Migrationskrise hat gerade erst angefangen.

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