Das Narrativ von der „gläsernen Decke“ - und was die Statistik verrät
Nun wäre es absurd, bei der Beschäftigung mit der Frage, ob es auch in Deutschland das vielbeschworene Patriarchat gibt, respektive wie mächtig es im Jahr 2022 noch ist, auf den Iran zu verweisen. Nach dem Motto: „Ihr deutschen Frauen, stellt euch nicht so an, denn schaut nur, wie es den Frauen im Iran ergeht!“ Und dennoch macht es zu Beginn dieses Beitrags Sinn, sich ein Land wie den Iran anzusehen, um einmal festzuzurren, worüber wir eigentlich sprechen, wenn auch hierzulande vom Patriarchat die Rede ist. Denn feststeht: In Deutschland haben Frauen die gleichen Rechte wie Männer.
Wenn in der Bundesrepublik vom Patriarchat gesprochen wird – und das kommt zuletzt wieder häufiger vor –, ist deshalb zuvorderst ein System sozialer Beziehungen gemeint, das von Männern geprägt und kontrolliert werde. Diese Seilschaften sollen, so der Vorwurf, eine gleichberechtigte Partizipation von Frauen insbesondere innerhalb des Politik- und Wirtschaftssystems verhindern. Exemplarisch sei an dieser Stelle aus einem Beitrag von Gleichstellung-im-Blick zitiert. Darin heißt es:
„Heute hat es den Anschein, viele Menschen lebten schon in einer „Postgender-Welt“, in der es keine strukturelle Diskriminierung von Frauen mehr gäbe. Das ist ein Irrglaube! Mag das Patriarchat in der heutigen Zeit auch nicht mehr so deutlich erkennbar sein, wie dies vielleicht noch vor 50 Jahren der Fall war, so reicht dennoch ein kurzer Blick in die Politik, in Unternehmensvorstände oder auf den Arbeitsmarkt, um zu erkennen, dass patriarchale Strukturen bis heute wirken.“
Dem folgend ist das Patriarchat, mit dem wir es in Deutschland zu tun haben, also ein institutionelles, keines per Gesetz. Um diese These zu untermauern, ist in der öffentlichen Debatte etwa von einer „gläsernen Decke“ die Rede, womit gemeint ist, dass Frauen nicht in Führungspositionen und in politischen Spitzenämter vordringen, weil ihnen vom Patriarchat der Weg versperrt werde.
Feststellen lässt sich mit Blick auf die Zahlen zunächst: Ja, Frauen sind in den Chefetagen des Landes und auch im Deutschen Bundestag deutlich unterrepräsentiert. Die Frage ist nur: Woran liegt das? Ist das Patriarchat schuld? Oder gibt es auch andere Gründe? Dafür lohnt ein Blick auf einige Statistiken.
Die gute Nachricht im Sinne des Feminismus zuerst: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Chefinnen im Land konstant gestiegen. Heute liegt der Anteil der Frauen in deutschen Führungsetagen bei rund 30 Prozent, so das Statistische Bundesamt. Nun ließe sich argumentieren, dass die Tendenz erfreulich ist, die Zahl trotzdem zu niedrig, schließlich machen Frauen die Hälfte der Bevölkerung aus. Gleichwohl zeigt diese Entwicklung immerhin, dass die „gläserne Decke“ sehr große Risse bekommen haben muss.
Sieht man sich überdies an, welche Branchen für die deutsche Wirtschaft und damit den Mittelstand mit seinen vielen kleinen wie großen Unternehmen im Land, entscheidend sind, stehen Maschinenbau, Autohandel und Bau auf den ersten drei Plätzen. Also Branchen, für die sich deutlich mehr Männer als Frauen interessieren. Im deutschen Handwerk etwa bewerben sich kaum Frauen. Gleiches gilt beispielsweise für die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), aus denen viele der Führungskräfte von morgen hervorgehen.
Trotz zahlreicher Initiativen, Frauen für diese Fächer zu gewinnen, liegt der Anteil der MINT-Studentinnen heute bei gerade einmal 30 Prozent, obwohl in Deutschland heute mehr Frauen als Männer studieren. Deutlich überrepräsentiert sind Frauen dagegen in Studienfächern wie Grundschul- und Primärstufenpädagogik, Innenarchitektur und Ernährungswissenschaft.
Will heißen: In absoluten Zahlen mögen Frauen in deutschen Führungspositionen unterrepräsentiert sein. Gleichzeitig rekrutieren sich Führungskräfte meist aus der eigenen Belegschaft. Sind dort Frauen in der Minderheit, ist es nur logisch, dass sie auch in den Führungsetagen in der Minderheit sind. Und je mehr Unternehmen es innerhalb von Branchen gibt, die für Frauen tendenziell uninteressanter sind, desto mehr beeinflusst das freilich den prozentualen Anteil an Chefinnen in der deutschen Wirtschaft insgesamt.
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Hinzu kommen mit Blick auf die Politik noch weitere Aspekte: Doppelspitzen aus Mann und Frau gibt es heute bei den Grünen, bei der SPD, bei den Linken und bei der AfD, während mittlerweile die CDU über die Einführung einer Frauenquote nachdenkt, wogegen sich – anders als das gängige Narrativ ums Patriarchat vermuten lassen würde – nicht nur Männer, sondern insbesondere auch Frauen stellen. Darunter Astrid Hamker, Präsidentin des Wirtschaftsrats der CDU, die in einem Cicero-Gastbeitrag schreibt: „Quoten sind ein linkes und unbürgerliches Konzept.“
Eine Mitgliedschaft ist derweil zwingend, um innerhalb einer Partei Karriere zu machen. Auch hier spricht die Statistik eine deutliche Sprache: In den deutschen Parteien sind viel mehr Männer engagiert als Frauen. Drei Viertel der CDU-Mitglieder sind Männer, bei der SPD sind es knapp 70 Prozent, bei der FDP nahezu 80 Prozent, ebenso rund 80 Prozent bei der AfD. Und selbst bei den Grünen und der Linken, die sich bekanntermaßen „feministische Partei“ nennen, sind deutlich mehr Männer als Frauen Mitglieder, jeweils um die 60 Prozent. Wenn also, sagen wir, der Anteil der Frauen im Deutschen Bundestag langfristig auf 50 Prozent erhöht werden soll, müssten sich im Sinne echter Gleichberechtigung auch mehr Frauen für eine Parteimitgliedschaft entscheiden.
Nun ein Blick auf den Arbeitsmarkt: In Deutschland gab es im Dezember 2021 rund 4,24 Millionen Frauen in geringfügiger Beschäftigung. Insbesondere in Paarhaushalten mit Kindern ist es häufiger so, dass der Mann Vollzeit, die Frau Teilzeit beschäftigt ist. Auch dieses Verhältnis wird gerne herangezogen, um zu begründen, dass patriarchale Strukturen bis heute wirken. Doch auch hier hinkt die Argumentation.
Die häufigsten Gründe, warum Frauen in Teilzeitbeschäftigung gehen, sind familiäre oder persönliche Verantwortungsbereiche sowie die Betreuung von Kindern oder erwerbsunfähigen Erwachsenen. Daraus zu schließen, Frauen würden vom Patriarchat gezwungen, sich entsprechend zu entscheiden, wertet einerseits das Muttersein gegenüber der beruflichen Karriere ab. Andererseits wird Frauen dadurch im Prinzip abgesprochen, fähig zu sein, selbst über den für sie passenden Lebensentwurf zu entscheiden.
Eine vom DELTA-Institut für Sozial- und Ökologieforschung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführte Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass sich erstens die allermeisten Frauen freiwillig für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden – und damit zweitens sehr zufrieden sind. Wie der Spiegel zuerst berichtete, fanden es 85 Prozent der Befragten „super“, in Teilzeit zu arbeiten, 75 Prozent ließen wissen, dass sie derzeit „auf keinen Fall“ Vollzeit arbeiten möchten, und 60 Prozent gaben an, diesen Zustand bis zur Rente beibehalten zu wollen. Unterdrückung sieht anders aus.
Abschließend noch zum sogenannten Gender Pay Gap, also zum viel diskutierten Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen. Je nach Datenlage verdienen Frauen in Deutschland zwischen 18 und 21 Prozent weniger als Männer. Was nach viel klingt, ist bei näherer Betrachtung aber ein unbereinigter Wert. Heißt: Diese Zahl bezieht sich auf einen Vergleich, der unabhängig von Bildungsstand, Karriereweg oder konkreter Tätigkeit gezogen wird – und berücksichtigt zum Beispiel nicht, dass Frauen sich häufiger bewusst für Teilzeit entscheiden und für Berufe, die schlechter bezahlt sind. Ob es fair ist, dass eine Sozialpädagogin viel weniger verdient als ein Ingenieur, wäre gesondert zu diskutieren, ist aber keine Mann-Frau-Diskussion, sondern eine über ökonomische Prioritätensetzung.
Ein aussagekräftiger Wert beim Gender Pay Gap entsteht daher erst, wenn dieser bereinigt wird, also ein Vergleich nur zwischen Männern und Frauen mit gleicher Qualifikation und gleicher Tätigkeit gezogen wird. Dieser bereinigte Wert liegt bei etwa sechs Prozent. Schauen wir uns das näher an anhand eines Rechenbeispiels.
Durchschnittlich verdient ein Vollzeitbeschäftigter in Deutschland 4100 Euro brutto im Monat. Legt man die bereinigten sechs Prozent diesem Wert zugrunde, würde das bedeuten: Während Männer bei gleicher Qualifikation und Position 4100 Euro brutto im Monat verdienen, wären es bei Frauen 3854 Euro brutto.
Zum Rechenbeispiel: Beide Arbeitnehmer sind 40 Jahre alt, leben in Bayern, fallen unter die Steuerklasse I, sind gesetzlich versichert und zahlen Kirchensteuer. Der Mann würde in dem Fall 2553,80 Euro netto verdienen, sagt der Gehaltsrechner. Die Frau insgesamt 2431,04 Euro netto. Am Ende hätte der männliche Kollege bei gleicher Tätigkeit und Qualifikation also durchschnittlich 120 Euro mehr auf dem Gehaltszettel stehen. Das ließe sich im Sinne echter Gleichberechtigung beklagen, allerdings ist das Gefälle eben nicht exorbitant hoch und die Auswirkungen auf den konkreten Einzelfall wohl eher überschaubar.
Außerdem führen gleiche Qualifikation und gleicher Job nicht zwangsläufig dazu, dass die Arbeitsergebnisse auch die gleiche Qualität haben beziehungsweise gleich entlohnt werden müssen. Die bereinigten sechs Prozent sind weiter auch nur ein Durchschnittswert, inklusive Ausreißer nach oben und nach unten. Der Umstand, dass Frauen durchschnittlich sechs Prozent weniger verdienen, heißt zudem nicht, dass dies grundsätzlich der Fall ist. Gehalt ist häufig eben auch Verhandlungssache, während in Tarifvereinbarungen ohnehin nicht unterschieden wird zwischen Mann und Frau.
Und noch ein entscheidender Aspekt: Beim sogenannten Gender Pay Gap handelt es sich zuvorderst um ein Motherhood Pay Gap, wenn man dies so bezeichnen will, der nicht in erster Linie zwischen Männern und Frauen verläuft, sondern zwischen Männern und Frauen ohne Kinder auf der einen und Frauen mit Kindern auf der anderen Seite. Warum das so ist, lässt sich unter anderem in der New York Times nachlesen.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich gibt es auch in der Bundesrepublik Bereiche, in denen es Frauen schwerer haben als Männer. Und das liegt dann zumeist sehr wohl an Männern, etwa weil Führungsetagen geistig in den 50er-Jahren steckengeblieben sind oder die Familie auch im Jahr 2022 noch traditionelle Rollenmuster vorlebt. An dieser Stelle sei dieser Beitrag über muslimische Mädchen, die sich mit Hilfe von Bildung aus ihren patriarchalen Familienstrukturen lösen, empfohlen.
Genauso gibt es allerdings auch Bereiche, in denen Frauen heute im Vorteil sind. Dem Autor dieser Zeilen ist beispielsweise kein männlicher Diversity-Beauftragter bekannt. Viele Jobausschreibungen sind heute zudem mit der Anmerkung versehen, dass Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt behandelt werden, was de facto eine Benachteiligung der männlichen Konkurrenz bedeutet. Eine „gläserne Decke“ wäre dann folgerichtig eine, an die bisweilen auch Männer stoßen, nicht nur Frauen. Hier tut sich denn auch die nächste Diskussion auf: Kann Gleichberechtigung gelingen, wenn man dafür auf Ungleichbehandlung setzt? Das aber ist ein anderes Thema.
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