05 September 2022

Business Class Edition: Das Entlastungspaket: Der große Schmu

Business Class Edition: 

Das Entlastungspaket: Der große Schmu
Gabor Steingart, Montag, 05.09.2022
Guten Morgen,
wer die unterschiedliche Aufgabenverteilung zwischen Politiker und Journalist verstehen will, der muss sich im Grunde nur zwei Worte merken: Wahrheit und Wirkung.
Der gute Journalist sucht nach der Wahrheit, auch der dahinter. Er benutzt dabei nicht, um ein böses Wort des NDR-Redaktionsausschusses aufzugreifen, den „politischen Filter.”

Der Politiker hingegen zielt immer zuerst auf Wirkung. Wenn die Wahrheit ihm dabei behilflich ist, umso besser. Aber sie ist keine notwendige Bedingung für sein Fortkommen. In der Regel legt er einen parteipolitischen Filter über die Wahrheit – bis diese rot, grün oder gelb zu leuchten beginnt.

Womit wir beim Wort Entlastungspaket wären. Sprachlich wird seit Wochen eine Orgie der Entlastungen gefeiert. Nach den Entlastungspaketen I und II – zusammen 30 Milliarden Euro – folgte gestern das Entlastungspaket III (65 Milliarden Euro). „Wuchtig“ nannte es der Finanzminister, „präzise und maßgeschneidert“ der Kanzler.

Und in der Tat: In der Relativwelt der Politik ist das eine relativ hohe Summe. Damit lässt sich zumindest eine mediale Wirkung erzielen.

In der realen Welt allerdings, also in der Welt der Autofahrer, der Aktionäre, der Sparer, der Besitzer einer Lebensversicherungspolice, der Arbeiter und Angestellten, der Hausmänner und Hausfrauen, der Gas-, Strom und Ölkunden ist das eine relativ kleine Summe, die schneller im Portemonnaie verdunstet als ein Sommerregen in Zeiten der Dürre.

Innerhalb der nächsten zwölf Monate – diese Behauptung sei hier gewagt – wird netto kein einziger Bundesbürger entlastet, es sei denn, er stellt das Heizen, das Tanken, das Einkaufen, das Arbeiten und am besten auch das Atmen ein.

Die unbequeme Wahrheit ist diese: Die Wucht der ökonomischen Verwerfungen ist heftiger als die Möglichkeiten des Staates. Die Regierung, die hier in Retterpose ihren großen Auftritt sucht, kann angesichts der ökonomischen Urgewalt von Inflation, Börsencrash, Energieknappheit und den Folgen einer hartnäckigen Pandemie keinen nachhaltigen Effekt im Alltag der Menschen erzielen.

1. Die Reallöhne und damit auch die Kaufkraft der Renten sinken mit hoher Fallgeschwindigkeit. Im zweiten Quartal des Jahres berechnete das Statistische Bundesamt angesichts der hohen Inflation einen preisbereinigten Lohnrückgang von 4,4 Prozent. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche In
stitut geht für das laufende Jahr von einem Reallohnverlust in Höhe von 3,6 Prozent aus.

Das bedeutet: Die Kaufkraft aller Arbeiter und Angestellten wird – nimmt man als Grundlage die Summe aller Bruttolöhne 2021 – um 56,2 Milliarden Euro abnehmen. Der Durchschnittsverdiener (49.200 Euro in 2021) verliert rund 1.800 Euro.

Für Abhilfe können hier nur Lohnerhöhungen sorgen, die zumindest den Kaufkraftausgleich schaffen. Einmalzahlungen in der Größenordnung von 200 oder 300 Euro – wie jetzt verkündet – werden hier keinen Wirkungstreffer erzielen.

2. Der Staat selbst – der vorgibt, seine Bürger zu entlasten – treibt deren Belastungen in immer neue Höhen. Sonntags wird entlastet und werktags kassiert. Allein mit der Gasumlage, die 34 Milliarden Euro bringen soll, halbiert sich die Wirkung des gestrigen Entlastungspakets.

3. Auch ohne die Gasumlage ist mit einer spürbaren Verteuerung aller Energiearten zu rechnen. Viele Gasversorger haben die Preise schon angehoben. Laut Check24 ist der durchschnittliche Gaspreis für Neukunden um 185 Prozent höher als im Vorjahr. Stromkosten haben sich immerhin um 31 Prozent erhöht. An den Tankstellen traut man seinen Augen kaum. Und: Die große Überwälzung der globalen Energiepreisexplosion auf den Endverbraucher steht erst noch bevor.

Wir lernen: Was ein aus den Fugen geratener Energiemarkt seinen Kunden abverlangt, kann ihm kein Staat der Welt erstatten.

4. Hinzu kommt die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf alle inflationierten Waren. Auch sie wirkt wohlstandsmindernd. 19 Prozent von 100.000 Euro sind 19.000 Euro. Doch 19 Prozent von 120.000 Euro sind rund 23.000 Euro. So verdient der Staat mit. Er entlastet sich, aber nicht uns. Im ersten Halbjahr 2022 hat der Staat 17,6 Prozent mehr Steuern eingenommen als im Vorjahreszeitraum.

5. Unter dem Druck der Ereignisse knickt die Börse weg. Allein 2022 hatten Anleger am Dax, darunter viele normale Bürger und deren Versicherungsunternehmen, bisher einen Wertverlust von rund 270 Milliarden Euro zu verkraften. Dieses Geld ist nicht statistisch, sondern ganz real weg. Es mindert die Kapitaleinkommen und damit den Wohlstand der Deutschen.

6. Ausnahmslos alle von Politikern designten Altersvorsorgeprodukte können in der momentanen Situation nicht überzeugen. Die vom Gesetzgeber abgegebene Garantie einer Rückzahlung der geleisteten Beiträge – beispielsweise bei der Riester-Rente – führt zur Verpflichtung der Fondsmanager, in konservative Finanzanlagen zu investieren. Doch mit konservativen Anlagen ist eine progressive Inflation per definitionem nicht zu schlagen. Das bedeutet: Die Riester-Rente dient in der jetzigen Situation der vorsätzlichen Verarmung, nicht der Kapitalbildung.

7. Auch Lebensversicherungen tragen in dieser Situation keine Frucht. Sie sind ebenfalls per Gesetz zum Kauf von Staatsanleihen verpflichtet und die Staatsanleihen seriöser Staaten können die hohen Inflationsraten nicht ausgleichen. Die Wertentwicklung der Allianz SE spiegelt die momentane Unattraktivität der Produkte und die Erwartung des Marktes wider, dass viele Menschen ihre Lebensversicherungspolicen stornieren oder ruhen lassen werden. Europas größte Versicherung hat deshalb allein in 2022 rund 18 Prozent ihres Wertes oder gut 12,6 Milliarden Euro verloren.

8. Am Ende der Nahrungskette lebt der deutsche Sparer, der erst mit Negativzinsen und nun mit Minizinsen für seine Spartätigkeit bestraft wird. Solange die Zinsen unterhalb der Inflationsrate liegen, kommt es bei ihm zum Wertverlust. Die Experten des Fachportals Tagesgeldvergleich.net haben berechnet, dass von Januar bis Juni 2022 die deutschen Sparer aufgrund steigender Inflation und niedriger Zinsen einen Kaufkraftverlust von 93,3 Milliarden Euro verkraften mussten. Bis Jahresende werden sie insgesamt 186,6 Milliarden Euro Verlust erleiden, was einen Kaufkraftverlust pro Kopf von 2.140 Euro bedeutet.

9. Der Immobilienmarkt kann sich – auch wenn viele anderes gehofft hatten – nicht auf Dauer von dieser Entwicklung entkoppeln. Ihm geht die zahlungskräftige Kundschaft aus, weshalb nahezu alle Experten davon ausgehen, dass europaweit bald schon die Kaufpreise sinken und damit auch die Werthaltigkeit der Bestandsimmobilien abnimmt.

Fazit: Das 65-Milliarden-Paket wird im besten Falle die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändern, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Das ernsthafte Gespräch der Regierung mit ihren Bürgern über die Tiefe und Dauer dieser ökonomischen und sozialen Zeitenwende steht noch aus. Für diesen Dialog braucht die Regierung kein Geld, sondern Mut. Oder wie der große britische Erzähler William Somerset Maugham zu sagen pflegte:

"Aufrichtigkeit ist die verwegenste Form der Tapferkeit"

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