02 September 2022

«Egal, was meine deutschen Wähler denken»: Aussenministerin Baerbock sorgt mit Aussagen zur Ukraine-Politik für Aufregung (NZZ)

«Egal, was meine deutschen Wähler denken»: Aussenministerin Baerbock sorgt mit Aussagen zur Ukraine-Politik für Aufregung (NZZ)
Kritiker werfen der Grünen Missachtung des Wählerwillens vor. Ihre Verteidiger sagen, die Aussagen der Ministerin würden verkürzt wiedergegeben. Noch ist eine Mehrheit der Deutschen für Sanktionen gegen Russland trotz steigenden Lebenshaltungskosten. Doch die Zustimmung bröckelt.
Oliver Maksan, Berlin
Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock steht in der Kritik. Ist der Grünen der Wählerwille egal? Stellt sie die Interessen der Ukraine vor jene Deutschlands – koste es, was es wolle? In der Antwort darauf sind sich die parlamentarischen Ränder in Deutschland derzeit einig. So meinte die AfD-Chefin Alice Weidel am Donnerstag auf Twitter: «Wer ausdrücklich auf die Interessen der Wähler in Deutschland pfeift, hat in einem Ministeramt nichts mehr verloren.»

Vertreter der Linkspartei klangen ähnlich. Die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht schrieb, eine Aussenministerin, die erklärtermassen nicht die Interessen der deutschen Wähler, sondern jene der Ukraine vertrete, sei eine Fehlbesetzung und eine Gefahr für das Land. Der frühere «Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt twitterte in Grossbuchstaben: «Egal, was die deutschen Wähler denken! Das Wesen der Grünen in einem Satz.» Das sahen offenbar auch viele weniger prominente Twitter-Nutzer so. Der Hashtag «BaerbockRuecktritt» jedenfalls trendete an diesem Donnerstag.

Das Ministerium stellt sich vor Baerbock

Anlass der Aufregung waren Äusserungen der deutschen Chefdiplomatin bei einer Aussenministertagung in Prag am Mittwoch. «Ich gebe den Menschen der Ukraine das Versprechen, wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht – egal, was meine deutschen Wähler denken», sagte Baerbock in freier Rede in Anwesenheit ihres ukrainischen Kollegen Dmitro Kuleba während einer Podiumsdiskussion.

Schnell verbreiteten sich kurze Videoausschnitte von Baerbocks langer, auf Englisch gegebener Antwort in den sozialen Netzwerken. In einer Telegram-Gruppe war ein Clip mit der Bemerkung versehen: «Die deutsche Aussenministerin verspricht, dass die Ukraine an erster Stelle komme, ‹egal, was deutsche Wähler denken› oder wie hart ihr Leben wird.» Auf Twitter wurde ein entsprechendes Video 1,7 Millionen Mal aufgerufen. Ein User versah es mit der Einleitung, dass in der Demokratie das Volk die Staatsgewalt ausübe, und stellte dem Baerbocks Äusserungen zugespitzt gegenüber: «Für mich kommt die Ukraine zuerst, ‹egal, was meine deutschen Wähler denken›.»

In einem ungewöhnlichen Schritt sah sich der erst seit einigen Wochen amtierende Leiter der Strategischen Kommunikation des Auswärtigen Amtes genötigt, darauf zu reagieren. Auf Twitter – der offizielle Account des Aussenamtes verbreitete den Post später – stellte sich Peter Ptassek vor seine Chefin. «Der Klassiker: Sinnentstellend zusammengeschnittenes Video, geboostert von prorussischen Accounts und schon ist das Cyber-Instant-Gericht fertig, Desinformation von der Stange. Ob wir uns so billig spalten lassen? Glaube ich nicht», schrieb er am Donnerstag.

Der kritisierte Account reagierte schnell. «Ich betreibe keinen prorussischen Account», liess der User den «sehr geehrten Herren Ptassek» wissen, «ich teile Nachrichten, die in unserer deutschsprachigen Presse fehlen, respektive ergänze diese mit meiner Meinung.» Baerbocks Sätze stünden für sich allein und brauchten keinen Zusammenhang.

Fakt ist, dass das verbreitete Video erkennbar geschnitten ist. Andere Accounts etwa auf Telegram erweckten zudem den Eindruck, Baerbock seien die Folgen der Sanktionspolitik für die deutsche Bevölkerung egal. Tatsächlich versprach sie aber sowohl den Deutschen als auch den Ukrainern die Solidarität des deutschen Staates. So sagte sie später in ihrer längeren Antwort: «Wir bleiben solidarisch mit den Menschen in unserem Land, genau wie wir an der Seite eines jeden in der Ukraine stehen.»

Lapsus der Ministerin

Während es also richtig ist, dass prorussische Kanäle Baerbocks Aussagen verkürzt wiedergegeben haben, bleibt doch ihre Aussage bestehen, die Ukraine unabhängig von der Zustimmung ihrer deutschen Wähler unterstützen zu wollen. Zwar könnte die Ministerin zur Verteidigung darauf hinweisen, dass es in der repräsentativen Demokratie eben keine imperativen Mandate gebe. Staatspolitische Verantwortung drückt sich zudem mitunter auch darin aus, als richtig Erkanntes trotz mangelnder demoskopischer Unterstützung durchzusetzen. Dennoch ist der Ministerin hier wohl ein kommunikativer Lapsus unterlaufen. Das sehen selbst manche ihrer Verteidiger wie der Blog volksverpetzer.de so.

Der Sache nach sind Baerbocks Zusagen an die Ukraine dabei derzeit durchaus mehrheitsfähig. So befürworten nach einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage 53 Prozent der Deutschen die Sanktionen gegen Russland, auch wenn dadurch die Energiepreise und die Lebenshaltungskosten stiegen. Anhänger der Grünen sind sogar zu 90 Prozent dafür, während es bei Anhängern der Linken nur noch 43, bei denen der AfD sogar nur 9 Prozent sind. Doch die Unterstützung für diese Haltung nimmt laut der ARD ab: Im März 2022 hatten sich noch 66 Prozent so positioniert – heute sind es 13 Prozentpunkte weniger.
Siehe auch:
Kritik an der Bundesaußenministerin wegen Auftritt in Prag - Warum Baerbock Respekt verdient (Cicero+)

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