01 September 2022

Der Lohn des Jammerns: Wer sich im Wohlfahrtsstaat nicht beklagt, hat schon verloren (NZZ)

Der Lohn des Jammerns: Wer sich im Wohlfahrtsstaat nicht beklagt, hat schon verloren
(NZZ)
Im Wohlfahrtsstaat werden Leistung und Einkommen zunehmend voneinander abgekoppelt. Das nennt man Sozialpolitik oder soziale Gerechtigkeit. Doch die Frage, wie sozial oder gerecht diese Politik ist, hängt von der Perspektive ab.
Claudia Wirz,
Mit dem Sujet Frau lässt sich heutzutage prima gegen Kapitalismus und Wettbewerb zu Felde ziehen. Das kommt nicht von ungefähr. In Zeiten, in denen die reichen Volkswirtschaften sämtliche klassischen gewerkschaftlichen Anliegen längst übererfüllt haben, brauchen Linke und Gewerkschaften ein neues Proletariat, das sie vertreten können, und neue Formen der Ausbeutung, gegen die sie kämpfen können.

Es ist das Kerngeschäft der Gewerkschaften und ihrer zugewandten Orte, Missstände anzuprangern und Abbitte einzufordern. Eine Gewerkschaft, die mit der Welt zufrieden ist, hätte nichts mehr zu melden. So finden die Gewerkschaften auch in der solidarischen Überflussgesellschaft stets Benachteiligte, um die sie sich kümmern können.
 
«Die Frau», die Zukurzgekommene
Und hier kommt «die Frau» ins Spiel. Sie lässt sich bestens als Zukurzgekommene inszenieren. Sie verdient weniger als der Mann, sie ist häufiger alleinerziehend, sie arbeitet öfter in Tieflohnbranchen als der Mann und schafft es seltener in den Chefsessel. In Sitzungen erhält sie weniger Redezeit, bei Lohnverhandlungen und Finanzanlagen ist sie zurückhaltend, was ausgenützt wird.

Überdies leistet sie mehr Gratisarbeit als der Mann, und im fortgeschrittenen Alter leidet sie mehr als andere unter dem Klimawandel. Und als wäre das nicht schon elend genug, bekommt die Frau im Alter noch weniger Rente als der Mann. Und jetzt will man auch noch die Altersvorsorge «auf dem Buckel der Frauen» reformieren.

Dieses Narrativ ist stark, aber falsch. Die Frauen sind hierzulande nicht diskriminiert. Die monierten Probleme mag es geben, aber sie sind in aller Regel Ergebnis persönlicher Entscheide und Vorlieben – etwa einer geringeren beruflichen Ambition – und nicht Folge von «strukturellem Sexismus». Vielmehr sind die Frauen privilegiert. In die staatliche Altersvorsorge zahlen sie aufgrund tieferer Erwerbseinkommen weniger ein als die Männer, beziehen aber insgesamt mehr Leistungen, und im Berufsleben profitieren sie von unzähligen Förderprogrammen und mal mehr, mal weniger formellen Quotenregelungen – vor allem im Hochlohnbereich.

Gleiche Rechte, gleiche Pflichten
Doch ein politisches Dogma, das im Politbetrieb bisher leidlich gut funktioniert hat – man erinnere sich etwa an die Einführung der «Lohnpolizei» –, gibt man nicht gerne auf. Und so behandeln die Gewerkschaften und ihre Parteigänger, die sich selbst so gerne als Stoßtrupp der Emanzipation darstellen, «die Frau» weiterhin wie ein hilfloses kleines Wesen, das von der Wiege bis zur Bahre geschützt, gestützt und gefördert werden muss.

Wer die Frauen ernst nimmt, traut ihnen zu, ihre privaten Angelegenheiten und ihr berufliches Fortkommen selber zu regeln. Wer im Alter mehr Rente will, muss mehr einzahlen. Es ist weder sozial noch gerecht, unter Berufung auf angebliche systemische Benachteiligungen diese Rechnung zu ignorieren und Leistung und Einkommen durch Umverteilung immer mehr voneinander abzukoppeln. Gleiche Rechte – und die haben die Frauen schon längst – bedingen bekanntlich auch gleiche Pflichten. Es gibt keinen plausiblen Grund, diesem Grundsatz nicht endlich nachzuleben.

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