27 September 2022

Wichtigste Gaspipelines nach Europa beschädigt – alles deutet auf Anschläge hin (NZZ)

Wichtigste Gaspipelines nach Europa beschädigt – alles deutet auf Anschläge hin (NZZ)

In den beiden wichtigsten Gaspipelines von Russland nach Deutschland haben mindestens drei Lecks zu einem starken Druckabfall geführt. Wahrscheinliche Ursache sind Anschläge.
Thomas Schürpf Aktualisiert
Am Montag ist der Druck in der noch nie genutzten Gaspipeline Nord Stream 2 zusammengebrochen. Nur wenige Stunden später meldete abends die Betreiberfirma einen gleichen Druckabfall in der Pipeline Nord Stream 1. Obwohl Russland kein Gas nach Europa liefert, waren beide Röhrensysteme mit Gas gefüllt.

Während die Nord-Stream-2-Pipeline nach ihrer Fertigstellung nie in Betrieb genommen wurde, floss durch die Nord-Stream-1-Pipeline bis Anfang September noch Gas. Nachher verringerte Gazprom die Liefermengen und stoppte die Lieferungen schliesslich ganz, mit eher fadenscheinigen und immer wechselnden Begründungen.

Wegen des russischen Lieferstopps ist es für die Gasversorgung in der EU irrelevant, dass nun die wichtigen Pipelines ungeplant komplett ausfallen. Trotz dem geringen Gasfluss durch Nord Stream 1 konnten die europäischen Gasspeicher auf derzeit gut 88 Prozent gefüllt werden.

Dass innerhalb weniger Stunden in beiden Röhren der Druck abfällt, kann indes kein Zufall sein. Ein Unfall ist unwahrscheinlich, weil die beiden Systeme unabhängig sind. Nach Informationen aus Sicherheitskreisen deutet viel darauf hin, dass die Leitungen gezielt sabotiert wurden. «Es ist schwer vorstellbar, dass dies Zufälle sind», sagte auch die dänische die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen.

Drei Lecks entdeckt – Sperrzonen für Schiffe

Die dänischen Behörden haben inzwischen an den Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 insgesamt drei Lecks eruiert. Laut Medienberichten hatten F-16-Kampfjets die aus dem Wasser aufsteigenden Blasen zuerst entdeckt. Die Lecks waren so gross, dass sie sogar auf den Radaren von Schiffen in der Nähe zu sehen waren. Zwei Lecks habe man bei Nord Stream 1 nordöstlich der Ostsee-Insel Bornholm gefunden. Bei Nord Stream 2 gebe es einen Schaden südöstlich der Insel, heisst es in einer Mitteilung vom Dienstag. Im Falle von Nord Stream 1 befinde sich das eine Leck in dänischen und das andere in schwedischen Gewässern, bei dem von Nord Stream 2 in dänischen.

Wegen der Zwischenfälle bat die dänische Behörde das staatliche Unternehmen Energinet, im Hinblick auf die Sicherheit ihrer Anlagen besonders aufmerksam zu sein. Brüche in Gasleitungen kämen höchst selten vor. Vorsorglich hebe man das sogenannte Bereitschaftsniveau im Gas- und Stromsektor auf die zweithöchste Stufe «orange» an.

Bei den Lecks blubbern Methanblasen aus dem Meer. Methan ist hochentzündlich, sollte es zu einer Explosion kommen, könnte das für Schiffe gefährlich werden, hiess es. Polizei und Marine haben deshalb eine Fünf-Meilen-Sperrzone für Schiffe eingerichtet, auch der Flugverkehr unter 1000 Metern wurde untersagt.

Kurzfristig keine Umweltschäden erwartet

Eine grosse Gefahr für die Umwelt besteht aus Sicht der Deutschen Umwelthilfe (DUH) zumindest kurzfristig nicht. Erdgas besteht hauptsächlich aus Methan, das sich teilweise im Wasser löse und nicht giftig sei. Je tiefer im Meer das Gas frei werde, desto höher sei der Anteil, der sich im Wasser löse. Selbst im Fall einer Explosion unter Wasser gäbe es nur lokale Effekte.

Auf längere Sicht ist der Methan-Austritt gleichwohl problematisch. Methan ist ein Treibhausgas, das in der Atmosphäre deutlich schädlicher ist als CO2. Sollte der Gasaustritt nicht gestoppt werden, könnten beträchtliche Gasmengen entweichen. Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek befürchtet, dass die mit 177 Millionen Kubikmeter Gas gefüllte Pipeline in den kommenden Tagen leerlaufen könnte.

Pipelines fallen auf unbestimmte Zeit aus

Wann die Pipelines – zumindest theoretisch – wieder in Betrieb gehen könnten, ist völlig offen. Die Zerstörungen an drei Strängen im Meer gleichzeitig sei beispiellos, hiess es am Dienstag beim Unternehmen Nord Stream. Es scheint derzeit nicht wahrscheinlich, dass russische Gaslieferungen im kommenden Winter überhaupt noch möglich werden.

Der Pipeline-Betreiber von Nord Stream 2 sieht sich nicht in der Lage zu reagieren. In Lubmin, dem Ort, in dem die Pipeline in Deutschland ankommt, ist nach Wissen Lisseks kein Personal mehr. Man könne auch keine Aufträge erteilen, da man diese nicht bezahlen könne, und müsse schauen, woher man nun Informationen erhalte, sagte Lissek gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. Kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten die USA Sanktionen gegen die Nord Stream 2 verhängt und alle Geschäfte mit dem Unternehmen unmöglich gemacht. Nord Stream 2, das seinen Sitz in der Schweiz hat, ist zahlungsunfähig.

Der Doppelstrang der Pipeline Nord Stream 2 verläuft 1230 Kilometer von Russland durch die Ostsee bis nach Deutschland. Deutschland hatte das Genehmigungsverfahren für die fertiggestellte Leitung im Februar kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine auf Eis gelegt und auch danach betont, dass eine Inbetriebnahme nicht mehr infrage komme.

Über die Entstehung der Schäden wird noch gerätselt. Das deutsche Wirtschaftsministerium (BMWK) und die Bundesnetzagentur teilten dazu noch am Montagabend mit, dass man die Ursache nicht kenne und mit den betroffenen Behörden im Austausch stehe.

Alles deutet auf einen Anschlag

Es deutet praktisch alles auf Anschläge hin. Gewissheit können jedoch nur aufwendige Untersuchungen auf dem Meeresboden bringen. Dazu braucht es U-Boote und Marinetaucher. Bis die Vorfälle geklärt sind, dürfte es noch länger dauern.

Die Pipelines verlaufen auf dem Meeresboden und liegen im Bornholmer Becken rund 70 Metern unter der Wasseroberfläche. Die Röhren haben einen Innendurchmesser von 1,2 Meter und eine Wandstärke von 41 Millimetern. Wenn es tatsächlich um Anschläge geht, kommen angesichts des grossen technischen Aufwands eigentlich nur staatliche Akteure infrage.

Zwei mögliche Szenarien

In den Medien wird über zwei mögliche Szenarien diskutiert:

  • Ukrainische Anschläge: Die Ukraine könnte mit gezielten Beschädigungen darauf hinwirken, dass Gas aus Russland nur noch über Pipelines in der Ukraine oder Polen in die EU geliefert werden kann.
  • False-Flag-Operation Russlands: Russland könnte es mit Anschlägen darauf absehen, die Energiekrise in Europa zu verschärfen und die Preise noch höher zu treiben. Die Lecks ereigneten sich kurz vor der Inbetriebnahme der Baltic Pipe, die Gas von Norwegen nach Polen transportieren soll. Da diese am Dienstag eröffnete Pipeline die Nord-Stream-Röhren kreuzt, könnte Russland versuchen, Unsicherheit zu schüren. Denn auch bei Baltic Pipe wäre mit Anschlägen zu rechnen.

Der Kreml hält Sabotage am Nord-Stream-Pipelinenetz in der Ostsee für möglich. «Im Moment kann keine Option ausgeschlossen werden», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag in einer Telefonkonferenz. Die russische Regierung sei sehr besorgt. Sie fordere eine sofortige Untersuchung, da es sich um die Energiesicherheit für den «gesamten Kontinent» gehe. Der staatlich kontrollierte Gazprom-Konzern wollte die Situation nicht kommentieren.

Polen hält es für nicht ausgeschlossen, dass hinter den Gaslecks an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee tatsächlich eine russische Provokation steckt. Man befinde sich in einer Situation hoher internationaler Spannung, sagte Vize-Aussenminister Marcin Przydacz am Dienstag in Warschau. «Leider verfolgt unser östlicher Nachbar ständig eine aggressive Politik. Wenn er zu einer aggressiven militärischen Politik in der Ukraine fähig ist, ist es offensichtlich, dass keine Provokationen ausgeschlossen werden können, auch nicht in den Abschnitten, die in Westeuropa liegen.»

Gaspreis zieht wieder an

In den vergangenen Tagen war der Gaspreis auf den niedrigsten Stand seit Ende Juli gesunken. Am Dienstag verteuerte sich das Gas wieder um gegen 12 Prozent. Offenbar sehen Händler nach dem Ausfall von Nord Stream wieder höhere Risiken.
Derzeit erhält Deutschland Erdgas vor allem über Pipelines aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien. Zum Jahreswechsel sollen an Nord- und Ostseeküste insgesamt drei Terminals zur Anlandung von verflüssigtem Erdgas (LNG) in Betrieb genommen werden.

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