Der andere Blick
Die ratlose Großmacht: Deutschlands Lebenslügen sind gerade geplatzt (NZZ)
Eric Gujer, 28.02.2025, 5 Min
Die ratlose Großmacht: Deutschlands Lebenslügen sind gerade geplatzt (NZZ)
Eric Gujer, 28.02.2025, 5 Min
Die Bundesrepublik wäre am liebsten eine grosse Schweiz: neutral, nett
und harmlos. Doch in der neuen Weltunordnung funktioniert das nicht
mehr. Gelingt Schwarz-Rot die Wende zur Realpolitik?
In
der Mitte der neunziger Jahre rief der damalige Bundespräsident Roman
Herzog das «Ende des Trittbrettfahrens» aus. Deutschland, so seine
Forderung, müsse Verantwortung in der Welt übernehmen.
Dreißig Jahre später schubst Donald Trump ein völlig unvorbereitetes Deutschland rüde vom Trittbrett.
Die
Episode zeigt zweierlei. Die Erkenntnis, dass Deutschland und mit ihm
ganz Westeuropa seine Sicherheit in die eigenen Hände nehmen muss, ist
so alt wie das Ende des Kalten Kriegs. Doch drei Jahrzehnte ignorierte
Deutschland die Erkenntnis. Der Platz auf dem Trittbrett war einfach zu
bequem.
Der
russische Imperialismus, die Weltmachtambitionen Chinas und die
Disruption in Washington haben an der Geisteshaltung nichts geändert. Im
Wahlkampf blickten Olaf Scholz und Friedrich Merz nach innen: auf
Migration und Wirtschaft. Außenpolitik kam nur am Rand vor.
Scholz
spielte in der hässlichsten Tradition eines sozialistischen Agitators
die Renten gegen die Ukraine aus. Merz litt unter Amnesie und konnte
sich an sein Plädoyer für die Lieferung von Marschflugkörpern an Kiew
nicht erinnern.
Es
war wie immer in den letzten drei Jahrzehnten. Die beiden Politiker
behandelten die Wähler wie Kinder, die man vor den Hässlichkeiten der
Welt schützen muss. Dass eine mutige außenpolitische Vision den Bürgern
Zuversicht in schwierigen Zeiten vermitteln könnte – auf diesen
Gedanken kamen weder CDU noch SPD. Nun ist die Wahl vorbei, und das Land
ist denkbar schlecht auf die Krise der internationalen Ordnung
vorbereitet.
Die Machtpolitik gewinnt gegen das Völkerrecht