11 April 2023

Demokratie - Am Volk vorbei regiert (Cicero)

Demokratie
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Am Volk vorbei regiert (Cicero)
Politik ohne Bodenhaftung, willfährige Abgeordnete und Parlamente, die ihrer Aufgabe nicht gerecht werden: Die deutsche Demokratie ist in der Krise.
VON MATHIAS BRODKORB am 10. April 2023
„Es stimmt etwas nicht zwischen Teilen der Bürgerschaft und dem demokratischen System“, brachte jüngst die Inhaberin des zweithöchsten Staatsamts ihr Empfinden auf den Punkt. Bärbel Bas (SPD) ist als Bundestagspräsidentin von Amts wegen verpflichtet, mit überparteilichem Abstand auf den Zustand der Demokratie zu blicken. Was sie meinte, wird von Experten schon seit Jahren mit immer größerer Sorge betrachtet. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler geht sogar davon aus, dass die Gefährdung der Demokratie „noch nie“ so groß gewesen sei wie heute. Und er meint damit nicht nur Polen oder Ungarn. Münkler meint auch Deutschland. Er meint uns alle.

Schon seit Jahrzehnten nimmt die Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie scheinbar ab – und nicht zu. Man kann das nicht nur an sinkenden Wahlbeteiligungen und am Rückgang der Mitgliederzahlen von Parteien ablesen. Vor allem das Vertrauen der Menschen in die demokratischen Institutionen und noch mehr in die Problemlösungskompetenz des demokratischen Systems erodiert.

Die Beschimpfung des Souverän

Als Ablehnung der Idee der Demokratie kann man das aber nicht sinnvoll interpretieren. Eine große Mehrheit der Deutschen bekennt sich vielmehr zu ihr, im Westen des Landes tun dies sogar mehr als 90 Prozent. Aber als das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap im Oktober 2022 die Deutschen fragte, ob sie mit der Praxis der Demokratie (und nicht ihrer Idee) zufrieden seien, gab es eine ziemliche Ohrfeige für ihr politisches Personal. Nur noch knapp 51 Prozent der Deutschen zeigten sich zufrieden, ganze 47 waren unzufrieden. Befragt, wodurch die Demokratie am meisten gefährdet sei, waren ganz vorne mit dabei: „abgehobene Politiker“.

Im August des Jahres 2015 tat sich etwas Bemerkenswertes in Deutschland. Nachdem Bürger im sächsischen Heidenau den Versuch unternommen hatten, die Aufnahme von Flüchtlingen in der Region zu verhindern oder zumindest dagegen zu protestieren, besuchte der deutsche Vizekanzler den beschaulichen Ort. Er wollte sich selbst ein Bild von der Lage machen. Bei einem anschließenden Gespräch überschritt Sigmar Gabriel (SPD) dann die Grenzen des guten staatsbürgerlichen Geschmacks: „Das ist Pack. Das sind Leute, die mit Deutschland nichts zu tun haben. Ihr gehört nicht zu uns …“ Notabene: Gabriel meinte damit nicht die Flüchtlinge.

Mehr aus der Grauzone:

Für eine Demokratie ist das indes ein verstörender Vorgang. Ihre Legitimität verdanken die Regierenden einzig und allein den Staatsbürgern. Diese sind keine Bittsteller gegenüber der Obrigkeit, sondern der eigentliche Souverän. Als Sigmar Gabriel Staatsbürger als „Pack“ bezeichnete, stellte sich der Diener daher symbolisch über seine Herren. Die Skeptiker der Flüchtlingspolitik galten fortan regierungsoffiziell als zivilisatorischer Auswurf. Noch Jahre später verteidigte Gabriel seine Rede vom „Pack“ in einem Interview: „Ich habe mir das schon gut überlegt. Ich hätte auch gleich ‚Arschlöcher‘ sagen können.“ Bereits ab Oktober 2015 wünschte eine Mehrheit der Deutschen nach Umfragen aber keine weitere „Zuwanderung“ mehr. Die „Arschlöcher“ waren plötzlich in der Mehrheit. Und es blieb nicht bei der bloßen Wählerbeschimpfung. Es kamen lange eingeübte demokratische Verfahren unter die Räder.

Kein Abbild der Gesellschaft

Unter normalen Umständen wird über Grundsatzfragen im Rahmen von Wahlen befunden. So kann der Souverän die Richtung mitbestimmen, in die sich das Land bewegt. Im Jahr 2015 war das bei der Flüchtlingskrise schon aus Zeitgründen nicht möglich. Eigentlich wäre es dann logisch gewesen, zumindest den Vertreter des Souveräns in die Entscheidung einzubeziehen, also den Deutschen Bundestag. So hätten die veranlassten Maßnahmen immerhin demokratische Legitimität erlangen und politischen Frieden stiften können. Doch nicht einmal dazu konnten sich Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) durchringen. Die Entscheidungen wurden im engsten Kreis getroffen und anschließend einfach durchgedrückt. Der Preis dafür war die Wiederauferstehung der AfD.

Zumindest in der Theorie gehört es eigentlich zum Prinzip der Demokratie, dass alle von einer Sache Betroffenen auch an der Entscheidungsfindung beteiligt werden (Jürgen Habermas). Aber auch derartige demokratische Selbstverständlichkeiten wurden 2015 außer Kraft gesetzt. Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, kam nicht ohne Grund zu dem vernichtenden Ergebnis: „Die Flüchtlingskrise offenbart ein eklatantes Politikversagen. Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.“ Wenn Regierungschefs ohne demokratische Legitimation aus eigener Macht und gegen geltendes Recht Entscheidungen treffen, gilt das nach westlichen Maßstäben eigentlich als „autokratische Herrschaft“. Jedenfalls dann, wenn es in Polen oder in Ungarn geschieht.

Erhebliche Teile des Souveräns haben sich inzwischen also von dessen Vertretern entfernt. Aber das ist bloß eine Folge. Zuvor haben sich umgekehrt die Volksvertreter vom Wahlvolk entfremdet. Rund 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten verfügen heute über einen Hochschulabschluss, im Wahlvolk sind es hingegen nur knapp 20 Prozent. Überall Juristen, Beamte, Lehrer – und keine Bäcker, Verkäuferinnen, Stahlbauer oder Mitarbeiter der Müllabfuhr. Eigentlich soll das Parlament den Volkswillen zum Ausdruck bringen. Aber wie geht das eigentlich, wenn dort gar nicht das Volk, sondern bloß eine akademische Elite sitzt?

Die Lotterie ist demokratischer als die Wahl

Der Politikwissenschaftler Michael Zürn von der Freien Universität Berlin erklärt die aktuelle Krise der Demokratie daher auch durch diese „Repräsentationslücke“. Die um sich greifende politische Entfremdung sei kein Wunder, wenn fast alle Abgeordneten „Baustellen – wenn überhaupt – nur von Ferienjobs oder Richtfesten kennen oder Bäckereien nur als Kunden betreten“. Das Sein bestimmt am Ende eben doch irgendwie das Bewusstsein. Es sei diese Lücke, die zur Unzufriedenheit zahlreicher Wähler und zum Aufstieg populistischer Bewegungen in ganz Europa geführt habe. Diese stießen in das Loch, das die etablierten politischen Kräfte aufgerissen hätten.

Aber die „Diplomiertendemokratie“ ist gar nichts Neues. Auch vor 175 Jahren waren im ersten deutschen Parlament, in der Paulskirchenversammlung zu Frankfurt am Main, die Akademiker in der deutlichen Mehrheit. Obwohl kaum jemand die Universität besucht hatte, gehörten ebenfalls mehr als 80 Prozent der 649 Abgeordneten dem Kreis der Akademiker an. Besonders stark vertreten schon damals: Juristen, Lehrer und Professoren, vor allem Staatsbedienstete also. Von „Repräsentativität“ im Sinne eines getreuen Abbilds des Volkes jedenfalls konnte soziologisch keine Rede sein.

„Parlamente waren noch nie ein getreues Abbild der Bevölkerung“, erläutert Michael Zürn. Ihnen wohne vielmehr immer ein „elitäres Element“ inne. Genau deshalb galten den Erfindern der Demokratie, den alten Griechen, Wahlen auch als aristokratisch. Für wirklich demokratisch hielten sie nur den bloßen Zufall, also das Los. Nur so hat jeder Bürger ohne Ansehen der Person dieselben Chancen auf Teilhabe an der Herrschaft.

Repräsentation ist nicht das oberste Ziel

Vielleicht ist die Repräsentationslücke aber gar nicht das Problem, sondern auf paradoxe Weise die Lösung. Mit der Repräsentation geht es nämlich gar nicht um die unmittelbare Vollstreckung des Volkswillens. Der ist ohnehin schwankend und mitunter rätselhaft. Wäre der Sinn der Repräsentation, im Parlament soziologisch ein getreues Abbild des Volkes herzustellen, bräuchte man weder Wahlen noch Parteien. Man bräuchte nicht einmal Argumente.

Dann könnte man einfach eine ausreichend große Zahl von ungefähr 1000 Abgeordneten aus der Bevölkerung zufällig auslosen. Nach statistischen Kriterien würde man nur so wirklich „Repräsentativität“ erreichen. In Wahrheit bedeutet „Repräsentation“ im politischen Sinne aber etwas ganz anderes. Es geht darum, im Auftrag des Souveräns die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. Zwischen Wählerauftrag und politischer Entscheidung soll dabei die diskursive Abwägung von Gründen treten. Nicht umsonst trägt das Parlament seinen Namen. Nicht irgendetwas soll also beschlossen werden, sondern nur das, was sich auch rational rechtfertigen lässt und möglichst dem Gemeinwohl dient.

Es liegt somit in der Natur der Sache, dass die Volksvertreter dem Wahlvolk ständig „davonlaufen“. Das gilt jedenfalls dann, wenn diese tun, wofür sie am Ende gewählt wurden und auch bezahlt werden: aufgrund korrekter Informationen die besten Lösungen mittels Diskussion zu entwickeln. Die Idee der Repräsentation lebt also von der Idee, dass es einen Unterschied zwischen dem bloßen Egoismus des Einzelnen und dem Gemeinwohl für das Ganze gibt. Und dass es mithilfe bloßer Argumente möglich ist, vom Egoismus zum Gemeinwohl aufzusteigen, vom bloßen Privatbürger (Bourgeois) zum wahrhaft politischen Bürger (Citoyen) zu werden. Die Abgeordneten sind nicht die Vollstreckungsbeamten eines beliebigen „Volkswillens“. Sie sollen die Treuhänder von Volkssouveränität und Gemeinwohl sein. Zumindest in der Theorie.

Wahlen müssen einen Effekt haben

Und da hätten wir das Dilemma: Im Kern ist demokratische Repräsentation gar nicht denkbar ohne einen dauerhaften Zustand der Krise, ohne Nichtübereinstimmung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Eigentlich ist diese Differenz vielmehr der Sinn der ganzen, auf Arbeitsteilung beruhenden Veranstaltung. Auf der anderen Seite kann die Lücke zwischen Herrschenden und Beherrschten auch nicht beliebig groß werden, ohne dass die politische Ordnung insgesamt gefährdet wird. Auch der Bäcker versteht ja in der Regel mehr vom Brotbacken als sein Kunde. Aber am Ende muss das Brot seinem Kunden trotzdem schmecken. Und wenn die Hälfte des Wahlvolks nicht mehr überzeugt ist von der Leistungsfähigkeit der real existierenden Demokratie, gibt es schon aus Gründen der Mehrheitsregel ein handfestes Problem.

Also muss die Lücke wieder kleiner werden. Oder wie der Wissenschaftler Michael Zürn sich ausdrückt: Die „Responsivität“, die Reaktionsfähigkeit und -bereitschaft des politischen Systems müssen sich erhöhen. Was damit gemeint ist, hat ausgerechnet die wegen entsprechender Plagiatsvorwürfe viel gescholtene Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD), jüngst vorgemacht. Sie hätte mithilfe der Grünen und der Linken weiterhin Bürgermeisterin der Hauptstadt bleiben können. Aber sie tat es nicht, auch weil sie wohl das langfristige Echo der Wähler fürchtete.

Nach einer krachenden Niederlage der Sozialdemokraten einfach so weiterzumachen, als wäre nichts gewesen, hätte bei der nächsten Wahl für die SPD mutmaßlich zu einer noch viel größeren Katastrophe geführt. Der Wähler hat zwar mitunter ein schlechtes Gedächtnis, ist aber auch nicht völlig blöd. Und auch das immer wieder als „zögerlich“ bezeichnete Vorgehen des Bundeskanzlers in Sachen Ukraine dürfte dem Versuch geschuldet sein, das Volk mitzunehmen und die „Repräsentationslücke“ nicht noch weiter aufzureißen. Genutzt hat das der SPD in den Umfragen bisher nicht. Aber auch nicht sichtbar geschadet. Nur: Das sind alles Einzelfälle und keine strukturellen Lösungen für das ganz grundsätzliche Problem.

Enttäuscht von SPD und Grünen

Die Künstlerin Claudine Nierth ist Bundessprecherin von Mehr Demokratie. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich der Verein für direktdemokratische Elemente auf Bundesebene ein. Nierth fühlt sich dabei durch Umfragen bestätigt: Regelmäßig wünschten sich 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung „mehr Demokratie“. „Deutschland ist das einzige Land der EU, in dem es auf Bundesebene überhaupt keine direkte Demokratie gibt“, konstatiert sie durchaus frustriert.

Dabei hat es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine Reihe parlamentarischer Initiativen in diese Richtung gegeben. Aber sie alle scheiterten letztlich an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Die braucht man, um das Grundgesetz zu ändern. Während die linken Parteien stets für direktdemokratische Elemente waren, wollte vor allem die CDU davon nichts wissen. Für die politische Debatte um die direkte Demokratie steht es allerdings so schlecht wie schon seit Jahren nicht mehr, ist Nierth überzeugt. Sie führt das auf die Tatsache zurück, dass sich die linken Parteien inzwischen von ihren alten Positionen verabschiedet hätten. Noch im Jahre 2013 brachte die SPD ein umfangreiches Gesetzespaket in den Bundestag ein. Claudine Nierth geht noch heute das Herz auf, wenn sie davon spricht. Aber die SPD wolle davon „selbst nichts mehr wissen“.

Ebenso enttäuscht ist sie von Bündnis 90/Die Grünen. Eigentlich galten die einmal als basisdemokratische Partei schlechthin. Aber im Jahre 2020 änderten die Grünen auf direktes Betreiben von Annalena Baerbock und Robert Habeck ihr Grundsatzprogramm. Habeck verbog auf der entsprechenden Parteiveranstaltung und vor laufenden Kameras dafür sogar die Wahrheit. Man könne sich vom Instrument des Volksentscheids nämlich auch deshalb trennen, weil dieses nie im Grundsatzprogramm der Grünen gestanden habe: „That’s it!“ Mit welchen Kunstgriffen man die wortwörtlichen Forderungen nach „Volksbegehren“, „Volksentscheid“ und „bundesweiten Volksabstimmungen“ indes auf diese Weise missverstehen kann, bleibt des Regierungsphilosophen Geheimnis.

Die Angst vorm Kontrollverlust

Sein Kernargument gegen Volksentscheide: Zwar gebe es unbestritten ein „Repräsentanzproblem“ zwischen Volk und politischem System. Aber seit der Existenz sozialer Medien sei eine rationale Meinungsbildung des Volkes einfach „nicht mehr vorstellbar“. Stattdessen bestehe die Gefahr, durch Mobilisierung des Volkes den Populismus „gegen die da oben“ zu stärken. Als die Grünen vor 40 Jahren noch „die da unten“ waren, hatten sie gegen direktdemokratische Elemente nichts einzuwenden.

Jetzt, wo sie selbst zum Establishment gehören und sich die Instrumente gegen sie wenden könnten, sieht es plötzlich anders aus. Selbst der altlinke Haudegen Jürgen Trittin sprang Habeck in der Debatte energisch bei: „Tatsache ist: In der Schweiz sind zwei Atomausstiegs-Volksabstimmungen gescheitert“, sagte er mit einem Anflug überlegenen Lächelns im Gesicht. Und fügte hinzu: „Wir haben uns im Bundestag durchgesetzt.“ Offenbar heiligt der Zweck am Ende einfach die Mittel.

Nierth führt den Meinungswechsel der Grünen auf die „Arroganz“ der Macht und die „Angst vor der Unkontrollierbarkeit des Volkes“ zurück. Ein wesentlicher Auslöser hierfür sei der Einzug der AfD in den Bundestag. Die Rechtspopulisten agitieren von rechts schon seit langem für mehr direkte Demokratie. Wie damals die Grünen. Noch entscheidender sei aber die Volksabstimmung Großbritanniens über den Ausstieg aus der EU (Brexit) gewesen. Und tatsächlich argumentierten Habeck und Trittin vor allem mit dem Fall Europa, um vor Volksabstimmungen zu warnen.

Die Bürgerräte

Aber es gibt Ersatz, auch wenn es nur ein Placebo ist. An die Stelle von Volksentscheiden sind bei den Grünen, der SPD und auch der FDP sogenannte „Bürgerräte“ getreten. Sie haben es sogar in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft. Derzeit ist der Bundestag mit der Vorbereitung gleich dreier Bürgerräte beschäftigt. Sie sollen aus jeweils 160 ausgelosten Personen bestehen, so ein getreues Abbild der deutschen Bevölkerung ergeben und die Abgeordneten bei drei konkreten Entscheidungsprojekten beraten. Allein in den Jahren 2023 und 2024 stehen hierfür bis zu sechs Millionen Euro bereit.

Wie hoch die Bürgerräte dabei politisch aufgehängt sind, zeigte jüngst eine Veranstaltung des Bundestags. Als Ehrengast war mit Bärbel Bas die Präsidentin höchstselbst geladen. Natürlich lägen ihr die Bürgerräte „sehr am Herzen“, betonte Bas, um nach wenigen Minuten dennoch zu erklären, die Veranstaltung leider vorzeitig verlassen zu müssen. Aber eines sei ihr wichtig: Es komme darauf an, was mit den Empfehlungen der Bürgerräte geschehe. Dafür mahnte sie ein „verbindliches und transparentes Verfahren“ an. Fragt man nach, wie genau sie das denn absichern wolle, lässt sie ihren Pressesprecher sinngemäß ausrichten: Diese Entscheidung liege bei den einzelnen Fraktionen. Erfahrungen mit Bürgerräten aus Baden-Württemberg zeigen allerdings: Meist tun die Abgeordneten nicht das, wozu ihnen die Bürgerräte raten.

Genau anders als im Lehrbuch

Bürgerräte haben ja auch eine unvermeidliche Schwäche. Gerade weil ihre Mitglieder ausgelost werden, können sie keine politische Legitimität erzeugen. Wie könnte die auch aus purem Zufall erwachsen? Aber diese Schwäche ist auf merkwürdige Weise zugleich ihre Stärke. Denn die bloße Zufallsauswahl sorgt dafür, dass Partei- und Lobbyinteressen nicht die Versammlung dominieren können. Es stehen Sachargumente im Vordergrund. Der Jurist Florian Meinel von der Universität Göttingen macht deshalb eine bemerkenswerte Beobachtung: Eigentlich seien die Bürgerräte dem „Ideal eines Parlaments“ näher als die parlamentarische Wirklichkeit selbst. Zumindest zu einem sind sie also nütze. Sie veranschaulichen, wo das wirkliche Problem liegt: Die Krise der Demokratie ist eine Krise der Parlamente.

Eigentlich gilt die Legislative als Herzkammer der Demokratie. In ihr versammeln sich die Vertreter des Volkes, um in dessen Namen Gesetze zu beschließen, eine Regierung ins Amt zu heben und diese anschließend zu kontrollieren. Eigentlich ist das Parlament also der Koch und die Regierung bloß der Kellner. Eigentlich! Aber das ist politikwissenschaftliches Lehrbuchwissen ohne wirklichen Sitz im Leben. Wer auch nur einen kleinen Blick in das Innenleben des politischen Systems geworfen hat, weiß aus eigener Anschauung, dass es sich genau umgekehrt verhält. Und dabei geht es gar nicht um die unvermeidliche Tatsache, dass wenigen Hundert Abgeordneten Zehntausende Beamte gegenüberstehen. Es geht um viel Grundsätzlicheres.

Vom Prinzip her ist jeder Abgeordnete laut Grundgesetz nur seinem Gewissen verpflichtet. Nicht Parteien sitzen im Parlament, sondern Abgeordnete mit freiem Mandat. Aber es ist am Ende die Partei, die durch Listen und Wahlkreisnominierungen darüber entscheidet, ob ein Abgeordneter in ein Parlament einziehen kann oder nicht. Und diese wirtschaftliche Abhängigkeit erzeugt im Regelfall nicht Kontrolle – sondern Gehorsam. Bei der Opposition gegenüber Partei- und Fraktionsführung, bei den Regierungsfraktionen auch noch gegenüber der Regierung. Man beißt in der Regel eben nicht die Hand, die einen füttert. Die Mehrheit des Parlaments ist damit ihrer Kernfunktion beraubt: die Regierung im Namen des Volkes zu kontrollieren. Und genau das führt zu mangelnder „Responsivität“.

Abgeordnete wissen gar nicht, worüber sie abstimmen

In Wahrheit sind unsere Parlamente keine echten Parlamente. Sie streiten längst nicht mehr in der Sache um die besten Lösungen. Selbst die Gesetze, die sie beschließen, stammen fast ausnahmslos aus der Feder jener, die sie eigentlich kontrollieren sollten. Und das Machtgefälle zwischen Parlament und Regierung verschiebt sich immer mehr. Am 3. März 2023 mahnte die Sozialdemokratin Bärbel Bas in einem Brief an das Bundeskanzleramt die „Rückkehr zu ordentlichen Abläufen“ an.

Gemeint war damit, dass die Regierung ihre Vorlagen inzwischen so kurzfristig ins Parlament einbringt, dass eine sachliche Prüfung und Diskussion der Vorlagen schon aus Zeitgründen nicht mehr möglich sind. Das führe zu einer Schwächung des Parlaments „als zentrales Verfassungsorgan“ und des Vertrauens „in die repräsentative Demokratie“. Genau so sieht es auch der Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU): „Der Umgang der Regierung mit dem Bundestag ist nicht nur respektlos. Er beschädigt auch die Kontrollfunktion des Parlaments und damit die Demokratie. Selbst Koalitionsabgeordnete wissen regelmäßig nicht mehr, worüber sie eigentlich abstimmen.“

Die Parlamente befinden sich letztlich in Geiselhaft parteipolitischer Strategien und individueller wirtschaftlicher Interessen – instrumentalisiert von der Regierung und umgarnt von mächtigen Lobbygruppen. Schon vor 30 Jahren musste der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim harsche Kritik für die Behauptung einstecken, die Parteien hätten sich den Staat letztlich zur „Beute“ gemacht. Von Arnim hatte schon damals mehr recht, als jedem Demokraten lieb sein darf.

Mehr Direktmandate

Erst im Februar 2023 erklärte es das Bundesverfassungsgericht für rechtswidrig, dass die etablierten Parteien der AfD Geld für deren politische Stiftung verweigert und so den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt hätten. Und es sind genau diese Verselbstständigung und Anmaßung der etablierten Politik, die maßgeblich zur viel beschworenen „Repräsentationslücke“ beitragen. Wer sie verkleinern will, muss das Parlament aus den Klauen von Regierung, Parteizentralen und Lobbyisten befreien. Das geht nur, indem die Unabhängigkeit der Abgeordneten gestärkt wird.

Dazu könnte man nach angloamerikanischem Vorbild konsequent auf das Mehrheitswahlrecht setzen oder zumindest den Anteil der direkt gewählten Abgeordneten deutlich erhöhen – und nicht, wie bei der Wahlrechtsreform der Ampel, genau umgekehrt. Es gäbe dann im äußersten Fall nur noch direkt gewählte Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Die Konsequenz wäre klar: Parteiführungen und Regierungsmitgliedern wären entscheidende Instrumente aus der Hand genommen, um Belohnungen für Wohlverhalten in Form von Listenplätzen zu verteilen und so Abhängigkeiten zu erzeugen.

Zusätzlich müsste das Prinzip der relativen durch das der absoluten Mehrheit ersetzt werden. Während sich Bürgermeister oder Landräte im Zweifel einer Stichwahl stellen müssen, um tatsächlich eine Mehrheit der Wähler hinter sich zu wissen, reichen bei Bundestagswahlen für ein Direktmandat mitunter Zustimmungswerte von etwas mehr als 20 Prozent. Im Grunde ist das ein Verstoß gegen das Urprinzip der Demokratie schlechthin: die Mehrheitsentscheidung.

Nur eine Amtszeit

Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, um das Parlament wieder zu einem echten Parlament zu machen. Man könnte die Wahlperioden für Abgeordnete verlängern, dafür aber deren Wiederwahl ausschließen. Abgeordneter zu sein, wäre dann kein Beruf mehr, sondern eine einmalige bürgerliche Ehre. Das hätte zwei schlagende Konsequenzen: Einerseits könnten sich keine dauerhaften Seilschaften mehr entwickeln, wie sie heute in Parteien beim Gerangel um Posten üblich sind.

Schon die alten Griechen vergaben genau aus diesem Grund öffentliche Ämter meist nur für ein Jahr, häufig ohne Möglichkeit einer sich unmittelbar anschließenden zweiten Amtszeit. Und vielleicht noch wichtiger: Durch die Beschränkung auf eine einzige Wahlperiode wären die Abgeordneten ab dem Tage ihrer Wahl völlig unerpressbar und tatsächlich unabhängig. Es gäbe für sie durch politisches Wohlverhalten gegenüber Parteiführung oder Regierung nichts mehr zu gewinnen. Sie könnten tatsächlich allein ihrem Gewissen und Sachargumenten folgen. Vor allem aber: die Regierung im Namen des Volkes kontrollieren. Die Verfassung schreibt diese Aufgabe eigentlich nicht nur der Opposition, sondern allen Abgeordneten ins Stammbuch.

Der Fehler der Demoeuphorie

Schließlich wäre drittens die Einrichtung eines Senats denkbar – bestehend aus 100 Honoratioren und 100 zufällig ausgelosten Bürgern. Die einen brächten viel Erfahrung und symbolisches Kapital, die anderen politische Unabhängigkeit mit. Allerdings müsste dieser Senat im Unterschied zu Bürgerräten mit echten Rechten ausgestattet werden, um seine Wirksamkeit entfalten zu können. Infrage kommt das Recht, das Inkrafttreten von Gesetzen zu verhindern und so eine erneute Erörterung im Bundestag zu erzwingen. Mit jeder zweiten Blockade müsste automatisch eine Volksabstimmung ausgelöst werden, um gesetzgeberische Stagnation zu vermeiden. Allerdings wäre diese Lösung zugleich ein Akt konstruktiver Resignation. Es wäre das Eingeständnis, dass das Parlament aus sich selbst heraus kein wahres Parlament (mehr) sein kann. Der eigentliche Sinn der Senatslösung wäre es daher nicht, Volksabstimmungen auszulösen – sondern sie im besten Falle vielmehr überflüssig zu machen.

Nur einen Fehler sollte man bei der Suche nicht begehen: die „Demophobie“ (Gertrude Lübbe-Wolff) durch eine Demoeuphorie zu ersetzen. Das jedenfalls legen empirische Studien aus den USA nahe. Nur 25 Prozent der Wähler sind dort gut informiert, weitere 25 Prozent schlecht, die nächsten 25 Prozent „wissen nichts“ und die letzten 25 Prozent sind sogar „systematisch falsch informiert“. Sie haben in Sachfragen weniger häufig recht als eine Münze. Und es gibt keinen Grund für die Hoffnung, dass sich dies in Deutschland grundsätzlich anders verhält. Die „rationale Ignoranz“ der Wähler ist dabei sogar im besten Sinne effizient und systembedingt. Schließlich sollen sich bisher die Volksvertreter arbeitsteilig um die Details kümmern.

Eine neue Balance

Der Philosoph Jason Brennan fordert deshalb die Einführung eines „Wahlführerscheins“. Nur wer ihn besteht und ausreichendes Wissen vorweisen kann, soll künftig noch wählen dürfen. Wenn man glaubt, dass der Wähler regelmäßig komplexe Sachfragen entscheiden soll, scheint das konsequent. Aber der Souverän hat (wie die Bürgerräte) einen völlig anderen Vorteil: Er selbst ist nicht verstrickt in Kungeleien, Machtauseinandersetzungen und Parteiinteressen.

Und diese Unabhängigkeit im Urteil kann eine gemeinwohlsichernde politische Ressource sein. Entscheidender als die Idee der Demokratie ist daher letztlich die der Gewaltenteilung, also der gegenseitigen Begrenzung von Macht. Das Wahlvolk könnte in direktdemokratischen Abstimmungen immer dann zur Tat schreiten, wenn die Parteien nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern ihren eigenen Interessen folgen. 

Man hüte sich daher vor einfachen Lösungen: Weder entscheidet das politische System immer nur nach sachlichen Kriterien, noch ist das Wahlvolk immer klüger als die Herrschenden. Aber eine neue Balance in der Machtverteilung zwischen beiden könnte heilende Kräfte freisetzen – zum Wohle der Demokratie. Doch auch dafür gibt es in einer freien Gesellschaft niemals eine Garantie.

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