Während ich diese Zeilen
schreibe, knallt und scheppert es in naher Ferne. Mal leiser, mal
lauter. Und mir wird bewusst, dass ich angesichts des russischen
Überfalls auf die Ukraine wohl verdammtes Glück hatte, dass mein Zuhause
derzeit nicht rund 2000 Kilometer weiter östlich in, sagen wir, Mariupol liegt,
sondern in München. Der Grund, warum es in meinem Viertel knallt und
scheppert, sind nicht rollende Panzer und einschlagende Raketen, sondern
das hiesige Gymnasium, das derzeit teilweise abgerissen und
modernisiert wird. Die Bauarbeiten hier und die Putin’sche Invasion dort
haben etwa zur gleichen Zeit begonnen.
Ich kann verstehen, wenn Sie diese Einleitung vielleicht ein bisschen
pietätlos finden. An manchen Tagen finde ich mich selbst pietätlos.
Dann nämlich, wenn ich morgens seelenruhig auf der Terrasse sitze und
die jungen Eichhörnchen beobachte, wie sie sich entlang der großen
Kastanie jagen, und ich dann trotzdem ein bisschen sauer werde, weil das
Knallen und Scheppern mein kleines Stadtidyll trüben – während
gleichzeitig, gar nicht so weit weg von hier, Menschen sterben oder ihre
in Schutt und Asche gelegten Dörfer und Städte verlassen müssen.
Warum ich das erzähle? Weil dies ein persönlicher Text ist und ich –
irgendwo zwischen „Selbstschutz“ und „Einordung“ wahrscheinlich –
vermeiden möchte, dass der Eindruck entsteht, ich sei mir in Zeiten wie
diesen meiner Privilegien nicht bewusst. Welche Entscheidungen ich bei
meiner Arbeit treffe, haben, Gott sei dank, schließlich nichts zu tun
mit Leben und Tod, sondern nur mit einer möglichen Resonanz oder
Nicht-Resonanz auf meine Texte, oder, wenn es etwas härter kommt, mit
einem Shitstorm vielleicht, der für mich spätestens damit endet, dass
ich die Twitter-App auf meinem Smartphone schließe.
Zwischen „Kriegstreiberei“ und „Vulgärpazifismus“
Seit über zwei Monaten jedenfalls wird in der Ukraine mittlerweile gekämpft.
Und in Deutschland scheint mit jedem Kriegstag – das zeigen die
jüngsten Debatten um ein mögliches Gasembargo gegen Russland und jene
über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine eindrücklich – auch
die öffentliche Erwartungshaltung zu steigen, klar Position zu beziehen.
Nicht nur bei der Frage, ob wir als Deutsche solidarisch sein sollten
mit den Ukrainern – da sehe ich gar keine Diskussionsgrundlage, weil
klar ist, wer hier wen angegriffen hat –, sondern auch bei besonders
kontroversen Themen, die schon deshalb so kontrovers sind, weil niemand
mit absoluter Sicherheit sagen kann, welcher Grat der Einmischung
Deutschlands und des Westens in diesen Konflikt welche Folgen haben
wird.
Zwischen Vorwürfen der „Kriegstreiberei“ hier und des
„Vulgärpazifismus“ dort wird der Meinungskorridor folgerichtig enger für
Zweifler, die zunehmend einsam und allein zwischen den Stühlen stehen,
weil sie sich noch kein finales Urteil gebildet haben, ob es nun gut ist
oder schlecht, schwere Waffen zu liefern, oder ob es geboten ist oder
nicht, ein sofortiges Gasembargo gegen Russland zu verhängen. Und was
mich betrifft, so darf ich dieses Geständnis machen: Ich gehöre zu
dieser Gruppe der Zweifler, weil ich mich zwar seit Kriegsausbruch, wenn
auch aus der Ferne, mit der Ukraine beschäftige, aber nach wie vor
irgendwo in der Peripherie umherirre zwischen den Meinungsfronten;
zwischen beispielsweise meinem Kollegen Moritz Gathmann, der jüngst
einen Brief an die „Unterwerfungspazifisten“ veröffentlicht hat, und Cicero-Kolumnist Alexander Grau, der kürzlich forderte: Mehr Pazifismus wagen!
Von der Atomkraft zum Gasembargo
Ich war neulich etwa Gast in einer kleinen Internet-Diskussionsrunde.
Eigentlich ging es um die Frage, ob Deutschlands Weg aus der
Atomenergie ein Irrweg ist, der sich in Zeiten wie diesen nochmal ganz
besonders als solcher entpuppt. Hierzu habe ich eine halbwegs klare
Meinung: Wenigstens als Brückentechnologie scheint mir Atomkraft derzeit
alternativlos, schon deshalb, weil ich kein Freund davon bin, hunderte
Windräder in die Natur zu rammen. Das widerspricht nicht nur meinen
ästhetischen Vorstellungen von einer lebenswerten Region, sondern auch
meinen Überzeugungen von einem breiten und nachhaltigen Umweltschutz,
dessen oberstes Ziel ein Kompromiss aus den verschiedenen Interessen von
Mensch und Natur sein sollte.
Im Laufe genannter Diskussionsrunde wollte dann aber ein Zuhörer
wissen, wo ich bei der Frage des sofortigen Gasembargos gegen Russland
stehe. Meine Antwort war beziehungsweise ist kaum zufriedenstellend: Ich
weiß es einfach nicht, lautet sie. Zum einen, weil mir niemand sicher
sagen kann, ob ein solches Gasembargo einen entscheidenden Einfluss auf
den Kriegsverlauf hätte. Aber auch, weil am russischen Gas eben nicht
nur die Gewinne deutscher Unternehmen hängen, sondern auch die
Arbeitsplätze der Menschen, die für diese tätig sind. Gleichzeitig
verspüre ich hier einen inneren Konflikt, weil ich die Argumente für ein
sofortiges Gasembargo trotzdem verstehen kann, da Putin das Geld im
Zuge seiner teuren „Sonderoperation“ in der Ukraine gut gebrauchen kann.
Nicht irgendeine Hare-Krishna-Sekte
Vergangene Woche – womit wir bei der zweiten großen kontroversen Debatte wären – hat der Bundestag nach längerem Hin und Her einer Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zugestimmt. In die Diskussion von extern eingemischt haben sich unter anderem 28 Intellektuelle und Künstler, die in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz appellierten. Die entscheidende Forderung von unter anderem Emma-Herausgeberin
Alice Schwarzer, Schriftstellerin Juli Zeh und Kabarettist Dieter Nuhr
an den Kanzler lautet: „Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre
ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt,
weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern.“ Deutschland, fürchten
die Unterzeichner, werde sonst immer mehr zur Kriegspartei, was die
Gefahr einer atomaren Reaktion Russlands und damit eines Dritten
Weltkrieges erhöhen würde.
Für ihre Forderung wurden die Unterzeichner teils heftig angegriffen. Auch auf Cicero Online sind
Texte erschienen, die sich kritisch mit diesem Offenen Brief und einem
Beitrag von Jürgen Habermas zum Thema auseinandersetzen (hier und hier).
Das ist das eine. Das andere ist, dass wiederum Zehntausende die
Unterzeichner für ihre klare Haltung loben und jedem, der trotzdem für
die Lieferung schwerer Waffen ist, „Kriegstreiberei“ vorwerfen. Dass es
bei einem kontroversen Thema wie diesem heftige Auseinandersetzungen
gibt, die immer wieder auch die Grenze der inhaltlichen Debatte
überschreiten, war zu erwarten. Bei Reizfiguren wie Alice Schwarzer und
Dieter Nuhr ohnehin. An dieser Stelle sei denn auch ein NZZ-Kommentar mit dem Titel „Keine Panzer für die Ukraine? Natürlich darf man dieser Meinung sein!“ wärmstens empfohlen.
Verstörend finde ich gleichwohl, mit welcher Nonchalance die in
diesem Offenen Brief formulierten Befürchtungen beiseite gewischt
werden, als handle es sich um die Hirngespinste irgendeiner
Hare-Krishna-Sekte. Und das derart, als würden deutsche
Waffenlieferungen quasi garantieren, dass ein Sieg der Ukrainer gegen
Russland in greifbare Nähe rückt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich
bin nicht gegen Waffenlieferungen. Aber ich bin eben unsicher, was
folgen wird, wenn man einst formulierte rote Linien immer weiter
verschiebt. Daher kann ich nicht nachvollziehen, warum diese Debatte –
auf beiden Seiten – mit einer derart unversöhnlichen Selbstgewissheit
für die eigenen Positionen geführt wird, als ginge es nicht um
Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet mit unvorhersehbaren Konsequenzen,
sondern um die geplante Verlängerung der A20 und der A39 in Niedersachen.
Mit jeder Patrone wird der Krieg verlängert
Was mich betrifft, so will ich weder einen konsequenten Stopp der
Waffenlieferungen, weil wir die Ukraine bei ihrer Verteidigung
unterstützen sollten, noch will ich dafür die Gefahr einer weiteren
Eskalation bis hin zu einem Dritten Weltkrieg in Kauf nehmen. Das
Problem ist nur: Wie die Dinge derzeit stehen, kann ich offenbar nur das
eine oder das andere bekommen, weshalb ich mich auch hier nicht
imstande sehe, klar Partei für die eine oder die andere Position zu
ergreifen. Und ich denke, dass es vielen Menschen da draußen genauso
geht, was der eigentlich Grund ist, diesen Text zu schreiben. Schon
deshalb, weil ein ehrliches „Ich weiß es nicht“ den Gesetzen der
Aufmerksamkeitsökonomie in den Medien tendenziell widerspricht. Legitim
ist es dennoch – und sollte in einer gesamtgesellschaftlichen Debatte
auch entsprechend berücksichtigt werden.
Zu meiner eigenen Verunsicherung trägt noch ein Widerspruch bei, den
ich an dieser Stelle kurz skizzieren möchte: Einerseits heißt es, wir
stünden fest an der Seite der Ukraine und liefern nun auch schwere
Waffen. Andererseits verlängern wir den Krieg mit jeder Patrone, die wir
liefern, während wir gleichzeitig eben nicht alles tun, damit die
Ukraine siegreich aus diesem Krieg hervorgehen könnte. Denn das würde de
facto ein aktives Eingreifen der Nato in diesen Konflikt bedeuten. Wenn
wir das aber nicht wollen, und da scheint halbwegs Konsens zu
herrschen: Handelt Deutschland dann nicht konsequent inkonsequent? Und
was sagt das eigentlich über die Rolle aus, für die sich der Westen in
diesem Zusammenhang entschieden hat? Auf mich wirkt unsere Rolle
teilweise unehrlich, was gleichwohl nicht heißt, dass ich einen
Nato-Eingriff befürworten würde. Es ist eben kompliziert.
Gewiss ist, dass vieles ungewiss ist
Überdies konnte mir bisher noch niemand erklären, welcher Zielvorgabe
wir derzeit eigentlich folgen. Ja, wir wollen der Ukraine helfen, sich
gegen den russischen Überfall zu verteidigen. Aber was kommt danach?
Wann beginnt überhaupt danach? Und was muss passieren, damit es
näherrückt? Denn der Krieg in der Ukraine kann noch Jahre, vielleicht
Jahrzehnte dauern, falls der russische Überfall in einen Bürgerkrieg
mündet, der sich dann langfristig auf bestimmte Regionen und Städte
konzentriert. Vergleichbare Beispiele hierfür gibt es genug. Daher
kommen wir auch nicht umhin, dieses und weitere Szenarien bei jeder
Einmischung in der Ukraine politisch mitzudenken. Langfristige
Perspektiven kommen mir in der öffentlichen Debatte aber deutlich zu
kurz. Nur: Woher weiß ich denn, wohin ich laufen soll, wenn ich das
endgültige Ziel nicht kenne?
Gewiss scheint bisher leider vor allem, dass vieles ungewiss ist, was
den weiteren Verlauf dieses Konflikts angeht, weshalb ich nicht nur mit
großer Sorge in die Ukraine blicke, sondern auch auf viele Diskussionen
zum Thema. Weil dem so ist, sitze ich an meinem Schreibtisch in
München, tippe Zeichen um Zeichen, Zeile um Zeile in meinen Laptop und
bleibe erstmal dabei und irgendwo dazwischen, auch, wenn es mir anders
vielleicht lieber wäre: Pardon, ich weiß es einfach nicht. Und ich hoffe
gleichzeitig, dass die Bundesregierung die richtigen Entscheidungen
getroffen hat und künftig treffen wird. Denn die Folgen werden wir
früher oder später ohnehin zu spüren bekommen. Ganz sicher.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen