Urteil zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht
Bundesverfassungsgericht: Postfaktischer Wegbereiter des paternalistischen Staates (Cicero+)
Mit der Entscheidung, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht
rechtens sei, hat das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal gezeigt,
dass die Bürger von ihm keinen Schutz vor einem übergriffigen Staat
erwarten dürfen. Der Erste Senat hat sämtliche Argumente, die gegen eine
solche Impfpflicht sprechen - fehlender Fremdschutz,
Impfnebenwirkungen, niedrige Infektionszahlen - konsequent ignoriert.
Betroffene sollten erwägen, das Bundesverfassungsgericht nicht mehr in
Sachen Corona anzurufen.
VON JESSICA HAMED am 21. Mai 2022 (Fachanwältin für Strafrecht und Dozentin an der Hochschule Mainz.)
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist eigentlich rasch kommentiert:
Zugespitzt würde ein Zitat des seit Wochen viel gefragten ehemaligen
Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Immunologie Andreas Radbruch
vom 3. April 2022 genügen, um die ins Auge springende Unrichtigkeit des
Karlsruher Beschlusses aufzuzeigen: „Wichtig vielleicht noch einmal zu
betonen: Auf die Wissenschaft kann sich eine Entscheidung zu irgendeiner
Impfpflicht nicht berufen!“
Kein relevanter Fremdschutz
Die Covid-Impfungen vermitteln keinen relevanten Fremdschutz, weshalb eine partielle Impfpflicht zum Schutze vulnerabler Menschen bereits Zweifel an der Geeignetheit
und an der Erforderlichkeit hervorruft. Warum sollten „fehleranfällige“
(Rn. 193 des Beschlusses) Corona-Tests schlechter sein als mangels
sterilisierender Immunität ebenfalls „fehleranfällige“ Impfungen?
Jedenfalls aber wird hierdurch die Angemessenheit des tiefgreifendsten
Grundrechtseingriffs in der Coronapolitik offensichtlich in Frage
gestellt.
In der Gesellschaft und offenbar auch beim höchsten Gericht
Deutschlands hält sich jedoch der Aberglaube an einen Fremdschutz derart
hartnäckig, dass so manche religiöse Institution – letztlich die
PR-Profis schlechthin für die Verbreitung evidenzfreier Narrative – vor
Neid erblassen müsste. Weder Bildung noch Intellekt helfen bei tief
verinnerlichten Glaubenssätzen. Gleichwohl, in aller Deutlichkeit mit
den Worten des renommierten Virologen Hendrik Streeck:
„Jeder erlebt doch, dass sich Geimpfte und Geboosterte infizieren
können und dass es keinen Fremdschutz durch die Impfung gibt. Hier
fehlt mir die kluge Kommunikation. Auch zuletzt im Bundestag haben
Abgeordnete immer noch von einem Fremdschutz als Argument für die
Impfpflicht gesprochen – und zwar nicht von einem indirekten
Fremdschutz, dass die Intensivstationen freibleiben, sondern einem
direkten Fremdschutz, dass jemand, der geimpft ist, den anderen nicht
infizieren kann. Aber das ist schlichtweg falsch.“
Vom Abwehrrecht zur Schutzpflicht
Den vom Bundesverfassungsgericht wortreich und substanzlos
insinuierten Fremdschutz, der durch die Ausbreitung der Omikron-Variante
„nicht erschüttert“ worden sei (Rn. 184), ist nicht nur als verdrehte
Schlussfolgerung aus den – zum Teil sehr unterkomplexen – Stellungnahmen der sachverständigen Dritten
(keiner behauptete dort, es gebe einen relevanten Fremdschutz)
anzusehen. Sondern der Beschluss stellt im Ergebnis auch einen
Paradigmenwechsel dar, der es dem Staat auch in künftigen Krisen
ermöglicht, via Einschätzungsspielraum jede Maßnahme, deren Eignung
nicht zweifelsfrei widerlegt ist, zu ergreifen – etwa im Umgang mit dem Klimawandel.
Damit werden sukzessive die Grundrechte, die primär als Abwehrrechte
der Bürger gegen den Staat konzipiert waren, nicht nur zu weitreichenden
Schutzrechten, sondern sogar zu angeblichen Schutzpflichten umgebaut.
Denn der erste Senat, der sich seit Monaten „lauterbachesk im pandemischen Panikmodus“
eingerichtet hat, hat sich sogar andeutungsweise dazu verstiegen, die
einrichtungsbezogene Impfpflicht als Handlungspflicht des Staates
anzusehen (Rn. 217). Mit dieser anti-freiheitlichen Deutung der
Grundrechte liegt es nahe, dass der Senat auch eine allgemeine
Impfpflicht unter der Prämisse der Teilhaberechte vulnerabler Menschen
am öffentlichen Leben absegnen würde, wohingegen er den Ausschluss
ungeimpfter Personen vom soziokulturellen Existenzminimum durch das
2G-Modell bislang nicht beanstandet hat.
Das Gericht verkennt dabei, dass Covid-19 aufgrund des freien Zugangs
zu Behandlungsmöglichkeiten, Schutzausrüstung und Impfungen für die
gesamte Gesellschaft schon lange zum allgemeinen Lebensrisiko
geworden ist. Überträgt man die Linie des Senats auf andere
Gefahrenlagen, wären auch eine Grippeimpfpflicht, lebenslanges
Maskentragen gegen sämtliche respiratorische Erreger usw. „begründbar“.
Seuchenpolitischer Imperativ
Rote Linien kennt der Senat bei Corona so gut wie keine. Er hat sich
vollständig dem seuchenpolitischen Imperativ unterworfen, wie die
Richter spätestens erkennen ließen, als sie im Dezember 2021 die
strengsten Corona-Maßnahmen Deutschlands für das Abhalten einer
mündlichen Verhandlung erlassen haben.
Die Verhandlung fand unter „2Gplusplus“ statt und wurde nicht nur von
der Autorin dieser Zeilen, die vor diesem Hintergrund namens ihrer
Mandantin (erfolglos) alle Senatsmitglieder wegen Befangenheit in Sachen Corona ablehnte, scharf kritisiert. Auch heute gilt auf den Fluren des Bundesverfassungsgerichts – auf Anordnung des wegen seiner hochpolitischen Vergangenheit umstrittenen Präsidenten Stephan Harbarth – noch 3G und Maskenpflicht.
Damit war der Irrglaube des Präsidenten an die angeblich
gerechtfertigte Privilegierung gegen Covid-19 geimpfter Menschen nach
außen eindrücklich dokumentiert.
Indem der Senat in seinem Beschluss übrigens auch (PCR)-Tests aufgrund
ihrer „Fehleranfälligkeit“ als weniger geeignet zur Pandemiebekämpfung
als eine Impfung abtat (Rn. 193 f.), signalisierte er der Politik zudem
en passant, dass 2G in Ordnung und 3G unsicher sei. Mit gutem Willen
kann man eine rote Linie bei einem – aktuell nicht bestehendem –
Impfzwang erkennen (Rn. 209, 221). Erneut betonte das Gericht, dass die
Betroffenen sich nicht impfen lassen müssten, sondern auch
(vorübergehend) ihre Tätigkeit wechseln könnten. Dass damit die wirtschaftliche und soziale Existenz
in Gefahr ist, thematisiert das Gericht nicht, obgleich es
grundsätzlich anerkennt, dass es sich hierbei um eine gravierende Folge
handelt.
Im Zweifel für den Staat
Dass die Richter mit zweierlei Maß messen und zugespitzt das Ergebnis
stets lautet: „Im Zweifel für den Staat“, ist ein weiterer Makel der
Entscheidung. Das zeigte sich auch an anderer Stelle: So gingen
Unsicherheiten in Bezug auf den Genesenenstatus zu Lasten der
Betroffenen (Rn. 201), obwohl auch hier wissenschaftlich allgemein
anerkannt ist, dass Genesene und Geimpfte gleichgesetzt werden müssten,
wie etwa in der wenig beachteten Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestags am 6. April 2022 deutlich zum Ausdruck kam.
Besonders haarsträubend fällt auch die Bewertung des Senats im
Hinblick auf die Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen durch die
Covid-Impfungen aus. Obwohl gesellschaftlich und fachlich schon längst
kontrovers über das Ausmaß der – naturgemäßen – Untererfassung von schwerwiegenden Nebenwirkungen
diskutiert wird, kommt das Gericht ganz ungeniert zu einer angeblichen
Überschätzung des Risikos, basierend auf den Daten des
Paul-Ehrlich-Instituts, da „bei weitem nicht bei jeder Verdachtsmeldung
ein Kausalzusammenhang mit der Impfung gesichert ist“, weshalb „davon
ausgegangen werden [kann], dass entsprechende Nebenwirkungen oder
gravierende Folgen ganz überwiegend nicht eintreten“ (Rn. 227).
Frappierende Erörterungslücke
Am schockierendsten erscheint jedoch das nonchalante Überspringen der
sich aufdrängenden Frage, ob der Staat zum Schutze anderer das Leben
und die Gesundheit von in der Regel gesunden Menschen riskieren darf,
wohlwissend, dass, statistisch betrachtet – unabhängig davon, wie man
die Quote der schwerwiegenden bzw. tödlichen Nebenwirkungen einschätzt –
durch die Impfpflicht sicher Menschen zu Schaden kommen.
Statt die Frage zu beantworten, ob der Staat aktiv töten darf
oder ob hierin eine Verletzung der Menschenwürde zu erblicken ist,
erging sich der Senat in einer knappen utilitaristischen Folgenabwägung
und stellte lapidar fest: „Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von
gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere
Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler
Menschen gegenüber“ (Rn. 230).
Der Senat hätte dabei zwingend die vorgenannten Fragen aufwerfen und seine Antwort insbesondere an seinen Ausführungen zum Luftsicherheitsgesetz
messen müssen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird rein
fremdnützig begründet, sodass sich der Gedanke, dass die Betroffenen
damit zum bloßen Objekt der staatlichen Rettungsaktion zum Schutze
anderer gemacht werden könnten, derart aufdrängt, dass man sich fragen
muss, wie es zu der frappierenden Erörterungslücke kommen konnte.
Anders als beim Luftsicherheitsgesetz, mit dem der Staat den Abschuss
eines entführten Flugzeugs anordnen und damit das Leben der Insassen
opfern hätte können, ohne ihnen eine Wahl zu lassen, gibt es bei der
Impfpflicht allerdings keinen unmittelbaren Zwang. Die damalige
Entscheidung ist somit zwar nicht ohne weiteres übertragbar, aber
aufgrund des existenziellen Drucks durch das drohende Tätigkeitsverbot
reicht die Maßnahme auch hier recht nah zumindest an einen mittelbaren
Zwang heran. Jedenfalls hätte das Gericht nach althergebrachten
Wertmaßstäben des Grundgesetzes nicht ohne weiteres Leben gegen Leben
abwägen dürfen.
Verengter Entscheidungsspielraum
Neben der grotesken inhaltlichen Begründung der Entscheidung bleibt
noch auf den Umstand hinzuweisen, dass das Gericht erneut auf eine
mündliche Verhandlung verzichtet hatte. Wie auch schon bei den – den
Anfang allen Übels markierenden – harsch kritisierten Bundesnotbremsentscheidungen,
obwohl sich bereits aus Gründen der Transparenz und der Bedeutung des
Verfahrens das Abhalten einer Verhandlung aufgedrängt hat.
Das Bundesverwaltungsgericht hingegen verhandelt seit dem 2.Mai 2022
über ein ähnliches Thema, nämlich die Duldungspflicht im Hinblick auf
die Covid-Impfung bei Soldaten. Obgleich sich nunmehr der
Entscheidungsspielraum aufgrund der Bindungswirkung des veröffentlichten
Beschlusses deutlich verengt hat, dürfte noch ein gewisser Spielraum
für eine anderweitige Beurteilung bestehen, da hier zumindest auch
andere Aspekte zu thematisieren sind. Insbesondere dürften in der
Bundeswehr kaum vulnerable Personen anzutreffen zu sein.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht auffallend schnell – innerhalb
nur weniger Monate – in der Hauptsache entschieden hat, stellt sich die
Frage, ob der Senat mit seiner Entscheidung vom 27. April 2022 etwa
einem abweichenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zuvorkommen
wollte. Schließlich wurde immer noch nicht in der Hauptsache über die
seit 2020 anhängigen Verfassungsbeschwerden zur Masernimpfpflicht
(wobei dort die Übergangsfristen verlängert wurden) entschieden. Ein
Geheimnis bleibt übrigens, ob die hiesige Entscheidung einstimmig
erging. Bei den Bundesnotbremse-Entscheidungen hingegen wurde das
(einstimmige) Abstimmungsergebnis mitgeteilt.
Massiver Vertrauensverlust
Seit den Bundesnotbremse-Entscheidungen, die deutlich machten, dass
das Gericht nicht beabsichtigt, eine enge verfassungsrechtliche
Kontrolle durchzuführen und es stattdessen bei einer
„Vertretbarkeitskontrolle“ belässt (auch in diesem Beschluss, Rn. 187),
ist mir bewusst, dass von dem höchsten Gericht Deutschlands – noch
weniger als von den Fachgerichten – in Sachen Corona nichts zu erwarten ist. Was folgt daraus? Tatenlos Rechtsbrüchen zusehen? Klagen, um das Unrecht zu dokumentieren?
Nach meinem Dafürhalten sollten Betroffene erwägen, das
Bundesverfassungsgericht nicht mehr in Sachen Corona anzurufen. Es
verdient das Vertrauen der schutzsuchenden Bürger nicht mehr – und
deshalb sollte es auch keine Gelegenheit mehr zur Äußerung erhalten.
Nachdem der Befangenheitsantrag wegen des „Dinners im Kanzleramt“ – zu Unrecht
– abgelehnt wurde, wäre es möglicherweise aus politischen Gründen
besser gewesen, die anhängigen Verfassungsbeschwerden zur
Bundesnotbremse zurückzuziehen und damit den Vertrauensverlust
aufzuzeigen. Notwendig wurden diese Erwägungen, da weder die zur
Entscheidung berufenen Richter für die Beschädigung des Ansehens des
Gerichts noch die beteiligten Politiker Verantwortung für das
inakzeptable Verhalten übernommen haben. Einzig schonungslose
Transparenz hätte wieder Vertrauen herstellen können.
Ein Gefühl von Ohnmacht
Es ist eine bittere Erkenntnis, die ein Gefühl von Ohnmacht
vermittelt. Und natürlich fällt es schwer, diesen Schritt, die Rücknahme
einer Verfassungsbeschwerde, zu gehen. Hat man es erst einmal so weit
gebracht, dass der Senat die eigene Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung annimmt (was sehr selten geschieht), fällt es schwer,
loszulassen. Von der ganzen Arbeit und der Hoffnung, die unweigerlich
aufflammt, einmal ganz abgesehen. Ich sage das nicht leichtfertig. Einer
meiner für mich bedeutsamsten Momente in meiner Berufslaufbahn war
neben der Vereidigung zur Rechtsanwältin das Unterzeichnen meiner ersten
– auch erfolgreichen
– Verfassungsbeschwerde. Mich schmerzt, dem höchsten Gericht
Deutschlands in grundsätzlicher Hinsicht kein Vertrauen mehr
entgegenbringen zu können.
Es liegt nunmehr an den Richterinnen und Richtern sowie der Politik,
das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Objektivität des
Bundesverfassungsgerichts durch geeignete Maßnahmen wieder herzustellen.
Das Gegenteil geschieht indes momentan. Und so wirkt es nach alledem
geradezu zynisch, dass Harbarth jüngst konstatierte:
„Zu jedem Zeitpunkt der Pandemie haben Gerichte – auch das
Bundesverfassungsgericht – auf die Achtung der Grundrechte geachtet und
den notwendigen Abstand zur Politik gewahrt.“
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