Windräder statt Märchenwald: Ist das Kunst - oder kann das weg? (NZZ)
Noch im Herbst pflanzte die Documenta-Leitung Eichen im märchenhaften Reinhardswald bei Kassel, um das Klima zu retten. Nun soll der Wald Windrädern weichen, die das Klima noch besser retten. Ein Musterbeispiel für die Absurdität der deutschen Energiewende.
23.05.2022,
Noch im Herbst pflanzte die Documenta-Leitung Eichen im märchenhaften Reinhardswald bei Kassel, um das Klima zu retten. Nun soll der Wald Windrädern weichen, die das Klima noch besser retten. Ein Musterbeispiel für die Absurdität der deutschen Energiewende.
23.05.2022,
In Nordhessen, in der Mitte Deutschlands, liegt eines der grössten
zusammenhängenden Waldgebiete Mitteleuropas, der als «Märchenwald»
bekannte Reinhardswald. Die Deutschen und ihr Wald – das ist ein
geschichtsträchtiges Thema, bei dem nationale Identität, historische
Mythen und politisierte Romantik wichtige Rollen spielen. Auch
Untergangsszenarien zählen dazu: etwa das als endzeitlich wahrgenommene
Waldsterben in den achtziger Jahren oder die apokalyptischen
Klimawandelprognosen heute.
In den Märchen der Brüder Grimm, die sie den hessischen Dorfbewohnern ablauschten und die heute zum Weltkulturerbe der Unesco zählen, ist der Wald ein zentraler, immer wiederkehrender Schauplatz, wo sich wundervolle, aber auch schreckliche Dinge ereignen, wo Menschen auf Naturgeister, Räuber und Hexen treffen und dabei allerlei Prüfungen ausgesetzt sind.
Im Reinhardswald befindet sich nicht nur die weithin als «Dornröschenschloss» bekannte Sababurg, sondern auch ein historischer Tierpark, ein sich selbst überlassenes Urwaldareal und etliche jahrhundertealte Eichen. Die rund 200 Quadratkilometer grosse geschlossene Waldfläche ist für die Artenvielfalt von grosser Bedeutung, sie beherbergt etwa seltene Wildkatzen und Populationen weissen Rotwildes oder gilt als «Trittstein»-Biotop für wandernde Luchse.
In diesem Frühjahr haben die nordhessischen Behörden der Errichtung eines Windparks mit mindestens achtzehn 240 Meter hohen Windanlagen mitten in diesem Waldgebiet zugestimmt, was weithin Bestürzung ausgelöst hat.
Die waldreiche und ländlich geprägte Region um Kassel, wo in diesem Jahr wieder die Weltkunstausstellung Documenta stattfindet, setzt eigentlich traditionell auf die touristische Vermarktung als «Märchenland» und wird von der «Deutschen Märchenstrasse» erschlossen. Auch bei Touristen aus Übersee, besonders bei Asiaten, kam das in der Vergangenheit gut an. Ebenso lieben die Einheimischen ihren Wald: Kasseler Kinder schickt man gerne in den «Waldkindergarten», sportliche Menschen steuern den «Kletterwald Kassel» an, und im «Waldladen» deckt man sich mit regionalen Wildspezialitäten ein.Selbst die zeitgenössische Kunst widmet sich in Kassel traditionell dem Thema Wald: Als legendär gilt Joseph Beuys’ Aktion «Stadtverwaldung», bei der er 7000 Bäume, grossenteils Eichen, im Stadtgebiet pflanzen liess. In Anlehnung an diese Aktion machten sich im vergangenen Herbst Mitglieder der diesjährigen Documenta-Leitung Ruangrupa in den Reinhardswald auf, um dort Eichen zu pflanzen.
Die umweltbewussten und sozial engagierten indonesischen Kuratoren wollten dazu beitragen, «einen klimastabilen Wald von morgen» anzulegen. Mit einem sogenannten Nachhaltigkeits-Euro, der auf das Documenta-Ticket aufgeschlagen wurde, soll die Aufforstung finanziert werden. Ein vergleichbares Wald-Projekt unterstützt Ruangrupa auf Sumatra, wo Tieflandregenwälder erforscht und geschützt werden sollen.
Kunststoff statt Bäume
Umso mehr verwundert nun der Kahlschlag auf dem grünen Höhenzug an der Weser. Es gibt wohl kaum ein treffenderes Bild, um die Widersprüchlichkeit der deutschen Energiewende zu illustrieren, bei der mindestens zwei Prozentsatz der Landesfläche mit Windanlagen bebaut werden sollen. Gestern noch wurden Bäume als Klimaretter gepflanzt, heute zählen nur noch Rotorblätter aus Kunststoff.
Die Windparkbefürworter argumentieren, dass hauptsächlich Brachflächen sowie durch Sturm oder Hitze vorgeschädigte Nadelholzareale bebaut würden. Tatsächlich aber fallen auch Buchenbestände. Die Erschliessung durch schwerlastfähige Transportwege sei nur vorübergehend, heisst es bei den Windkraft-Fans. Tatsächlich wird der Wald jahrelang von Baustellenverkehr beeinträchtigt, mit den Folgen langfristiger Bodenverdichtung und Bodenversiegelung. Die Initiative «Windpark-Reinhardswald-dagegen» erklärte: «Das sogenannte Schatzhaus der europäischen Wälder – ist auf Jahrzehnte ruiniert. Wir sind entsetzt.»
Mit hohem Tempo werden derzeit die Rodungsarbeiten vorangetrieben. Um «Deutschland aus dem Klammergriff der russischen Energieimporte zu befreien» – so der Wortlaut –, hat das bundesdeutsche Umweltministerium kürzlich den Bau von Windkraftanlagen in Landschaftsschutzgebieten gestattet. Zudem soll der Artenschutz abgeschwächt werden.
Der Krieg in der Ukraine bietet offensichtlich zahlreiche Möglichkeiten, bisher politisch umstrittene Vorhaben durchzubringen, wie etwa die Aufrüstung der Bundeswehr. Die Bundesregierung und die Windkraft-Interessengruppen nutzen die Gunst der Stunde, ihre megalomane Energiewende nunmehr rücksichtsloser gegen Bürger und Umwelt durchzusetzen.
Inszenierte Natur
Während der echte, historisch gewachsene Märchenwald vor der Stadt abgeholzt wird, entstehen innerorts künstliche Ersatzobjekte. So streitet die Kasseler Bürgergesellschaft seit Monaten um die Neugestaltung des Brüder-Grimm-Platzes, die in Form eines «Märchenwaldes» aus Kiefern und Gebüsch konzipiert ist – wobei bestenfalls ein lichter Miniaturwald auf einer Verkehrsinsel herauskommen kann.
Im Kasseler Grimm-Museum – der «Grimmwelt» –, das im Sommer wieder Documenta-Standort sein wird, hat man bereits einen künstlichen Wald eingebaut, dessen Dornhecken-Atmosphäre durch jene grünen und vertikal angeordneten Bürsten erzeugt wird, die man aus Autowaschanlagen kennt. Selbst in diesen lokalen Ereignissen wird ein Mega-Trend unserer Zeit sichtbar: die Entsinnlichung und mediale Filterung unseres Erlebens. Natur wird zunehmend inszeniert und irreal. Stadtwäldchen statt Urwald, künstliche Welten statt Natur, während die Landschaft draussen immer unwirtlicher wird und ihr Gesicht verliert.
In den Märchen der Brüder Grimm, die sie den hessischen Dorfbewohnern ablauschten und die heute zum Weltkulturerbe der Unesco zählen, ist der Wald ein zentraler, immer wiederkehrender Schauplatz, wo sich wundervolle, aber auch schreckliche Dinge ereignen, wo Menschen auf Naturgeister, Räuber und Hexen treffen und dabei allerlei Prüfungen ausgesetzt sind.
Im Reinhardswald befindet sich nicht nur die weithin als «Dornröschenschloss» bekannte Sababurg, sondern auch ein historischer Tierpark, ein sich selbst überlassenes Urwaldareal und etliche jahrhundertealte Eichen. Die rund 200 Quadratkilometer grosse geschlossene Waldfläche ist für die Artenvielfalt von grosser Bedeutung, sie beherbergt etwa seltene Wildkatzen und Populationen weissen Rotwildes oder gilt als «Trittstein»-Biotop für wandernde Luchse.
In diesem Frühjahr haben die nordhessischen Behörden der Errichtung eines Windparks mit mindestens achtzehn 240 Meter hohen Windanlagen mitten in diesem Waldgebiet zugestimmt, was weithin Bestürzung ausgelöst hat.
Die waldreiche und ländlich geprägte Region um Kassel, wo in diesem Jahr wieder die Weltkunstausstellung Documenta stattfindet, setzt eigentlich traditionell auf die touristische Vermarktung als «Märchenland» und wird von der «Deutschen Märchenstrasse» erschlossen. Auch bei Touristen aus Übersee, besonders bei Asiaten, kam das in der Vergangenheit gut an. Ebenso lieben die Einheimischen ihren Wald: Kasseler Kinder schickt man gerne in den «Waldkindergarten», sportliche Menschen steuern den «Kletterwald Kassel» an, und im «Waldladen» deckt man sich mit regionalen Wildspezialitäten ein.Selbst die zeitgenössische Kunst widmet sich in Kassel traditionell dem Thema Wald: Als legendär gilt Joseph Beuys’ Aktion «Stadtverwaldung», bei der er 7000 Bäume, grossenteils Eichen, im Stadtgebiet pflanzen liess. In Anlehnung an diese Aktion machten sich im vergangenen Herbst Mitglieder der diesjährigen Documenta-Leitung Ruangrupa in den Reinhardswald auf, um dort Eichen zu pflanzen.
Die umweltbewussten und sozial engagierten indonesischen Kuratoren wollten dazu beitragen, «einen klimastabilen Wald von morgen» anzulegen. Mit einem sogenannten Nachhaltigkeits-Euro, der auf das Documenta-Ticket aufgeschlagen wurde, soll die Aufforstung finanziert werden. Ein vergleichbares Wald-Projekt unterstützt Ruangrupa auf Sumatra, wo Tieflandregenwälder erforscht und geschützt werden sollen.
Kunststoff statt Bäume
Umso mehr verwundert nun der Kahlschlag auf dem grünen Höhenzug an der Weser. Es gibt wohl kaum ein treffenderes Bild, um die Widersprüchlichkeit der deutschen Energiewende zu illustrieren, bei der mindestens zwei Prozentsatz der Landesfläche mit Windanlagen bebaut werden sollen. Gestern noch wurden Bäume als Klimaretter gepflanzt, heute zählen nur noch Rotorblätter aus Kunststoff.
Die Windparkbefürworter argumentieren, dass hauptsächlich Brachflächen sowie durch Sturm oder Hitze vorgeschädigte Nadelholzareale bebaut würden. Tatsächlich aber fallen auch Buchenbestände. Die Erschliessung durch schwerlastfähige Transportwege sei nur vorübergehend, heisst es bei den Windkraft-Fans. Tatsächlich wird der Wald jahrelang von Baustellenverkehr beeinträchtigt, mit den Folgen langfristiger Bodenverdichtung und Bodenversiegelung. Die Initiative «Windpark-Reinhardswald-dagegen» erklärte: «Das sogenannte Schatzhaus der europäischen Wälder – ist auf Jahrzehnte ruiniert. Wir sind entsetzt.»
Mit hohem Tempo werden derzeit die Rodungsarbeiten vorangetrieben. Um «Deutschland aus dem Klammergriff der russischen Energieimporte zu befreien» – so der Wortlaut –, hat das bundesdeutsche Umweltministerium kürzlich den Bau von Windkraftanlagen in Landschaftsschutzgebieten gestattet. Zudem soll der Artenschutz abgeschwächt werden.
Der Krieg in der Ukraine bietet offensichtlich zahlreiche Möglichkeiten, bisher politisch umstrittene Vorhaben durchzubringen, wie etwa die Aufrüstung der Bundeswehr. Die Bundesregierung und die Windkraft-Interessengruppen nutzen die Gunst der Stunde, ihre megalomane Energiewende nunmehr rücksichtsloser gegen Bürger und Umwelt durchzusetzen.
Inszenierte Natur
Während der echte, historisch gewachsene Märchenwald vor der Stadt abgeholzt wird, entstehen innerorts künstliche Ersatzobjekte. So streitet die Kasseler Bürgergesellschaft seit Monaten um die Neugestaltung des Brüder-Grimm-Platzes, die in Form eines «Märchenwaldes» aus Kiefern und Gebüsch konzipiert ist – wobei bestenfalls ein lichter Miniaturwald auf einer Verkehrsinsel herauskommen kann.
Im Kasseler Grimm-Museum – der «Grimmwelt» –, das im Sommer wieder Documenta-Standort sein wird, hat man bereits einen künstlichen Wald eingebaut, dessen Dornhecken-Atmosphäre durch jene grünen und vertikal angeordneten Bürsten erzeugt wird, die man aus Autowaschanlagen kennt. Selbst in diesen lokalen Ereignissen wird ein Mega-Trend unserer Zeit sichtbar: die Entsinnlichung und mediale Filterung unseres Erlebens. Natur wird zunehmend inszeniert und irreal. Stadtwäldchen statt Urwald, künstliche Welten statt Natur, während die Landschaft draussen immer unwirtlicher wird und ihr Gesicht verliert.
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