Verzerrt, übertrieben, umgedeutet – wie Russlands Fernsehen geschickt die Mär von «Wir sind die Guten» verbreitet (NZZ)
Russische Staatsmedien erzählen von Barbaren in der Ukraine, die die friedliche Bevölkerung als menschliche Schilde missbrauchen würden – und viele in Russland sprechen solche Sätze voller Überzeugung nach. Warum? 28.05.2022
Ein
«Großsereignis», ein «wichtiger Erfolg», ein «Tag des Sieges»: Als
ukrainische Kämpfer des Asow-Bataillons sich vor einer Woche auf dem
zerbombten Gelände des Asowstal-Werkes in Mariupol ergeben, lässt keine
Sendung im russischen Staatsfernsehen diese «langerwartete
Veranstaltung» aus.
Jede
Talkshow, jede Nachrichtensendung zeigt die Gesichter der Männer in
Grossaufnahme, zeigt, wie diese sich teilweise bis auf die Unterhose
ausziehen müssen, damit klar ersichtlich werde, mit wem es die Reporter
an der Seite der russischen Soldaten zu tun hätten: mit «Nazis», den
«schlimmsten Mordgesellen mit Totenköpfen und Runen auf der Haut», denen
«Seele und Ideen» fehlten. «Widerstand ist unnötig, Kapitulation ist
zwingend», heisst es im TV-Sender Rossija 1.
«Wir gegen sie»
Über
mehrere Tage hinweg senden die Kanäle ihre «Erfolgsgeschichte», die das
Ziel untermalen soll, das Nachbarland zu «entnazifizieren», wie es der
russische Präsident Wladimir Putin für den Überfall der Ukraine ausgab
und diesen zynisch als «militärische Spezialoperation» zu nennen befahl.
Russische
Soldaten stellt das Staatsfernsehen als lebensrettende Friedensengel
dar, für die Zerstörung der Städte macht es die Ukrainer verantwortlich
und wirft dem Westen vor, «Krieg» gegen Russland zu führen. Es dominiert
das «Wir gegen sie», auch Nachrichtensprecherinnen sagen zum Ende ihrer
Sendungen zuweilen: «Der Sieg wird unser sein.»
Der Ton ist seit Jahren schrill und wird immer radikaler. Alles wird umgedeutet, so dass es am Ende der Westen ist, der Krieg führt, der für die Nahrungsmittelknappheit in der Welt verantwortlich ist und die Zivilbevölkerung tötet. Die Moderatoren erklären, ohne die Miene zu verziehen, dass Russland «unbesiegbar» sei, und zeigen, in welcher «Hölle» der «totalitäre Westen» lebe: Die Preise stiegen, das Milchpulver gehe aus, das Sonnenblumenöl sei nicht mehr in den Geschäften zu finden.
Das Leben sei so fürchterlich, dass «Familien mit russischen Wurzeln» sich – «richtig so» – in Richtung Russland aufmachten. «Eure Kinder werden euch dankbar sein, dass sie niemals im Westen werden studieren können», so sagt es Margarita Simonjan, die Chefin des Auslandssenders RT, in einer Abendsendung bei Rossija 1 und lächelt schelmisch.
Mit Übertreibungen, Verzerrungen, Hinzufügungen, ja bewussten Manipulationen erzählt das Staatsfernsehen Stunde um Stunde, Tag für Tag die immer gleiche Geschichte: Das barbarische nationalistische ukrainische Regime missbrauche die friedliche Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, um im Namen Amerikas, das der gesamten westlichen Welt seine Lebensbedingungen diktiere, das einzigartige Russland in die Knie zu zwingen.
Russland, so das einfache und geschickt verpackte Narrativ, sei von russophoben Feinden umstellt, aber es sei moralisch und auch militärisch stark genug, all diese «billigen, liberalen Angriffe» abzuwehren – weil Russland voller Liebe und Weisheit sei. Damit dieses Narrativ greift – und das tut es trotz hanebüchen wirkenden Argumenten –, gibt der Staat drei Mal mehr Geld für seine Medien aus als im Jahr zuvor. Laut russischem Finanzministerium zahlte er dafür allein im März umgerechnet 170 Millionen Franken.
Der Elefant im Raum
Die Machart der Propaganda funktioniert ein wenig so wie das südasiatische Gleichnis «Die blinden Männer und der Elefant». Darin berührt ein Blinder den Rüssel und sagt: «Der Elefant ist weich wie ein Fächer.» Der zweite berührt den Schwanz und sagt: «Der Elefant ist dünn wie ein Seil.» Der dritte berührt ein Bein und sagt: «Der Elefant ist rund wie ein Pfosten.» Jeder von ihnen erfasst nur einen Teil des Ganzen, jeder von ihnen hat auf seine Weise recht. Einen Elefanten beschreiben sie aber nicht. So zeigt das russische Staatsfernsehen immer nur jenen Ausschnitt der Realität, der dem Kreml passt. Das ist seine Aufgabe.
Es sind vor allem staatliche oder staatsnahe Medien, die die Berichterstattung dominieren und Vertrauen geniessen. 90 Prozent der Bevölkerung, so hat es das unabhängige Umfrageinstitut Lewada-Zentrum in Moskau ausgerechnet, informieren sich vorwiegend übers Fernsehen. In vielen russischen Haushalten läuft der Fernseher permanent. Kritiker der Staatspropaganda nennen das Gerät «Zombie-Kiste».
Wer die Macht über die Medien hat, hat auch die politische Macht im Staat, so war das bereits zu Sowjetzeiten, und so wurde es auch in den 1990ern gepflegt, wenn auch mit anderen Mitteln. Oligarchen schufen ganze Medienimperien und bekämpften sich untereinander über die Verbreitung von Informationen. Dennoch schuf das eine gewisse Vielfalt in der Medienlandschaft der 1990er Jahre.
Hämische Satire und Kritik an den Regierenden gehörten zum Programm. Auch unabhängige Medien übten offen Kritik am Staat, ohne gerichtlich dafür belangt zu werden, wie es heute meist der Fall ist. Mit dem Machtantritt Putins änderte sich auch die Medienpolitik im Land. Die Zerschlagung des Senders NTW zeigt, wie der Staat nach und nach unterschiedliche Informationskanäle auf Linie zu trimmen versucht.
1993 von dem früheren Theaterregisseur Wladimir Gusinski gegründet, der bereits während der Perestroika mit Kleidern handelte und später mit Finanzgeschäften reich wurde, galt NTW als Leuchtturm journalistischer Berichterstattung. Auch der Radiosender Echo Moskwy, bis zur Schliessung im März eine der wenigen kritischen Stimmen im Land, gehörte zu Gusinskis Medienholding.
Wenige Tage nach Putins Amtseinführung als Präsident im März 2000 stürmten maskierte Männer mit automatischen Waffen die Redaktionsräume des Senders. Gusinski wurde angeklagt, staatliche Mittel veruntreut zu haben, und zum Verkauf seines Medienunternehmens gezwungen. Seither lebt er in Israel im Exil. Die Kontrolle übernahm der Staatskonzern Gazprom. NTW verbreitet nur noch Nachrichten, die vom Staat als genehm eingestuft werden.
«Höllische Psychotherapie»
Genau so wie der Sender ORT, der einst dem Oligarchen Boris Beresowski gehörte. Heute heisst dieser Erster Kanal und ist Teil der Nationalen Mediengruppe von Juri Kowaltschuk, der zuweilen als «Putins Kreditkarte» bezeichnet wird. Über die Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft (WGTRK), die Dritte im Bunde der Medienholdings, die das Hohelied des Kremls singen, werden vor allem die Regionen bedient.
Die Gleichschaltung der Medien macht es den Menschen im Land nicht einfach, an unabhängige Informationen zu gelangen. Zumal Russlands willfährige Justiz alles dafür tut, kritischen Nischenprodukten den Garaus zu machen. Sie erklärt diese Medien, die meist nur online erscheinen können, nicht nur zu «ausländischen Agenten» und raubt ihnen dadurch die Werbekunden, sondern erschwert auch einzelnen Journalisten den Alltag mit diesem Etikett.
Das Hinterfragen der offiziösen Darstellung gilt mittlerweile schnell als Fake und kann mit bis zu fünfzehn Jahren Haft bestraft werden. Viele unabhängige Journalisten berichten seit März aus dem Exil über ihr Land. Gegen die Giganten des Staates kommen sie mit ihren Streams bei Youtube allerdings kaum an.
Und so könnten die staatlichen Sender in aller Ruhe ihre «höllische Psychotherapie» betreiben, wie der russische Autor Dmitri Gluchowski den Zweck der staatlichen Berichterstattung bezeichnet. Sei ein Mensch im wahren Leben gedemütigt und machtlos, so jubele ihm der Staat ein Gefühl für die Grossartigkeit der russischen Nation unter.
Sei er frustriert und verbittert, so verweise man ihn auf ein Objekt, auf das er seine Wut richten könne. Erlebe er Unsicherheit und Angst, so erkläre ihm der Kreml die Teilnahme an einer grossen Mission, die sein Leiden und seine Entbehrungen rechtfertige. Die Fernsehpropaganda wird so zu etwas Religiösem. Deshalb wohl sagen viele Russen: «Ich weiss vieles nicht, aber ich will es glauben.»
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