Analyse von Prof. Dr. Sönke Neitzel, deutscher Historiker mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte. Deutschland erhält gerade die Quittung für 20 Jahre Moral-Politik (Focus-Online)
Obwohl Deutschland recht beachtliche Waffenlieferungen an die Ukraine versprochen hat, steht es im Zentrum der internationalen Kritik. Wir erhalten gerade die Quittung für 20 Jahre Moralisierungs-Außenpolitik. Und der deutsche Fehler in Bezug auf Russland lag darin, sich nie auf das „what if“ vorbereitet zu haben.
Es waren große Worte, die Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag wählte. Er sprach von einer Zeitenwende und man könnte meinen, dass der Worte auch Taten folgten: Deutschland versucht, sich aus der Abhängigkeit von russischer Kohle, Öl und Gas zu lösen. Deutschland liefert Waffen, auch schwere. Und die kaputtgesparte Bundeswehr soll wieder kriegsbereit werden.
Im Vergleich zu der Zeit vor dem 24. Februar, als sich niemand für die Bundeswehr interessierte und die SPD beim Thema Nord Stream 2 noch von einem privatwirtschaftlichen Projekt fabulierte, mögen diese Schritte bemerkenswert sein. Aber: Ist das wirklich eine Zeitenwende, also eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik?
Kanzler Scholz rief die Zeitenwende aus - doch Zweifel sind angebracht
Zweifel sind angebracht, denn so viel Neues kann man bei einem genauen Blick auf die Dinge nicht erkennen. Die Bundesrepublik war nämlich nie eine pazifistische Macht. Sie beteiligte sich 1999 erstmals an einem Kampfeinsatz der NATO – dem Luftkrieg gegen Serbien. Damals war man bereit, eine Grenze zu überschreiten, allerdings nur nach massivem Druck der Vereinigten Staaten. Und: Deutschland orientierte sich bei der Dimensionierung des eigenen Militäreinsatzes an dem, was die anderen europäischen Partner machten.
Ähnlich war es in Afghanistan: Berlin machte mit, war beim Einsatz von Kampftruppen zurückhaltend, versuchte zugleich nicht zu sehr hinter den Bündnispartnern zurückzufallen.
Zögern, zaudern und ein gerütteltes Maß an realpolitischer Verweigerung war seit der Wiedervereinigung ein Muster deutscher Sicherheitspolitik. Aber man kann nicht davon sprechen, dass Deutschland nichts tat. Neben dem „Nie wieder“ war das „Nie wieder allein“ die zweite Maxime deutscher Außenpolitik. Beides schloss sich zuweilen beinahe aus und deshalb reihte man sich sicherheitspolitisch meist hinten oder allenfalls in der Mitte ein, um ja nicht in eine Führungsrolle zu kommen, die dann auch mehr Taten verlangt hätte.
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