02 Mai 2022

Die "Letzte Generation" kämpft gegen die Aufklärung (NZZ)

Es ist sicherlich schwer zu verstehen, warum die Polizei  zeitintensiv Menschen befreit, die sich selber festgekettet oder festgeklebt haben, anstatt durch Umleitungen den Verkehrsfluss sicherzustellen und die Straftäter in ihrem selbst gewählten Zustand nach dem Motto zu belassen: "Den Freiwilligen geschieht kein Unrecht". Antwort: Weil das, um mich vorsichtig auszudrücken, politisch nicht korrekt wäre...
Dazu:
Radikale Klimaschützer legen den Verkehr lahm, riskieren Unfälle und sabotieren die Energieversorgung. Es ist an der Zeit, den politischen und medialen Applaus für Verächter der Demokratie einzustellen.
Alexander Kissler, Berlin
, 29.04.2022
Die Flagellanten sind zurück. Anders als im Mittelalter geißeln sie sich nicht im buchstäblichen, wohl aber im übertragenen Sinn. Sie treten in den Hungerstreik, schränken ihren Konsum ein oder kleben sich auf Autobahnen fest. Neuerdings sabotieren sie auch Pipelines, durch die Erdöl fliesst. Sie nennen sich «Die Letzte Generation», weil sie wie im Mittelalter das Ende der Zeit gekommen sehen. In ihrer Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Machtanmassung und Gewaltbereitschaft sind diese radikalen Klimaschützer keine Bereicherung, sondern eine Gefahr für die Demokratie. Es ist nötig, solchen Aktivisten die gesellschaftliche Legitimation zu entziehen, statt ihnen politischen und medialen Geleitschutz zu gewähren.

An diesem Mittwoch debattierte der Deutsche Bundestag auf Antrag der drei Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne über die «gravierenden Folgen des Klimawandels». Den Anlass bot der aktuelle Bericht des IPCC, des Weltklimarats der Vereinten Nationen. Die Aktuelle Stunde wurde zum ambivalenten Schauspiel.

In der Tat wartet das dritte und letzte Kapitel des «Sechsten IPCC-Sachstandsberichts» mit dramatischen Erkenntnissen und beunruhigenden Szenarien auf. Die Treibhausgasemissionen steigen weiterhin. Sie müssten aber rasch und deutlich sinken, damit verhindert würde, dass Teile der Erde unbewohnbar werden. Ohne tiefgreifende Massnahmen und Einschränkungen, so der Bericht, ist der menschengemachte Klimawandel nicht zu stoppen.

Grandiose Selbstermächtigung

Insofern haben alle Abgeordneten recht, die mahnen, bei einer Klimaerwärmung um zwei Grad Celsius wären bis zu drei Milliarden Menschen von chronischem Wassermangel bedroht. Die «klimaneutrale Wirtschaft» verlange sowohl technologische Innovationen als auch individuelle Verhaltensänderungen.

Freilich lautet die entscheidende Frage in einem liberalen Rechtsstaat, ob der schonende Umgang mit den Rohstoffen auch die kostbarste Ressource überhaupt mit einschliesst, die Demokratie. Nichts ist gewonnen, wenn im Namen des Klimaschutzes ein autoritäres Moralregime ganz eigenen Rechts errichtet würde. Darauf laufen die Aktionen und Anschläge der «Letzten Generation» hinaus.

Deshalb ist es bedenklich, wenn im Bundestag das Narrativ bekräftigt wird, die gegenwärtig Lebenden zählten zu den «letzten Generationen, die den Klimawandel eingrenzen können und müssen». So formuliert es ein Parlamentarier der Linkspartei. Aus den Reihen der SPD erklang die Mahnung, den «Wettlauf mit der Zeit» nicht zu verlieren. Zeit ist jedoch das, was vergeht; der Mensch zieht gegen die Vergänglichkeit stets den Kürzeren.

Auch die Formel von der «Spirale der Selbstzerstörung», wie sie eine Grünen-Politikerin bemühte, hat einen destruktiven Unterton. Durch apokalyptische Rhetorik fühlen Aktivisten sich in einem Akt grandioser Selbstermächtigung zu vermeintlich alternativloser Notwehr aufgerufen. Dann greift das schnittige, aber falsche Motto, wonach Not kein Gebot und ergo keine Rechtstreue kenne.

Ein Eingriff in die Energieversorgung ist nicht gewaltfrei

In Frankfurt am Main blockierten Abgesandte der «Letzten Generation» unlängst zwei Strassenbrücken, klebten sich auf dem Untergrund fest und verschütteten eine ölhaltige Flüssigkeit, die eine Radfahrerin stürzen liess und eine Behandlung im Krankenhaus nach sich zog. So sollte in der hessischen Metropole gegen Ölbohrungen in der Nordsee protestiert werden. Ähnliche Aktionen gab es zuvor in Berlin und Hamburg.

Die Aktivisten verkünden: Inmitten des «Klimanotfalls» hänge das Leben davon ab, ob sich jetzt «alles» ändere, «wir haben noch zwei bis drei Jahre, in denen wir den fossilen Pfad der Vernichtung noch verlassen können». Das öffentliche Leben soll gestört werden, damit die Regierungen drakonische Massnahmen erlassen, etwa sofort aus Kohle, Gas und Öl aussteigen. «Klimarevolution jetzt», lautet ein Slogan.

Eine weitere Stufe der Eskalation ereignete sich im nördlichen Brandenburg. Dort liess sich eine 19-jährige Aktivistin namens Lina von Journalisten begleiten und beobachten, wie sie über einen Zaun kletterte, ausgestattet mit Bolzenschneider und Sekundenkleber. Hinter dem Zaun machte sich Lina an zwei grossen Ventilen einer Pipeline zu schaffen. Den Transport von Erdöl wollte sie stoppen.

Spätestens an dieser Stelle ist der angeblich prinzipiell gewaltfreie Protest gewalttätig. Wie anders soll man den Eingriff in die Energieversorgung nennen? Gleiches gilt für Strassenblockaden, bei denen in Kauf genommen wird, dass Menschen nicht ihren Arbeitsplatz und Rettungswagen nicht das Spital erreichen. Und damit könnte keineswegs das Ende der Radikalisierung erreicht sein. Aktivisten drohen mit Anschlägen auf Baustellen und Autohäuser. Sie sagen: «Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.»

Die Bundesrepublik zum Stillstand bringen

Mit ihren 19 Jahren ist Lina ebenso wenig eine Ausnahme wie mit ihrem Bildungsstatus. Die Schule hat die junge Frau kurz vor dem Abitur abgebrochen. Den Klimaschutz hält sie für wichtiger. Bildung wird entbehrlich, wenn das offenbarte Wissen zum Handeln drängt.

Im Fernsehen erklärte einst ein 14-jähriges Mädchen, das «Fridays for Future» unterstützt, stolz, sie habe sich seit ihrem Engagement von einer Einser- zu einer Vierer-Schülerin entwickelt. Auch am Anfang des Wirkens von Greta Thunberg stand der Bildungsverzicht, verklärt zum «Schulstreik». Handelt es sich bei der «Letzten Generation» um eine späte Frucht der Bildungskatastrophe?

Den Aktivisten ist die Angst in die Glieder gefahren. Dass Angst kein guter Ratgeber sei, gilt hier nicht. Die Angst ist das entscheidende Motiv: Die «unfassbare Angst vor der Klimakrise», sagt der 22-jährige Simon, der im letzten Jahr in Berlin in den Hungerstreik trat, «war so viel grösser als die Angst vor dem Hungern».

Sein Mitstreiter Henning schrie Olaf Scholz, als dieser Ende 2021 designierter Kanzler war, bei einer Podiumsdiskussion entgegen, die Hälfte der Jugendlichen habe «tägliche Angstvorstellungen von der Zukunft in der Klimakatastrophe». Schrill setzte er hinzu: «Wir werden die Bundesrepublik zum Stillstand bringen, weil es nicht sein kann, dass der jungen Generation ihr Recht auf Leben abgesprochen wird.»

Nur noch Schwarz oder Weiss

Zu Angst und Selbstgerechtigkeit gesellt sich die Anmassung, diese «Letzte Generation» spreche für die gesamte junge Generation. Davon kann keine Rede sein. Viele junge Menschen treibt die Frage beispielsweise nach sozialer Sicherheit ebenso um. Und manche interessieren sich gar nicht für Klimapolitik.

Dennoch halten die Aktivisten auch in der Schweiz an der Illusion fest, eine Handvoll Engagierter sei die legitime Interessenvertretung einer ganzen Kohorte. Bei dem Bündnis «Renovate Switzerland», das einen nationalen Aktionsplan zur Gebäuderenovierung verlangt, erklärt ein Student, er habe «die Schnauze voll, der Vernichtung meiner Generation tatenlos zuzusehen». Ein Kellner bekräftigt, Störaktionen seien seine «ethische Pflicht», schliesslich werden «die Menschen wegen der globalen Erwärmung sterben».

Als Pflicht können der Eingriff in den Strassenverkehr und die Energieversorgung nur dann erscheinen, wenn die Welt auf manichäische Weise wahrgenommen wird, wenn es keine Grautöne gibt, sondern nur Schwarz oder Weiss. Darin besteht das wahre destruktive Potenzial von «Letzter Generation» und Co. Hier halten von Angst getriebene Menschen den Verzicht auf differenzierendes Denken für einen Gewinn, einen zivilisatorischen Rückfall also für einen anthropologischen Fortschritt. «Es ist ein Schwarz-Weiss an diesem Punkt», musste sich Olaf Scholz anhören, «mit den Molekülen lässt sich nicht verhandeln.»

Die «Letzte Generation» ist entschlossen, die Errungenschaften der Aufklärung durchzustreichen. An die Stelle von gemeinsamer Verständigung soll das rücksichtslose Handeln einer kleinen Schar treten, die nur sich selbst rechenschaftspflichtig ist. Wer den Aktivisten noch immer applaudiert, statt sie in die Schranken zu weisen, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

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