09 Mai 2022

Selenskyj: Leben in der Eindimensionalität (The Pioneer)

Business Class Edition:
Selenskyj: Leben in der Eindimensionalität (The Pioneer)
Montag, 09.05.2022
Guten Morgen,
so wie der gute Christ nach Rom pilgert, so reist der gute Demokrat in diesen Tagen nach Kiew. Sein Petersplatz heißt Maidan. Nur, dass er hier nicht mit ein paar Fürbitten davon kommt.

Der Gott von Kiew ist kein gütiger, sondern ein zürnender Gott. Er kann nur durch üppige Opfergaben besänftigt werden, weshalb das Drei-Gänge-Menü, das Deutschland ihm nun serviert, deutlich großzügiger ausfällt als zunächst geplant:

Die 5000 Helme der ersten Kriegstage waren nur ein Gruß aus der Küche, leichte Waffen folgten als Primi Piatti, bevor nun der in der Vorratskammer der Bundeswehr gereifte Gepard als Hauptgericht aufgefahren wird. Zum Dessert serviert der Küchenchef Variationen von humanitärer Hilfe, für all diejenigen, denen die bisherigen Gänge des Menüs nicht gut bekommen sind.

Doch auch dieses Aufgebot kann den Kriegsgott in Kiew nicht besänftigen. Er verlangt Umkehr und Sühne von all jenen, die bis vor Kurzem sich als Entspannungspolitiker zu erkennen gaben. Ihre Sünden wiegen schwer, weshalb der SPD-Bundespräsident – und Vorsicht: Schröder-Freund – seine Wallfahrt erst nach allerlei Vermittlungs- und Sühnearbeit wird antreten dürfen.

Man wirft Steinmeier stellvertretend für das Nach-Hitler-Deutschland vor, „den Russen“ nicht schon vorsorglich die Freundschaft gekündigt zu haben. Er hätte es ahnen müssen, spätestens seit der Besetzung der Krim. Seit Grosny. Seit Aleppo. Mit diesen Russen ist kein Frieden zu halten.

In Sachen Russenhass – das lässt sich nicht bestreiten – hatte das Hitler-Deutschland der Welt mehr – um nicht zu sagen, das Maximale – zu bieten. Eine der Weisung Nr. 21 vergleichbare „Geheime Kommandosache“, die das vom Reichskanzler postulierte Ziel enthielt, „Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“, ist seither nicht mehr verfasst worden. Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ scheiterte, aber auch seine Redensarten („Vergiss niemals, dass die Herrscher des heutigen Russland gewöhnliche blutbefleckte Verbrecher sind.“) wurden in der Bonner und später der Berliner Republik nicht weiter verfolgt.

Die Zusammenarbeit mit Russland, dem von deutschen Soldaten millionenfach geschändeten Nachbarn, wurde zur neuen deutschen Staatsräson. Aus Rivalen wurden Partner, aus Partnern wurden Freunde, so schien es zumindest.

Doch plötzlich gelten die Erfolge der deutschen Ostpolitik – als da wären die internationale Rüstungskontrolle, die Stärkung der Menschenrechte, die deutsch-deutsche Annäherung und schließlich die gewaltfreie Wiedervereinigung – nicht mehr als Erfolge, sondern als Vorbereitung zum Verrat. Auch die wirtschaftlichen Austauschbeziehungen – einst zum „beiderseitigen Vorteil“ verabredet, wie man damals sagte – stehen nun im fahlen Lichte da.

Sie haben eben auch Putins Kriegskasse gefüllt. Sie haben, der Terminus vom beiderseitigen Vorteil enthüllt es, ihm und uns zeitgleich genutzt. Anders, aber das nur nebenbei, lassen sich in einer liberalen Wirtschaftsordnung keine Geschäfte machen.

Diese nunmehr im Blitzlicht des Krieges vorgenommene Nachbelichtung der jüngeren deutsch-russischen Geschichte speist den Furor des Wolodymyr Selenskyj. Seine Weltsicht – das ist der tiefere Sinn der Pilgerfahrten – soll nun auch die unsrige werden. Wir sollen nicht nur mit ihm in den Krieg ziehen, was wir längst tun und trotz aller Risiken auch tun müssen. Wir sollen mit Hurra in den Krieg ziehen, wogegen sich eine kleiner werdende Koalition der Unwilligen noch sperrt.

Denn hier genau liegt der Unterschied. Unterstützt der Westen den Freiheitskampf der Ukrainer – was seine Pflicht ist – oder erklärt er Russland den Krieg, was eine große Torheit wäre? Will er Putins Armee zurückdrängen oder will er ihn selbst erledigen? Will er den begrenzten oder den totalen Krieg? Suspendiert er seine Beziehungen zum Aggressor oder suspendiert er mit einem Federstrich auch die Idee einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland?

Das Leben in der politischen Eindimensionalität – das genau lässt sich am Beispiel des Mannes in Kiew studieren – ist medial erfolgversprechender. Die Zutaten sind aus anderen Ländern und Zusammenhängen bekannt: Eine Twitter optimierte Sprache, die öffentliche Rede als Plot Point einer Netflix-Serie und – nicht zu unterschlagen – die konsequente Reduktion von Komplexität.

Gemäß dieser Lernerfahrung baden nun auch deutsche Parteifunktionäre in der Pfütze der Tagespolitik, die sie selbst als Ozean der Weltgeschichte empfinden. Die Hochstapelei gehört seit jeher zum Handwerkszeug, das medial belohnt wird. Anton Hofreiter weiß, was hier gemeint ist.

Er ist ein early adopter; früh schon hatte er von Greta Thunberg auf Carl von Clausewitz umgeschult. Wir lernen: Wer den Schaum früher von links geschlagen hat, schlägt ihn bei Bedarf auch von rechts.

Die Fernsehanstalten reagieren euphorisiert auf die allgemeine Überreiztheit und befördern das, was Stefan Zweig einst den „Aufpeitschungsdienst“ nannte. Die Corona-Staffel zog ohnehin nicht mehr so richtig. Nach der Pandemie ist vor dem Weltkrieg, weshalb nun die Gesichtszüge in den TV-Tribunalen, das verstehen alle, die als Statisten im Schultheater ihre Rolle zugewiesen bekamen, ins Grimmig-entschlossene verändert werden müssen.

Das apokalyptische Potenzial wird ausgereizt; Putins Sonderoperation mit einer Serie von Sondersendungen erwidert. Und am Ende jeder Redaktionssitzung stellt sich die choreografisch knifflige Frage: Sitzt der ukrainische Botschafter Melnyk heute leibhaftig im Studio oder wird er wieder nur zugeschaltet?
Ansonsten aber legt sich der rote Faden wie eine Schlinge um unseren Hals: Der Putin. Der Krieg. Der Russe.
Jeden Tag eine Zeitenwende. Jede Woche eine Zäsur.
Nur am Abspann der neuen Reality Soap muss noch gearbeitet werden. Der Deutschen Post AG in Bonn gebührt eine lobende Erwähnung, ist sie doch die große Verliererin. Alle verschicken offene Briefe – und keiner zahlt Porto.

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