Herr Kujat, in einem Memorandum,
das Sie zusammen mit Justus Frantz, Bruno Redeker und Horst Teltschik
veröffentlicht haben, fordern Sie die Politik auf, alle Möglichkeiten zu
nutzen, um einen dritten „Großen Krieg“ zu verhindern. Was konkret
sollte die Bundesregierung tun – und was unterlassen?
Wir appellieren an die Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die
Zerstörung des Landes zu beenden und die Ausweitung des Krieges in der
Ukraine zu einem europäischen Krieg zu verhindern. Die Hauptakteure in
diesem Krieg sind nicht die Ukraine und Russland, sondern Russland und
die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben den Schwerpunkt
ihrer Strategie geändert: Center of Gravity ist nicht mehr Schutz und
Beistand der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den völkerrechtswidrigen
Angriff Russlands, sondern Russland als geopolitischen Rivalen
nachhaltig zu schwächen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd
Austin hat Ende April bei einem Besuch in Kiew erklärt,
dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen,
dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat,
nicht mehr tun kann“. Dieses strategische Umdenken – wenn es denn
überhaupt ein solches ist – macht eine Verhandlungslösung noch
dringender.
Wie aber bewerten Sie das Handeln der Bundesregierung? Besonders Kanzler Olaf Scholz steht in der Kritik.
Bundeskanzler Scholz
hat bisher unter sorgfältiger Berücksichtigung der deutschen
Sicherheitsinteressen verantwortungsbewusst gehandelt. Besonnenheit und
Verantwortungsbewusstsein als Unentschlossenheit und Führungsschwäche zu
bezeichnen, ist ganz und gar unredlich. Der Bundeskanzler hat das
Format, die amerikanische Regierung gemeinsam mit Präsident Macron zu
einer Verhandlungslösung zu bewegen. So wie Helmut Schmidt gemeinsam mit
dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing und dem britischen
Premier James Callaghan Anfang Januar 1979 Präsident Jimmy Carter
überzeugte, die europäischen Sicherheitsinteressen bei der
Rüstungskontrolle nuklearer Waffensysteme zu respektieren. Was die
Bundesregierung in jedem Fall unterlassen sollte, ist jede Form verbaler
Aufrüstung! Sie sollte das auch nicht dulden.
Sie fordern, es müsse Gespräche geben und „existenzielles
Vertrauen“, aber lässt sich wirklich mit dem russischen Präsidenten noch
ernsthaft verhandeln, wo er alle Vereinbarungen gebrochen hat? Und wer
sollte Vermittler sein?
Nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes
gab es mehr als ein Jahrzehnt lang eine Phase der politischen
Abstimmung und militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und der
Nato. Die Schaffung militärischer Transparenz und politischer
Berechenbarkeit haben in der Tat zu einem existenziellen Grundvertrauen
beigetragen. Es ist hier nicht der Ort, zu erklären, wie und warum
dieses beiderseitige Vertrauen verspielt wurde. Jedenfalls lässt es sich
nicht ohne weiteres wieder herstellen. Aber es gibt offensichtlich ein
Interesse der Vereinigten Staaten und Russlands, zu vermeiden, dass der
Ukrainekrieg zum Katalysator einer direkten militärischen Konfrontation
der beiden nuklearstrategischen Großmächte wird. Daraus müsste
eigentlich die Einsicht erwachsen, dass dies in erster Linie durch
Verhandlungen vermieden werden kann.
Wie kann es denn zu dieser von Ihnen favorisierten Verhandlungslösung kommen?
Eine Lösung können nur die beiden Hauptakteure in diesem Krieg finden
– Russland und die Vereinigten Staaten. Verbale Entgleisungen sind da
wenig hilfreich. Aber Europa könnte sehr wohl seine
Sicherheitsinteressen klarer und deutlicher artikulieren, dort, wo es
Einfluss hat.
Halten Sie Wladimir Putin für einen Kriegsverbrecher?
In diesem Krieg finden schreckliche Verbrechen statt, Butscha ist dafür ein Beispiel. Derjenige, der für diesen Krieg verantwortlich ist, trägt auch dafür die politische Verantwortung.
Die nukleare Abschreckung, die „Zweitschlagskapazität“,
habe bisher einen Weltkrieg verhindert, aber dieses „Gleichgewicht des
Schreckens“ sei „hochgradig instabil“, schreiben Sie. Worin besteht die
Instabilität, und was muss also passieren?
Ich halte das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen Russland und
den Vereinigten Staaten aufgrund der beiderseits gesicherten
Zweitschlagsfähigkeit noch für stabil. Allerdings beruht dieses
Gleichgewicht auf der Synergie aus offensiven und defensiven
Waffensystemen in Verbindung mit stabilisierenden
Rüstungskontrollvereinbarungen. Die einseitige Kündigung des
ABM-Vertrages 2001 durch die Vereinigten Staaten, während gleichzeitig
amerikanische Systeme im Rahmen des Nato-Abwehrsystems gegen
ballistische Systeme in Europa stationiert wurden, betrachtet Russland
als Veränderung des amerikanisch-russischen Gleichgewichts zu seinen
Lasten. Ein weiteres Risiko ist die Entwicklung von Hyperschallwaffen,
die die Zweitschlagsfähigkeit beider Staaten schwächen könnten. In
grundsätzlicher Weise haben wir das in unserem Memorandum des Arbeitskreises der Weizsäcker-Gesellschaften formuliert.
Ist das nukleare Gleichgewicht so stabil, dass es eine große Eskalation vermeiden kann?
Stabilität
zwischen den beiden großen Nuklearmächten bedeutet nicht, dass damit
das Risiko eines auf Europa begrenzten Nukleareinsatzes ausgeschaltet
ist. Im Gegenteil. Sollte Russland der Überzeugung sein, dass ein
Einsatz russischer nuklearer Kurzstreckenraketen keine Reaktion der
Vereinigten Staaten mit Interkontinentalraketen gegen Russland auslöst,
wäre das Risiko eines nuklearen Ersteinsatzes
für Russland begrenzbar. Deshalb sollte es Anlass zu größter Besorgnis
sein, dass der ehemalige Präsidentenberater Jelzins und Putins,
Karaganow, kürzlich erklärte: „Ich weiß auch aus der Geschichte der
amerikanischen Nuklearstrategie, dass die Vereinigten Staaten Europa
wahrscheinlich nicht mit Nuklearwaffen verteidigen werden.“ Es liegt
also essentiell im europäischen Interesse, eine Entwicklung des
Ukrainekrieges zu verhindern, die uns dieser Gefahr aussetzt.
Ist es richtig, dass Deutschland – angesichts des Grauens in der Ukraine – auch schwere Waffen an die Ukraine liefert?
Deutschland hat vor dem Ukrainekrieg sehr viel für die Ukraine getan
und steht dem Land auch jetzt nach besten Kräften bei. Der Begriff
„schwere Waffen“ trifft nicht den Kern des Problems. Wir liefern Waffen,
die sich für die Verteidigung der Ukraine eignen. Moderne Panzer und
Schützenpanzer werden aus guten Gründen auch nicht von den Vereinigten
Staaten geliefert. Das hängt damit zusammen, dass der optimale
Einsatzwert nur durch eine längere Ausbildung der Besatzungen und des
militärischen Führungspersonals erreicht wird. Nur im Zusammenwirken von
Waffensystemen, die die Schwächen eines Systems ausgleichen und Stärken
zur Geltung bringen, wird ein sinnvoller Einsatzwert erreicht.
Voraussetzung dafür sind moderne Kommunikationssysteme und eine längere
gemeinsame Übungsphase, um ein sicheres und effektives Zusammenwirken im
Kampf der verbundenen Waffen zu erzielen. Die modernen deutschen
Waffensysteme sind bereits in der Entwicklung für den Verbundeinsatz
optimiert. Man darf deshalb keine Erwartungen wecken, die weder von uns
noch von den ukrainischen Streitkräften erfüllt werden können. Denn das
Risiko, dass die Waffen in kurzer Zeit zerstört werden oder in russische
Hände fallen, ist groß, insbesondere, wenn die genannten
Voraussetzungen nicht gewährleistet sind. Ich gebe auch zu bedenken,
dass Maßnahmen, die das Eskalationsrisiko erhöhen
und zugleich unsere eigene Verteidigungsfähigkeit schwächen, ganz
offensichtlich nicht im Einklang mit unseren nationalen
Sicherheitsinteressen sind, sicherlich auch nicht im Interesse Europas.
Letztlich reiht sich Deutschland ein in das westliche
Bündnis. Halten Sie die massive Unterstützung der Ukraine durch die USA
für falsch?
Ich finde die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf richtig.
Aber sie darf kein Alibi für mangelnde Verhandlungsbereitschaft sein.
Die Verhandlungsmöglichkeiten, die wahrscheinlich den Krieg verhindert
hätten, wurden nicht ausgeschöpft. Auch die Chance, die sich aus dem
militärischen Patt und durch die Aufgabe der Umklammerung Kiews ergab,
wurde nicht für konstruktive Gespräche genutzt. Für falsch und
gefährlich halte ich den Strategiewechsel der Vereinigten Staaten,
gefährlich für Europa, nicht für die Vereinigten Staaten. Ich will
hinsichtlich möglicher Motive nicht spekulieren. Aber der
Strategiewechsel der Vereinigten Staaten ist ein großer Schritt hin zu
einer Verlängerung und weiteren Eskalation des Krieges.
Wie genau interpretieren Sie den Strategiewechsel?
Es stellt sich für mich die Frage nach der Logik dahinter: Wie weit
wollen die Vereinigten Staaten gehen, um Russland nachhaltig zu
schwächen? Aus der Erklärung des amerikanischen Verteidigungsministers
ist zu schließen, dass der Ukrainekrieg Anlass für eine wesentlich
weiter gehende Auseinandersetzung im Rahmen der geopolitischen Rivalität
der großen Mächte – USA, Russland und China – ist. Es würde zu weit
führen, an dieser Stelle über die wirtschaftlichen,
sicherheitspolitischen und militärischen Konsequenzen für Europa zu
sprechen. Was das für die Ukraine bedeutet, ist allerdings
offensichtlich.
Sie kennen die Ukraine gut. Ist es möglich, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Invasoren besiegen?
Der Berater des ukrainischen Präsidenten, Serhij Leschtschenko, hat
kürzlich in einem Interview erklärt: „Von einem Sieg der Ukraine zu
sprechen, entspricht nicht der Realität.“ Angesichts der enormen
Verluste und Zerstörungen, die die Ukraine erlitten hat und weiter
erleiden wird, halte ich es auch für abwegig, von Sieg oder Niederlage
zu sprechen. Ich glaube, dass beide Seiten Ihre Ziele nicht erreichen
können. Ich habe deshalb den Eindruck, dass die ukrainische Führung
erkannt hat, wie unausweichlich ein Verhandlungsfrieden ist. Sobald
beide Seiten bereit sind, dies anzuerkennen, entsteht eine neue Chance
für Verhandlungen.
Welcher Kompromiss wäre für beide Seiten tragbar?
Ein Kompromiss müsste festlegen, welchen Platz die Ukraine in einer
künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen soll.
Kompromissfähig wäre wohl eine konsolidierte Neutralität, die wir
bereits 2015 in unserer Denkschrift in Anlehnung an Henry Kissinger
angeregt haben, eine Regelung, dass die Ukraine weder zu einem Vorposten
der Vereinigten Staaten gegen Russland wird, noch umgekehrt. Die
ukrainische Regierung hat mehrfach ihre Bereitschaft erklärt, über einen
neutralen Status zu verhandeln. Darüber hinaus müsste eine Autonomie
für den Donbass vereinbart werden, so, wie es im Minsk-II-Abkommen
geregelt ist. So in etwa hat auch der erwähnte Selenskyj-Berater
argumentiert: „Wir sind bereit, die Neutralität mit Garantien – nicht
mit Zusicherungen, solche hatten wir im Budapester Memorandum
– zu erklären. Wir sind bereit, über einen Sonderstatus für die Krim
und für die vor diesem Krieg besetzten Gebiete zu diskutieren. Das
bedeutet, dass wir bereit sind, diese Angelegenheit auf diplomatischem
Wege zu regeln.“
Die Fragen stellte Volker Resing.
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