Am 26. September 2021 verhinderten nur eine Handvoll Fahrräder das Scheitern des demokratischen Prozesses in Berlin. Die Hauptstädter wählten nicht nur einen neuen Bundestag, sondern auch das Abgeordnetenhaus und neue Bezirksverordnetenversammlungen. Es sollte ein Festtag der Demokratie werden. Doch innerhalb weniger Stunden brach Chaos aus. Oft lag es nur an der Eigeninitiative der ehrenamtlichen Helfer – und ihren Fahrrädern –, dass überhaupt weitergewählt werden konnte.
Die Pannen sind auf mehr als 25.000 Seiten, die der Berliner Landesverfassungsgerichtshof derzeit auswertet, protokolliert. Die Bezirke hatten sie nach mehreren Klagen nur widerwillig an das Gericht übermittelt. Hunderte Helfer rügen in den Dokumenten die Schließungen von Wahllokalen während der Wahlzeit, lange Wartezeiten, fehlende, vertauschte und kopierte Stimmzettel sowie Wahlhandlungen nach 18 Uhr. WELT AM SONNTAG liegen die Aufzeichnungen vollständig vor. Sie belegen in ihrer Gesamtheit ein systematisches Scheitern, das nun sogar dazu führen könnte, dass ein Teil der Bundestagswahl wiederholt werden muss.
So gingen etwa um 13:35 Uhr in der Carl-Orff-Grundschule in Berlin-Charlottenburg die Stimmzettel aus. Bereits seit rund einer Stunde hatten die Wahlhelfer zu diesem Zeitpunkt verzweifelt versucht, das zuständige Wahlamt zu erreichen. Doch die Telefonleitung war überlastet, denn im Bezirk war es überall zu ähnlichen Pannen gekommen. Zu wenig Stimmzettel lagen aus, in vielen Lokalen dazu noch die falschen.
Irgendwann erreichten die Helfer einen Mitarbeiter im Bezirksamt. Er riet nach längerem Hin und Her, selbst ins Wahlamt zu fahren, um die Stimmzettel abzuholen. Das Problem: Das Taxi blieb im Verkehr stecken. Denn zeitgleich zu den Wahlen fand der Berlin-Marathon statt, weite Teile der Stadt waren deshalb abgesperrt. Letztendlich musste eine Wahlhelferin auf ihr Fahrrad steigen, um weitere Stimmzettel abzuholen. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis wieder gewählt werden konnte.
Ähnliche Geschichten trugen sich am Wahltag in unzähligen Berliner Wahlkreisen zu. In Dutzenden Wahllokalen standen noch nach dem eigentlichen Ende der Stimmabgabe um 18 Uhr lange Schlangen. Während sich Olaf Scholz (SPD) in der „Elefantenrunde“ der ARD bereits zum Wahlsieger erklärte, gaben in Berlin Wähler noch ihre Stimmen ab. Ein Umstand, der hätte verhindert werden müssen, um Wähler nicht zu beeinflussen. Das Landesverfassungsgericht wird in den kommenden Monaten entscheiden müssen, ob es die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklärt. Es wäre nach 1991 in Hamburg erst das zweite Mal, dass in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Landtagswahl wiederholt werden muss. Auch im Falle der Bundestagswahl droht für Berlin eine Wiederholung in sechs Wahlbezirken.
Bundeswahlleiter Georg Thiel plädierte am Dienstag im Wahlprüfungsausschuss im Bundestag dafür. Ihm sei das Chaos in der Hauptstadt „unverständlich”. Auch die Dokumentation der Geschehnisse sei „völlig unzureichend“. Der Verfassungsgerichtshof hatte bereits im Januar Prüfverfahren veranlasst. Bis Anfang der Woche musste die Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann zu 17 Kernfragen des Gerichts Stellung nehmen. Vor dem Wahlprüfungsausschuss im Bundestag versuchte sie, die Pannen kleinzureden: Alle Menschen hätten wählen können, „wenn sie gewartet hätten“.
Tatsächlich lassen die internen Dokumente aus den Wahllokalen an dieser Einschätzung zweifeln. Sie zeigen, dass es offenbar im großen Stil zur Verwechslung von Wahlunterlagen kam. In Friedrichshain-Kreuzberg lagen Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf – und andersherum. Das bedeutet: Wähler stimmten für Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis eigentlich nicht antraten. Nach Auffliegen der Fehler wurden Stimmen für ungültig erklärt, später in mehreren Wahllokalen per Rotstift doch wieder zu den gültigen Stimmen addiert. In anderen blieben die Stimmen dagegen laut den Protokollen ungültig. Auch in Wahllokalen in Steglitz und Tempelhof-Schöneberg kam es zu Verwechslungen: Hier wurden Stimmzettel aus einem falschen Wahlkreis ausgeteilt, was erst nach mehreren Stunden auffiel.
Etwa an der Rudolf-Dörrier-Grundschule in Pankow. Dort notierten Wahlhelfer: „Gegen 17 Uhr gingen die Zweitstimmen des Abgeordnetenhauses aus. (…) Es konnten für die restliche Öffnungszeit keine Stimmzettel für das Abgeordnetenhaus ausgegeben werden.“ Nach Schließung des Lokals hätten viele Wähler „vehement ihr Wahlrecht eingefordert“, das Bezirkswahlamt habe „wenig bis keine Unterstützung“ geleistet.
Offen ist, wie viele Wähler aufgrund der langen Schlangen oder nicht vorhandenen Wahlzettel am Ende ganz auf die Stimmabgabe verzichteten. Ein Wahlvorsteher aus dem Berliner Westen erinnert sich im Gespräch mit dieser Zeitung an den Frust: „Irgendwann wurden die Wähler ungeduldig und wütend. Als die Stimmung kippte, habe ich entschieden, Polizeischutz für die Wahlhelfer und mich anzufordern.“ In seinen 20 Jahren als ehrenamtlicher Wahlleiter habe er eine solche „systematische Überforderung“ noch nie erlebt.
Insgesamt gibt es in Berlin 15 Einsprüche gegen das Wahlergebnis. Einer kommt von dem früheren Abgeordneten und Spitzenkandidaten der Freien Wähler, Marcel Luthe. Seine Partei hatte mit 0,8 Prozent den Einzug in das Berliner Parlament deutlich verfehlt. Trotzdem kämpft Luthe um die Wiederholung der Wahl. Er ist der Ansicht, dass das aktuelle Abgeordnetenhaus durch die vielen Pannen aufgelöst und durch das alte Parlament wieder eingesetzt werden müsste.
Eine Wiederholung der Wahl in Berlin könnte schwerwiegende Folgen haben. Spricht man in Berlin mit Vertretern der Grünen und der CDU, geben sich diese betont entspannt. SPD und Linke müssen dagegen zittern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten bei einer Wahlwiederholung Stimmen verlieren und damit das Rote Rathaus einbüßen würden. Die Linkspartei könnte in der Theorie sogar aus dem Bundestag fliegen. Denn in Berlin holte sie in den Bezirken Treptow-Köpenick und Lichtenberg zwei von drei Direktmandaten – und konnte nur deshalb in den Bundestag einziehen.
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