25 Mai 2022

Wahlergebnis von 2021 auf der Kippe - Berlin: Letzter Ausweg Wahlwiederholung (Cicero)

Wahlergebnis von 2021 auf der Kippe

Berlin: Letzter Ausweg Wahlwiederholung (Cicero)
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages und das Berliner Landesverfassungsgericht beschäftigen sich jetzt vertieft mit der Bewertung der unglaublichen Wahlpannen am 26. September 2021 in der Hauptstadt. Vieles deutet auf eine zumindest teilweise Wiederholung der Wahlen für Bundestag und Landesparlament hin – mit möglicherweise dramatischen Folgen für die Bundespolitik.
VON RAINER BALCEROWIAK am 25. Mai 2022
Die Überprüfungen der Wahlen zum Deutschen Bundestag, dem Berliner Abgeordnetenhaus und den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September gehen in die entscheidende Phase. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hat am Dienstag mit der mündlichen Verhandlung über den Einspruch von Bundeswahlleiter Georg Thiel gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl am 26. September 2021 und zum Berliner Wahlgeschehen insgesamt begonnen. Der Bundeswahlleiter hatte am 19. November Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl in sechs Berliner Wahlkreisen eingelegt. 
„Systemisches Versagen“ 
Thiel hatte seinen Einspruch damit begründet, dass es am Wahlsonntag in einigen Berliner Wahlkreisen aufgrund von fehlenden oder falschen Stimmzetteln zu einer zeitweisen Schließung von Wahlräumen sowie aus anderen organisatorischen Gründen zu Schlangen vor Wahlräumen gekommen sei. Viele Wähler hätten nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Die Vorkommnisse haben aus Sicht Thiels wahlrechtliche Vorschriften verletzt und stellten deshalb Wahlfehler dar, die unter anderem den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes beeinträchtigt hätten. Zudem könnten die aufgetretenen Wahlfehler mandatsrelevant gewesen sein. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich ohne diese Vorkommnisse eine andere Sitzverteilung des Bundestages ergeben hätte. Thiel bekräftigte am Dienstag bei der Verhandlung seine Forderung nach einer Wiederholung der Wahl in den genannten Wahlkreisen. Es gehe nicht um einzelne Fehler, sondern um „systemisches Versagen“. Bei der Verhandlung wurden auch weitere, schlüssig dokumentierte grobe Verstöße erörtert. Etwa händisch kopierte Wahlzettel, Stimmabgaben bis 21 Uhr (also drei Stunden nach Schließung der Wahllokale) Pannen bei der Auszählung und Übermittlung der Ergebnisse u.v.a.m. 
Insgesamt gab es über 2000 Einsprüche gegen das Wahlergebnis, die meisten bezogen sich auf die Vorgänge in Berlin. Einer der Einsprüche wurde von Marcel Luthe eingereicht. Der Wirtschaftswissenschaftler war 2016 über die Landesliste der FDP in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. 2020 wurde er nach heftigen internen Auseinandersetzungen aus der Fraktion ausgeschlossen, wenig später verließ er die Partei und schloss sich den Freien Wählern an, für die er 2021 ohne Erfolg sowohl für das Abgeordnetenhaus als auch für den Bundestag kandidierte. 
Der Linken droht das Ende im Bundestag 
Die in dem Schriftsatz des Anwalts von Luthe detailliert aufgeführten Wahlfehler summieren sich demnach auf insgesamt bis zu 100.000 Stimmen in Berlin. Was angesichts der relativ knappen Abstände bei den Erststimmen in einigen Wahlkreisen möglicherweise zu einer Verfälschung des Wahlergebnisses geführt haben könnte. Doch das betrifft nicht nur die dort direkt gewählten Abgeordneten, sondern die gesamte Mandatsverteilung im Bundestag, für die das Zweitstimmenergebnis maßgeblich ist. Da scheinen 100.000 Stimmen in Relation zu bundesweit 60,4 Millionen Wahlberechtigten eine eher marginale Größenordnung zu sein. Beim Ergebnis dieser Bundestagswahl gab es allerdings eine besondere Konstellation. Denn die Linke scheiterte mit 4,9 Prozent der Zweitstimmen an der Fünfprozenthürde und wäre somit nicht mehr als Fraktion im Bundestag vertreten. Allerdings errang sie drei Direktmandate, davon zwei in Berlin. Für diesen Fall sieht das Wahlrecht vor, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate erhält, dennoch anhand ihres prozentuales Ergebnisses im Bundestag vertreten ist. Im Fall der Linken sogar als Fraktion, da sie aufgrund des komplizierten Verteilungsschlüssels für die Stimmen der bei der Wahl gescheiterten Parteien auf etwas mehr als 5% der Abgeordneten kommt. 
Eines der Direktmandate errang Gesine Lötzsch für die Linke im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg, mit 25,8% der Stimmen und einem Vorsprung von rund 8000 Stimmen vor der zweitplatzierten Kandidatin Anja Ingenbleek (SPD). Würde in diesem Wahlkreis erneut gewählt und verlöre Lötzsch dabei ihr Direktmandat, dann hätte das gravierende Folgen. Denn die Linke würde im Bundestag 37 ihrer 39 Sitze verlieren und wäre nur noch mit den zwei dann fraktionslosen, direkt gewählten Abgeordneten Gregor Gysi und Sören Pellmann vertreten. Ein Szenario, dass Luthe auf Cicero-Nachfrage für durchaus realistisch hält. Zum einen sei die Linke in der Wählergunst ohnehin auf Talfahrt, und außerdem sei es auch denkbar, dass es bei einer erneuten Wahl zu einer Art Stimmen-Bündnis gegen Lötzsch komme.    
Am Ende entscheidet der Bundestag über eine mögliche Wahlwiederholung. Wann das passiert, ist derzeit noch offen. Anschließend könnte noch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Dennoch geht Luthe davon aus, dass es noch in diesem Jahr zu einer endgültigen Entscheidung kommen wird. Denn weder der Bundestag noch die Bundesregierung könnten mit dem Makel agieren, dass erhebliche Zweifel an ihrer Legitimität im Raum stehen. 
In Berlin möglicherweise komplette Neuwahl 
In Berlin beschäftigt sich das Landesverfassungsgericht mit rund 30 Einsprüchen gegen das Wahlergebnis zum Landes- und zu den Bezirksparlamenten, wobei die Anfechtungen von Luthe eine wichtige Rolle spielen. Das Gericht überprüft die Originalunterlagen aller 2257 Wahllokale und hat die Landeswahlleiterin zu sehr detaillierten Stellungnahmen zu den einzelnen Vorwürfen aufgefordert. So wollen die Richter wissen, wie sichergestellt worden sei, dass nur solche Personen nach 18 Uhr noch wählen durften, die schon vor der eigentlichen Schließungszeit in der Schlange standen. Auch die Frage, wie für die nötigen Stimmzettel gesorgt wurde und wie die Stimmen gewertet wurden, die nicht auf den richtigen Stimmzetteln abgegeben worden waren, möchte das Gericht geklärt haben. Und es geht auch darum, wie viele Stimmen insgesamt und aus welchen Gründen als ungültig gewertet wurden. Anders als bei der Bundestagswahl könnte es in Berlin um eine Wiederholung der gesamten Wahl gehen. Aus Luthes Sicht kann es nicht sein, dass die Abgeordnetenhauswahlen nur in einzelnen, besonders knappen Wahlkreisen wiederholt werden. Da die Parteien in Berlin entweder mit Bezirks- oder mit Landeslisten antreten, habe es immer Auswirkungen auf andere bisher gewählte Politiker, wenn irgendwo eine andere Partei das Direktmandat gewinnt als bisher. Auch hier rechnet Luthe mit einer baldigen Entscheidung, möglicherweise noch in der parlamentarischen Sommerpause. Wenn diese dann eine Wahlwiederholung beinhaltet, kann das für Luthe nur eine Konsequenz haben. Bis zur rechtskonformen Wahl des 19. Berliner Abgeordnetenhauses könnten dann wieder die Abgeordneten des 18. Abgeordnetenhauses – zu denen er auch gehörte – ihre Mandate wahrnehmen. 
Wie der Bundestag und die Gerichte letztendlich über den Umgang mit der kaum fassbaren Kette von Rechtsverstößen bei den Wahlen in der deutschen Hauptstadt umgehen, muss man abwarten. Der Schaden für die Akzeptanz von Wahlen als Inbegriff der demokratischen Teilhabe ist bereits jetzt enorm. Zumal der Berliner Senat bislang die Antwort auf die Frage schuldig geblieben ist, wie derartige Vorkommnisse in der Zukunft ausgeschlossen werden können.

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