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Berlin: Letzter Ausweg Wahlwiederholung (Cicero)
Berlin: Letzter Ausweg Wahlwiederholung (Cicero)
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages und das Berliner
Landesverfassungsgericht beschäftigen sich jetzt vertieft mit der
Bewertung der unglaublichen Wahlpannen am 26. September 2021 in der
Hauptstadt. Vieles deutet auf eine zumindest teilweise Wiederholung der
Wahlen für Bundestag und Landesparlament hin – mit möglicherweise
dramatischen Folgen für die Bundespolitik.
VON RAINER BALCEROWIAK am 25. Mai 2022 Die Überprüfungen der
Wahlen zum Deutschen Bundestag, dem Berliner Abgeordnetenhaus und den
Berliner Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September gehen in die
entscheidende Phase. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hat am
Dienstag mit der mündlichen Verhandlung über den Einspruch von Bundeswahlleiter Georg Thiel
gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl am 26. September 2021 und zum
Berliner Wahlgeschehen insgesamt begonnen. Der Bundeswahlleiter hatte am
19. November Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl in sechs Berliner Wahlkreisen eingelegt.
„Systemisches Versagen“
Thiel hatte seinen Einspruch damit begründet, dass es am Wahlsonntag
in einigen Berliner Wahlkreisen aufgrund von fehlenden oder falschen
Stimmzetteln zu einer zeitweisen Schließung von Wahlräumen sowie aus
anderen organisatorischen Gründen zu Schlangen vor Wahlräumen gekommen
sei. Viele Wähler hätten nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen
können. Die Vorkommnisse haben aus Sicht Thiels wahlrechtliche
Vorschriften verletzt und stellten deshalb Wahlfehler dar, die unter
anderem den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach Artikel 38 Absatz 1
Satz 1 des Grundgesetzes beeinträchtigt hätten. Zudem könnten die
aufgetretenen Wahlfehler mandatsrelevant gewesen sein. Es könne nicht
ausgeschlossen werden, dass sich ohne diese Vorkommnisse eine andere
Sitzverteilung des Bundestages ergeben hätte. Thiel bekräftigte am
Dienstag bei der Verhandlung seine Forderung nach einer Wiederholung der
Wahl in den genannten Wahlkreisen. Es gehe nicht um einzelne Fehler,
sondern um „systemisches Versagen“. Bei der Verhandlung wurden auch
weitere, schlüssig dokumentierte grobe Verstöße erörtert. Etwa händisch
kopierte Wahlzettel, Stimmabgaben bis 21 Uhr (also drei Stunden nach
Schließung der Wahllokale) Pannen bei der Auszählung und Übermittlung
der Ergebnisse u.v.a.m.
Insgesamt gab es über 2000 Einsprüche gegen das Wahlergebnis, die meisten bezogen sich auf die Vorgänge in Berlin. Einer der Einsprüche wurde von Marcel Luthe eingereicht. Der Wirtschaftswissenschaftler war 2016 über die Landesliste der FDP in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. 2020 wurde er nach heftigen internen Auseinandersetzungen aus der Fraktion ausgeschlossen, wenig später verließ er die Partei und schloss sich den Freien Wählern an, für die er 2021 ohne Erfolg sowohl für das Abgeordnetenhaus als auch für den Bundestag kandidierte.
Insgesamt gab es über 2000 Einsprüche gegen das Wahlergebnis, die meisten bezogen sich auf die Vorgänge in Berlin. Einer der Einsprüche wurde von Marcel Luthe eingereicht. Der Wirtschaftswissenschaftler war 2016 über die Landesliste der FDP in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. 2020 wurde er nach heftigen internen Auseinandersetzungen aus der Fraktion ausgeschlossen, wenig später verließ er die Partei und schloss sich den Freien Wählern an, für die er 2021 ohne Erfolg sowohl für das Abgeordnetenhaus als auch für den Bundestag kandidierte.
Die in dem Schriftsatz des Anwalts von Luthe detailliert aufgeführten
Wahlfehler summieren sich demnach auf insgesamt bis zu 100.000 Stimmen
in Berlin. Was angesichts der relativ knappen Abstände bei den
Erststimmen in einigen Wahlkreisen möglicherweise zu einer Verfälschung
des Wahlergebnisses geführt haben könnte. Doch das betrifft nicht nur
die dort direkt gewählten Abgeordneten, sondern die gesamte
Mandatsverteilung im Bundestag, für die das Zweitstimmenergebnis
maßgeblich ist. Da scheinen 100.000 Stimmen in Relation zu bundesweit
60,4 Millionen Wahlberechtigten eine eher marginale Größenordnung zu
sein. Beim Ergebnis dieser Bundestagswahl gab es allerdings eine
besondere Konstellation. Denn die Linke scheiterte mit 4,9 Prozent der
Zweitstimmen an der Fünfprozenthürde und wäre somit nicht mehr als
Fraktion im Bundestag vertreten. Allerdings errang sie drei
Direktmandate, davon zwei in Berlin. Für diesen Fall sieht das Wahlrecht
vor, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate erhält,
dennoch anhand ihres prozentuales Ergebnisses im Bundestag vertreten
ist. Im Fall der Linken sogar als Fraktion, da sie aufgrund des
komplizierten Verteilungsschlüssels für die Stimmen der bei der Wahl
gescheiterten Parteien auf etwas mehr als 5% der Abgeordneten kommt.
Eines der Direktmandate errang Gesine Lötzsch
für die Linke im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg, mit 25,8% der Stimmen
und einem Vorsprung von rund 8000 Stimmen vor der zweitplatzierten
Kandidatin Anja Ingenbleek (SPD). Würde in diesem Wahlkreis erneut
gewählt und verlöre Lötzsch dabei ihr Direktmandat, dann hätte das
gravierende Folgen. Denn die Linke würde im Bundestag 37 ihrer 39 Sitze
verlieren und wäre nur noch mit den zwei dann fraktionslosen, direkt
gewählten Abgeordneten Gregor Gysi und Sören Pellmann vertreten. Ein Szenario, dass Luthe auf Cicero-Nachfrage
für durchaus realistisch hält. Zum einen sei die Linke in der
Wählergunst ohnehin auf Talfahrt, und außerdem sei es auch denkbar, dass
es bei einer erneuten Wahl zu einer Art Stimmen-Bündnis gegen Lötzsch
komme.
Am Ende entscheidet der Bundestag über eine mögliche
Wahlwiederholung. Wann das passiert, ist derzeit noch offen.
Anschließend könnte noch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.
Dennoch geht Luthe davon aus, dass es noch in diesem Jahr zu einer
endgültigen Entscheidung kommen wird. Denn weder der Bundestag noch die
Bundesregierung könnten mit dem Makel agieren, dass erhebliche Zweifel
an ihrer Legitimität im Raum stehen.
In Berlin möglicherweise komplette Neuwahl
In Berlin beschäftigt sich das Landesverfassungsgericht mit rund 30
Einsprüchen gegen das Wahlergebnis zum Landes- und zu den
Bezirksparlamenten, wobei die Anfechtungen von Luthe eine wichtige Rolle
spielen. Das Gericht überprüft die Originalunterlagen aller 2257
Wahllokale und hat die Landeswahlleiterin zu sehr detaillierten
Stellungnahmen zu den einzelnen Vorwürfen aufgefordert. So wollen die
Richter wissen, wie sichergestellt worden sei, dass nur solche Personen
nach 18 Uhr noch wählen durften, die schon vor der eigentlichen
Schließungszeit in der Schlange standen. Auch die Frage, wie für die
nötigen Stimmzettel gesorgt wurde und wie die Stimmen gewertet wurden,
die nicht auf den richtigen Stimmzetteln abgegeben worden waren, möchte
das Gericht geklärt haben. Und es geht auch darum, wie viele Stimmen
insgesamt und aus welchen Gründen als ungültig gewertet wurden. Anders
als bei der Bundestagswahl könnte es in Berlin um eine Wiederholung der
gesamten Wahl gehen. Aus Luthes Sicht kann es nicht sein, dass die
Abgeordnetenhauswahlen nur in einzelnen, besonders knappen Wahlkreisen
wiederholt werden. Da die Parteien in Berlin entweder mit Bezirks- oder
mit Landeslisten antreten, habe es immer Auswirkungen auf andere bisher
gewählte Politiker, wenn irgendwo eine andere Partei das Direktmandat
gewinnt als bisher. Auch hier rechnet Luthe mit einer baldigen
Entscheidung, möglicherweise noch in der parlamentarischen Sommerpause.
Wenn diese dann eine Wahlwiederholung beinhaltet, kann das für Luthe nur
eine Konsequenz haben. Bis zur rechtskonformen Wahl des 19. Berliner
Abgeordnetenhauses könnten dann wieder die Abgeordneten des 18.
Abgeordnetenhauses – zu denen er auch gehörte – ihre Mandate
wahrnehmen.
Wie der Bundestag und die Gerichte letztendlich über den Umgang mit
der kaum fassbaren Kette von Rechtsverstößen bei den Wahlen in der
deutschen Hauptstadt umgehen, muss man abwarten. Der Schaden für die
Akzeptanz von Wahlen als Inbegriff der demokratischen Teilhabe ist
bereits jetzt enorm. Zumal der Berliner Senat bislang die Antwort auf
die Frage schuldig geblieben ist, wie derartige Vorkommnisse in der
Zukunft ausgeschlossen werden können.
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