Konnte man die innenpolitischen Debatten der letzten Jahre noch als
Petitessen einer übersatten Gesellschaft abtun, so hat die Debattenlage
mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine
eine neue Qualität bekommen. Nun geht es nicht mehr „nur“ um freie
Meinungsäußerung, um Demokratieverständnis, Framing und Verbotskultur,
sondern um Krieg und Frieden. Im Stakkato trommeln seit fünf Wochen
fiebrige Berichte, emotionalisierende Bilder und aufpeitschende
Kommentare auf die Öffentlichkeit ein und drohen die Köpfe zu vernebeln,
wo kalter Verstand und nüchterne Besonnenheit erste Pflicht wären.
Hinter einem Westwall der Meinungseinfalt verschanzt
Doch selbst jene, die noch vor wenigen Wochen mutig gegen Cancel Culture
und für freie Meinungsäußerung stritten, haben sich nun hinter einem
Westwall der Meinungseinfalt verschanzt. Moralbesoffen und entrüstet
überschlägt man sich in immer neuen Verdammungsurteilen, zieht in einen
Weltwirtschaftskrieg mit verheerenden Folgen und kokettiert auf
unverantwortliche Weise mit einem Weltenbrand. Und jeder der
widerspricht, ist verantwortlich für die Toten von Butscha.
Solche Behauptungen sind natürlich sachlich falsch und rhetorisch
infam, geben aber einen erschreckenden Einblick in die Gemütslage vieler
Kommentatoren. Man hat den Eindruck, dass eine Gesellschaft, die bisher
auf der Blümchenwiese tanzte und sich gedanklich nur noch mit
Achtsamkeit, veganer Ernährung und queeren Toiletten beschäftigte, in
die Realität gestoßen wurde und nun emotional dermaßen überfordert ist,
dass sie in ihrer Hysterie jedes Augenmaß verliert. Nie wurde
dramatischer dokumentiert, wie existentiell bedrohlich der herrschende
Realitätsverlust in westlichen Gesellschaften tatsächlich ist.
So kommt es, dass man auch die einfachsten Tatsachen übersieht und
nicht nur in der Gegenwart zündelt, sondern auch noch die Zukunft
verbaut und die Konflikte von morgen vorbereitet. Denn Russland, das
kann man heute schon sagen, wird morgen nicht in der Südsee liegen. Wir
werden weiterhin Nachbarn dieses riesigen Landes sein. Wir werden es
auch nicht ignorieren können, wir werden im kulturellen und
wissenschaftlichen Austausch stehen und Handel treiben. Deutsche
Wissenschaftler werden in Russland forschen, deutsche Künstler in
Russland auftreten, und wir werden Erdöl, Erdgas
und alle möglichen Rohstoffe aus Russland beziehen. Auch, weil es in
Deutschlands nationalem Interesse ist. Und diese Kooperation ist auch
wichtig, denn nichts fördert die Verständigung zwischen den Völkern
nachhaltiger als wirtschaftlicher und kultureller Austausch.
Man hat nichts gelernt, allenfalls Betuliches
Und – böse Botschaft – auch Putin wird vermutlich nicht verschwinden. Gerade die Sanktionen
haben es ihm leicht gemacht. Denn nichts bindet ein Volk und seine
Elite mehr an die Herrschenden als wirtschaftliche Not und die Angst vor
Chaos. Aber auch bei diesem Thema regierten hierzulande moralinsaure
Hysterie und Aktionismus statt kluger und vorausschauender Politik.
Doch langfristig kann niemand an einem isolierten, verarmten,
instabilen und sich an China annähernden Russland Interesse haben. Aus US-Perspektive mag das vielleicht eine reizvolle Polarisierung sein, aus europäischer Sicht, die russische Grenze nur ein paar hundert Kilometer entfernt, ist es das nicht.
Statt sich der Eskalationsspirale zu verweigern, verrät man im Westen
jedoch lieber seine eigenen Ideale: Es herrscht Bekenntniszwang, man enteignet,
man zensiert. Kein Kriegsverbrechen wird dadurch verhindert und das
Töten nicht um einen Tag verkürzt. Aber man hat Zeichen gesetzt. Nur
leider: Die Welt ist kein Kirchentag, sondern wir haben Krieg und es
sterben Menschen. Und dieses Sterben werden keine Sanktionen aufhalten
und keine Waffen, die schon mal gar nicht, sondern nur Diplomatie.
Doch im Moment droht eine ganze Generation zu versagen, die das
Lernen aus der Geschichte wie eine Monstranz vor sich herträgt. Doch man
hat nichts gelernt, allenfalls Betuliches. Und so kommt es, dass die
Worte Stefan Zweigs, geschrieben mit Blick auf den Sommer 1914, so
bedrückend aktuell wirken: „Es war der Krieg einer ahnungslosen
Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die
einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr.“
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