02 Mai 2022

Keine Panzer für die Ukraine? Natürlich darf man dieser Meinung sein! (NZZ)

Kommentar
Keine Panzer für die Ukraine? Natürlich darf man dieser Meinung sein!

In einem offenen Brief appellieren bekannte Deutsche wie Alice Schwarzer, Martin Walser und Dieter Nuhr an den Bundeskanzler, Deutschland nicht zur Kriegspartei zu machen. Die Reaktionen fallen harsch aus. Manche klingen mehr nach russischem Staatsfernsehen als nach freiem Westen. 
Marc Felix Serrao, Berlin, 29.04.2022 
Die Fähigkeit, Meinungsunterschiede auszuhalten und zivilisiert auszutragen, war in Deutschland nie stark ausgeprägt. Anders als etwa in der Schweiz oder im Vereinigten Königreich stellt man hierzulande gerne möglichst schnell einen gesellschaftlichen Konsens her und markiert die verbliebenen Andersdenkenden dann bestenfalls als komische Vögel.

Die Pandemie hat diesen Hang verstärkt. Und der Krieg in der Ukraine droht die angegriffenen teutonischen Nerven endgültig zu zerrütten.

Wahnsinn! Bankrotterklärung! Nichts aus der Geschichte gelernt! Da wolle wohl jemand «Vergewaltigungen belohnt sehen». Mit solchen und anderen Anwürfen – von Parlamentariern, Journalisten, Professoren und, natürlich, vom ukrainischen Botschafter in Berlin – sehen sich einige Dutzend bekannte Intellektuelle und Künstler konfrontiert, seitdem sie an diesem Freitag in der «Emma» einen offenen Brief an den deutschen Kanzler veröffentlicht haben. Darin warnen sie vor der Gefahr eines dritten Weltkriegs und bitten Olaf Scholz, sich auf seine «ursprüngliche Position» zu besinnen und weder direkt noch indirekt weitere schwere Waffen an die Ukraine zu liefern.

Der Kreis der Erstunterzeichner ist im Wortsinne vielfältig: vom Schauspieler Lars Eidinger über die Schriftstellerin Juli Zeh und die Feministin Alice Schwarzer bis hin zu den Grandseigneurs Martin Walser und Alexander Kluge. Doch so gross die Namen sind, so halbgar wirkt das Schreiben, was auch daran liegen könnte, dass solche Gemeinschaftswerke im Ergebnis oft Stückwerk sind. Dem einen liegt diese Formulierung am Herzen, dem anderen jene, und am Ende unterschreibt man, weil das Ganze eine Herzensangelegenheit ist und die Richtung zumindest grob stimmt. 
 
Explodierende Köpfe
 
Zu den Aussagen, die nun in der Luft zerrissen werden, zählt die Bitte, Scholz möge sich für einen raschen Waffenstillstand einsetzen: für einen «Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können». Wenn das die deutsche Haltung wäre, wetterte ein Bundestagsabgeordneter der FDP, dann wären gewaltsame Grenzverschiebungen und Kriegsverbrechen die neue europäische Normalität. Vor den Satz stellte er ein Emoji, dem der Kopf explodiert. Walser und die anderen, sollte das wohl ausdrücken, haben den Verstand verloren.

Ja, haben sie? Natürlich sind ein Waffenstillstand und ein Kompromiss, den vor allem die ukrainische Regierung angesichts der russischen Kriegsverbrechen und immer neuer Drohungen akzeptieren könnte, derzeit kaum vorstellbar. Aber wenn beides keine Ziele mehr wären, für die westliche Politiker eintreten dürften, dann bliebe nur ein militärischer Sieg der Ukraine. Man mag diesen für möglich halten, aber es wäre verwegen, die damit verbundene Gefahr einer Eskalation des Krieges zu leugnen.

Am wenigsten überzeugend wirkt der Brief in seiner Kritik der angeblich «eskalierenden Aufrüstung». Besässe die Ukraine Atomwaffen, dann wäre Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmarschiert; zumindest wäre es der erste offene Krieg zwischen zwei Nuklearmächten gewesen. Und stünden Polen oder das Baltikum nicht unter dem Schutz der Nato, dann wäre die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf ihr Territorium ebenfalls um ein Vielfaches höher. Ein gut ausgerüstetes Militär erhöht in der unmittelbaren Nachbarschaft von imperialen Grossmächten nicht die Kriegsgefahr; es reduziert sie.

Der Bundestag ist überzeugt, die Bevölkerung gespalten


Vielleicht wäre die prominente Autorengemeinschaft gut beraten gewesen, beim Verfassen ihres Briefs auch einen Offizier der Bundeswehr zu Rate zu ziehen. Im deutschen Militär gibt es manche, die Waffenlieferungen ebenfalls kritisch sehen und einige Punkte in dem Brief unterschreiben würden. Aber die Behauptung, dass Abrüstung eine «gemeinsame friedliche Zukunft» wahrscheinlicher mache, hätten sie den Autorinnen und Autoren auszureden versucht.

In der Summe ist der Text dennoch wichtig. Während im Bundestag gerade knapp 80 Prozent der Abgeordneten für mehr deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine gestimmt haben, findet das in der Bevölkerung nur knapp jeder Zweite richtig. Diejenigen, die es anders sehen und voller Sorge um sich und ihre Familien sind, haben das Recht, sich Gehör zu verschaffen, ohne dafür beschimpft zu werden. Auch das unterscheidet den Westen von Russland. Zumindest sollte es so sein.

Wer die Gegner von Waffenlieferungen als geschichtsvergessene Idioten, Irre und Vergewaltigungsverharmloser darstellt, mag das im Glauben tun, die freie Welt zu verteidigen. In Wahrheit erinnert solche Rhetorik eher ans russische Staatsfernsehen.

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