04 Mai 2022

Hunderte Randalierer, Dutzende verletzte Polizisten, brennende Autos – in Berlin gilt das heute als «friedlich» (NZZ)

Der andere Blick 02.06.2022
Hunderte Randalierer, Dutzende verletzte Polizisten, brennende Autos – in Berlin gilt das heute als «friedlich» (NZZ)
Jedes Jahr am 1. Mai knallt es in der deutschen Hauptstadt. Die Bewohner der betroffenen Stadtteile haben längst resigniert, und die politisch Verantwortlichen reden sich die Lage schön. Das Ergebnis ist ein einzigartiger Realitätsverlust.

Etwa 500 Randalierer, 123 Ermittlungsverfahren, 74 Festnahmen, 29 verletzte Polizisten – so lautet in Berlin die Bilanz des «friedlichsten 1. Mai seit Jahrzehnten». Polizei und Innenverwaltung der deutschen Hauptstadt zeigten sich an diesem Montag, dem Tag danach, zufrieden. Zufrieden vor allem über das, was dieses Mal ausgeblieben ist: bürgerkriegsähnliche Zustände. Aber ist das wirklich ein Grund, zufrieden zu sein?

Gewiss, man kann daran erinnern, dass früher alles noch viel schlimmer war. Der allererste 1. Mai in Berlin fand 1987 statt. Das war der Tag, an dem die «Tradition» begründet wurde, die bis heute jedes Jahr die Polizei zum Großaufgebot nötigt und sie immer neue Konzepte zur Eindämmung der Gewalt ersinnen lässt.

Zur «Premiere» vor 35 Jahren wurde ein ganzes Quartier der Stadt verwüstet, eine Berliner U-Bahn-Linie musste für Wochen gesperrt werden. Auslöser war die geplante Volkszählung, gegen die es erbitterten Widerstand gab. In der Früh um 4 Uhr 45 rückte die Polizei damals in einem Kreuzberger Hinterhof an. Die Beamten brachen die Tür eines Büros auf, in dem ein Boykott gegen die Volkszählung geplant wurde, und beschlagnahmten Tausende Flugblätter. Dieser Einsatz wurde als Provokation empfunden, was den Nährboden für alles weitere bildete. Tagsüber war noch Ruhe, am Nachmittag braute sich der Sturm zusammen.

Mal war es schlimm, mal noch schlimmer

Seither hat es keinen friedlichen 1. Mai in Berlin mehr gegeben. Mal war es schlimm, mal noch schlimmer. Die Schäden gingen immer in die Millionen. Jahrelang bereiteten sich die Menschen in Kreuzberg immer aufs Neue vor – vernagelten ihre Fenster, brachten Autos in andere Stadtquartiere.

Es erscheint nicht gewagt, anzunehmen, dass eine solche «Tradition» in, sagen wir, München, schon am Entstehen gehindert worden wäre. Doch in Berlin versteht man sich als tolerant, also gegenüber dem tonangebenden Milieu. Die Grenze zum Linksextremismus ist dabei nicht immer sauber zu ziehen, und zwar bis hinein in die Stadtregierung. Schon die Alternative Liste im Landesparlament, eine Vorläuferin der Grünen, hatte den Polizeieinsatz 1987 als «Provokation» gegeisselt.

Irgendwann kam die kluge Idee auf, den Randalierern ein Fest entgegenzusetzen, das «Myfest». Es findet seit 2003 statt und fiel lediglich 2020 bis 2022 wegen der Pandemie aus. Erfunden wurde das Fest nicht von Politikern, sondern von Anwohnern. Die Kreuzberger hatten es einfach satt, einmal im Jahr tagelang im Ausnahmezustand zu leben.

5830 Polizisten im Einsatz

Auch in diesem Jahr sollte das Prinzip – familienfreundliche Party statt Strassenkampf – die Randale zumindest eindämmen. Der Bezirk Neukölln genehmigte gleich fünf Strassenfeste. Dass all das dennoch nicht reicht, zeigt schon das Polizeiaufgebot. Allein am Sonntag waren 5830 Beamte in der Hauptstadt im Einsatz, davon 2130 aus anderen Bundesländern. Auch sie konnten nicht verhindern, dass dann doch noch Autos brannten, Flaschen und Steine flogen.

«Ganz Berlin hasst die Polizei!», schallte es durch die Strassen, immer wieder. Und rund 14 000 Menschen, die mitliefen, störte das kein bisschen. Der 1. Mai 2022 in der Hauptstadt mag weniger zerstörerisch gewesen sein als in früheren Jahren. Aber das trauen sich wirklich nur Berliner als Erfolg zu verkaufen.

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