„Wir bitten Sie dringlich, weiterhin freiwillig einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen.“ Dieser Satz begegnet einem derzeit häufig in der deutschen Öffentlichkeit, und er ist moralisch wie logisch eine Zumutung. Es wird ja niemand gezwungen, die medizinische Maske abzusetzen. Wer dies für die eigene Gesundheit erforderlich hält, der darf diesen Sommer sogar maskiert wandern, sonnenbaden oder joggen. Viel Vergnügen!
Die anderen aber, die, vom FFP2-Zwang befreit, aufzuleben versuchen, stehen vor einem Problem, wenn sie zur Freiwilligkeit des Maskentragens dringlich aufgefordert werden. Ein Beispiel: Am Eingang des Opernhauses steht genau diese Botschaft angeschrieben, denn „damit schützen Sie sich und andere“.
Wer wollte das wohl nicht? Doch worin genau dieses Schützen nun besteht, ob man die Gesundheit von Mitmenschen gefährdet oder sie gar ohne Maske fahrlässig ums Leben bringen könnte – diese nicht unwichtige Information bleibt vielsagend offen.
Außerdem wird das Maskentragen durch die dringliche Bitte zu einer Frage der Höflichkeit. Wer würde bei einer Einladung rundweg ablehnen, wenn die Gastgeber vorab darum bitten, vor der Wohnungstür die Schuhe gegen ein paar Pantoffeln zu tauschen? Wem das nicht passt, kann getrost die Einladung ablehnen.
Aber im Konzert oder im Theater wird diese dringliche Aufforderung kniffliger. Wer möchte schon, dass das Aufsichtspersonal oder womöglich die Intendanz ihr Hausrecht rabiat durchsetzen, wenn man maskenfrei durchs Foyer schlendert? Auch in der Einkaufspassage wirkt es unsensibel, mit unbedecktem Gesicht zu shoppen, während das Verkaufspersonal – offenbar vom Arbeitgeber dazu genötigt – durchweg maskiert seinen Dienst verrichtet.
Die gebremste Aufhebung verlagert die Maskenpflicht auf undurchsichtige Weise von der gesetzlichen in die persönliche Sphäre: Tragt gefälligst Verantwortung, wenn der Staat sich zurückzieht!
Durch das feige Outsourcen vom staatlichen Zwang ins Reich der persönlichen Rücksicht nehmen die Ängstlichsten den Rest in Schutzhaft: Eine entrüstete Kundin, ein hysterischer Opernbesucher schreiben allen anderen „dringlich“ vor, was sie zu tun haben. Welche Geschäftsbetreiberin, welcher Konzertveranstalter, welcher Museumsdirektor möchte dagegen mit Laisser-faire vorpreschen?
Die obrigkeitliche Abwägung der persönlichen Freiheitsrechte gegen eine kollektive Gesundheitsgefährdung ist aber gar nicht vorbei. Der Gesetzgeber vom zögerlichen Parlament über den nicht gerade freiheitsaffinen Gesundheitsminister bis herunter zum Ordnungsamt und zur örtlichen Polizei haben sich bloß offiziell und mit durchaus guten Gründen von der Gängelung zurückgezogen, so notwendig sie in der Frühphase der Pandemie auch erschien. Ein gesetzliches Ende des Maskenzwangs bedeutet dann aber auch Ende – Punkt. Die Freiwilligkeit des Tragens steht dem nicht entgegen; niemand müsste an sie erinnern.
Auch wenn auf der Autobahn eine Geschwindigkeitsbegrenzung zu Ende ist, dann bleibt es wahr, dass man mit 180 Stundenkilometern den CO2-Ausstoß erhöht, andere Verkehrsteilnehmer und sich selbst womöglich gefährdet und psychisch stresst. Dennoch gibt es ohne strafbewehrte Ordnung keinen Anlass, ja nicht einmal ein öffentliches Recht, den Autofahrern einzubläuen, nun eben freiwillig 120 zu fahren oder am besten gleich auf die Eisenbahn umzusteigen.
Wenn Letzteres nämlich im Parlament eine Mehrheit fände, dann stünde ein Tempolimit oder ein Verbot von Geländewagen auf der Agenda. Nur muss das die Allgemeinheit mit juristischen Argumenten regeln und nicht jeder Einzelne mit seinem persönlichen Gewissen.
Im moralischen Zwielicht
Unter Berufung auf ungreifbar über uns schwebende Verhängnisse wie die Klimaerwärmung oder die Corona-Drohung lassen sich zahllose Alltagshandlungen ins moralische Zwielicht setzen, die der Staat sich nicht zu verbieten traut. Wer einmal erlebt hat, wie ein Bekannter, der selbst gerade dem Airbus entstiegen ist, jedwede Flugreise entrüstet als bösen CO2-Fußabdruck anderer schmäht, weiß genau, zu welcher Doppelmoral das führen kann.
Als Vielflieger mit gutem Gewissen, so lässt er einen lächelnd wissen, hat er für einen hübschen Aufpreis zahlreiche Bäume pflanzen lassen. Da sind wir wieder beim guten alten Sündenablass: Wer genüsslich sein Steak kaut, outet sich kleinlaut als Flexitarier – „an anderen Tagen“.
Der Zweitwagen wird mit Hinweis auf die Emanzipation der Ehegattin entschuldigt, die als unabhängige Feministin keinesfalls daheim sitzen darf. Das ferne Ferienhaus holt die Ökobilanz der weiten Anreise durch den klimafreundlichen Garten wieder herein. Und auf dem neuen Kleid prangt gut sichtbar ein Öko-Label. Man kann sich alles schönreden.
Wie beim Maskenzwang geraten wir mehr oder weniger unmerklich in ein Moralregime hinein, das wie beim traditionellen Christentum mit Sünde und schlechtem Gewissen arbeitet, gerade wo es gar kein gesetzliches Verbot gibt.
Auch im real existierenden Sozialismus hatten die Menschen so ihre Erfahrungen mit „freiwilligen“ Sonderschichten im Betrieb oder kollektiven Putzarbeiten zum Wohle der Revolution. Solche Moralappelle der Führung ließ man besser nicht aus, wenn man bei der Parteileitung nicht auffallen wollte.
In einer freiheitlichen Gesellschaft jedoch muss es eine Selbstverständlichkeit bleiben, dass man tun darf, was die Gesetze einem (noch) nicht verbieten: Fleisch essen, in Urlaub fliegen und ohne Maske im Konzert sitzen.
In einem gar nicht so harmlosen Witz definiert sich die Freiheit indes in jedem Land anders: In Frankreich ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. In Italien ist alles erlaubt, auch wenn es verboten ist. Und in Deutschland ist alles verboten, auch wenn es erlaubt ist. Mit dem moralischen Maskengebot sind wir der freiwilligen Unfreiheit ein Stück näher gekommen.
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