Bananenrepublik? Wir doch nicht! Ein Ausschuss arbeitet die Pannen bei der letzten deutschen Wahl auf (NZZ)
Braucht es nach dem Versagen Berlins bei der Organisation der Bundestagswahl deren Wiederholung? Der Bundeswahlleiter ist sich dessen sicher und sieht ein «komplettes systemisches Versagen».
Den Vergleich mit einer Bananenrepublik will Berlins stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann nun wirklich nicht auf sich sitzenlassen. Sie sei über Jahre weltweit als Wahlbeobachterin eingesetzt gewesen. Der Goldstandard für Wahlen werde in Berlin zwar tatsächlich schon lange nicht erreicht, anderswo sei es aber teilweise schlimmer. Dort würden Regime sogar die Wahlergebnisse manipulieren. 24.05.2022,
Abenteuerlich waren die Umstände der letzten deutschen Wahl aber trotzdem, ganz besonders in Berlin. Es gab in manchen Wahllokalen nicht genug Stimmzettel, in anderen die falschen, manche Lokale schlossen vorübergehend und schickten die Wähler weg, in wieder anderen gab es stundenlange Wartezeiten, oder es wurde abends noch bis 21 Uhr gewählt, obwohl schon ab 18 Uhr die Hochrechnungen im Fernsehen zu sehen waren – weswegen üblicherweise die Wahllokale um 18 Uhr schliessen.
Gegen die Wahl hagelte es 2117 Einsprüche von Bürgern, und auch der Bundeswahlleiter legte Einspruch zur Anfechtung der Wahl ein – ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte. Am Dienstag befasste sich nun der Wahlprüfungsausschuss des Parlaments mit dem verkorksten Urnengang. Leider sind nun schon mehr als sechs Monate vergangen, so dass im Falle einer teilweisen Wiederholung der Wahl wahrscheinlich nicht mehr die alten Wählerverzeichnisse verwendet werden dürften. Vielleicht sind aber inzwischen Personen gestorben oder umgezogen oder volljährig geworden, das könnte Verfälschungen mit sich bringen – nur einer von vielen Aspekten.
Braucht es nach dem Versagen Berlins bei der Organisation der Bundestagswahl deren Wiederholung? Der Bundeswahlleiter ist sich dessen sicher und sieht ein «komplettes systemisches Versagen».
Den Vergleich mit einer Bananenrepublik will Berlins stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann nun wirklich nicht auf sich sitzenlassen. Sie sei über Jahre weltweit als Wahlbeobachterin eingesetzt gewesen. Der Goldstandard für Wahlen werde in Berlin zwar tatsächlich schon lange nicht erreicht, anderswo sei es aber teilweise schlimmer. Dort würden Regime sogar die Wahlergebnisse manipulieren. 24.05.2022,
Abenteuerlich waren die Umstände der letzten deutschen Wahl aber trotzdem, ganz besonders in Berlin. Es gab in manchen Wahllokalen nicht genug Stimmzettel, in anderen die falschen, manche Lokale schlossen vorübergehend und schickten die Wähler weg, in wieder anderen gab es stundenlange Wartezeiten, oder es wurde abends noch bis 21 Uhr gewählt, obwohl schon ab 18 Uhr die Hochrechnungen im Fernsehen zu sehen waren – weswegen üblicherweise die Wahllokale um 18 Uhr schliessen.
Gegen die Wahl hagelte es 2117 Einsprüche von Bürgern, und auch der Bundeswahlleiter legte Einspruch zur Anfechtung der Wahl ein – ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte. Am Dienstag befasste sich nun der Wahlprüfungsausschuss des Parlaments mit dem verkorksten Urnengang. Leider sind nun schon mehr als sechs Monate vergangen, so dass im Falle einer teilweisen Wiederholung der Wahl wahrscheinlich nicht mehr die alten Wählerverzeichnisse verwendet werden dürften. Vielleicht sind aber inzwischen Personen gestorben oder umgezogen oder volljährig geworden, das könnte Verfälschungen mit sich bringen – nur einer von vielen Aspekten.
Fehler über Fehler
Die Sitzung begann um 10 Uhr, man rechnete mit einer Dauer von bis zu acht Stunden, war aber früher fertig. Der Aufbau sollte dreistufig sein: Feststellung der Wahlfehler, Frage der Mandatsrelevanz, Verhältnismässigkeit einer Neuwahl. Auch diese wäre ein Novum.Die einfachsten Fragen waren die schwersten. So wollte etwa der AfD-Abgeordnete Thomas Seitz wissen, warum man denn nicht gleich morgens, nachdem klar war, dass es an Wahlzetteln mangelt, für Nachschub gesorgt habe. Zumal schon vorher dank den Listen bekannt sei, wie viele Wahlberechtigte es pro Wahllokal gebe. Dann könnte man doch eigentlich sogar schon am Vorabend . . . – eine valide Antwort gab es nicht.
Berlin hatte sich viel aufgehalst: Nicht nur waren Wahlen zum Bundestag, zum Landesparlament und zu den Verordnetenversammlungen aller zwölf Bezirke, sondern zusätzlich gab es auch noch einen Volksentscheid über die Enteignung von Wohnungskonzernen, und es fand der Berlin-Marathon statt, was zu umfangreichen Verkehrsbehinderungen führte. Wahlhelfer blieben im Stau stecken, als sie Nachschub holen wollten, und die Papiere, auf denen der Bürger sein wichtigstes Recht ausübt, erwiesen sich ihrerseits als gewichtig: Ein Satz Stimmzettel wiegt 32 Gramm. Wer also zehn Kilo trug, brachte doch nur 300 Stimmzettel an. Es reichte nicht.
Beim Programmpunkt «Wahlfehler» stellte Bundeswahlleiter Georg Thiel ein «komplettes systemisches Versagen der Wahlorganisation» fest und konstatierte, so etwas dürfe sich niemals wiederholen. Leider rechne er in Berlin mit keiner Besserung. Diese düstere Prognose wurde Stunden später gegen ihn verwandt. Thiel will nämlich erreichen, dass zumindest in sechs Berliner Wahlkreisen die Wahl wiederholt wird. Berlin hat zwölf Wahlkreise. Diese sind unpraktischerweise nicht völlig deckungsgleich mit den zwölf Bezirken. Woher er denn wissen wolle, dass es diesmal korrekt laufe, wollte erneut der Abgeordnete Seitz wissen.
Dokumentiert wurden die Pannen kaum
Na, man lerne schon dazu, und jetzt sei ja auch kein Marathon, waren sich die Berliner Vertreter einig, also Rockmann und Kreiswahlleiter Rolfdieter Bohm. Daran scheitere es also nicht. Als Landeswahlleiterin und insbesondere als Mathematikerin hat Rockmann ganz andere Probleme. Zwar gebe es eine Vielzahl von Einsprüchen gegen die Wahl und glaubhafte Pannenschilderungen, aber es gebe keine rechenbare Grundlage, anhand deren sich quantifizieren lasse, wie viele Stimmen denn nun tatsächlich nicht abgegeben werden konnten und ob dies wirklich einen Unterschied ausgemacht hätte. Denn: Es wurde obendrein alles schlampig bis gar nicht dokumentiert.
Ohne ordentliche Dokumentation lässt sich beim Punkt «Mandatsrelevanz» freilich nicht allzu viel ausrichten. Thiel rechnete vor, der SPD hätten nur 802 Stimmen gefehlt, dann hätte es für ein weiteres Mandat gereicht. Bei einem Wahlvorgang von drei Minuten hätten nach seinen Berechnungen 1914 zusätzliche Wähler an die Urne gekonnt, bei einem Wahlvorgang von fünf Minuten wären es immerhin noch 1148 gewesen und bei sieben Minuten 821. Das sei doch mandatsrelevant. Die hätten ja womöglich nicht alle SPD gewählt, wurde eingewandt. Ausserdem dauerte kaum ein Wahlvorgang nur drei Minuten, da sich die Bürger in dem Zettelwust nicht zurechtfanden und sich häufig länger eine Meinung bilden mussten. Mathematikerin Rockmann sieht keine Mandatsrelevanz, ihr Rechenansatz sei die Wahlbeteiligung. Hier gebe es keine Auffälligkeiten, also könnten es nicht viele Wähler gewesen sein, denen die Stimmabgabe verunmöglicht wurde.
Die Debatte um die Verhältnismässigkeit einer teilweisen Wahlwiederholung fiel recht kurz aus. «Das Vertrauen der Wähler sollte uns jeden Aufwand wert sein», ist Thiel überzeugt. Doch stehen andere Belange dagegen, etwa der Bestandsschutz des gewählten Parlaments. Es erscheint auch etwas seltsam, dass dieses selbst über die Gültigkeit seiner Wahl entscheidet. In manchen «Bananenrepubliken» erledigen dies unabhängige Wahlgerichte.
Vor der Sommerpause will der Ausschuss ohnehin nicht mehr entscheiden. Danach wäre der Bundestag dran. Die Vorsitzende Daniela Ludwig (CSU) rechnet damit, dass die Sache noch bis nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht kommt. Bis das entscheidet, ist vielleicht regulär die nächste Wahl.
Die Sitzung begann um 10 Uhr, man rechnete mit einer Dauer von bis zu acht Stunden, war aber früher fertig. Der Aufbau sollte dreistufig sein: Feststellung der Wahlfehler, Frage der Mandatsrelevanz, Verhältnismässigkeit einer Neuwahl. Auch diese wäre ein Novum.Die einfachsten Fragen waren die schwersten. So wollte etwa der AfD-Abgeordnete Thomas Seitz wissen, warum man denn nicht gleich morgens, nachdem klar war, dass es an Wahlzetteln mangelt, für Nachschub gesorgt habe. Zumal schon vorher dank den Listen bekannt sei, wie viele Wahlberechtigte es pro Wahllokal gebe. Dann könnte man doch eigentlich sogar schon am Vorabend . . . – eine valide Antwort gab es nicht.
Berlin hatte sich viel aufgehalst: Nicht nur waren Wahlen zum Bundestag, zum Landesparlament und zu den Verordnetenversammlungen aller zwölf Bezirke, sondern zusätzlich gab es auch noch einen Volksentscheid über die Enteignung von Wohnungskonzernen, und es fand der Berlin-Marathon statt, was zu umfangreichen Verkehrsbehinderungen führte. Wahlhelfer blieben im Stau stecken, als sie Nachschub holen wollten, und die Papiere, auf denen der Bürger sein wichtigstes Recht ausübt, erwiesen sich ihrerseits als gewichtig: Ein Satz Stimmzettel wiegt 32 Gramm. Wer also zehn Kilo trug, brachte doch nur 300 Stimmzettel an. Es reichte nicht.
Beim Programmpunkt «Wahlfehler» stellte Bundeswahlleiter Georg Thiel ein «komplettes systemisches Versagen der Wahlorganisation» fest und konstatierte, so etwas dürfe sich niemals wiederholen. Leider rechne er in Berlin mit keiner Besserung. Diese düstere Prognose wurde Stunden später gegen ihn verwandt. Thiel will nämlich erreichen, dass zumindest in sechs Berliner Wahlkreisen die Wahl wiederholt wird. Berlin hat zwölf Wahlkreise. Diese sind unpraktischerweise nicht völlig deckungsgleich mit den zwölf Bezirken. Woher er denn wissen wolle, dass es diesmal korrekt laufe, wollte erneut der Abgeordnete Seitz wissen.
Dokumentiert wurden die Pannen kaum
Na, man lerne schon dazu, und jetzt sei ja auch kein Marathon, waren sich die Berliner Vertreter einig, also Rockmann und Kreiswahlleiter Rolfdieter Bohm. Daran scheitere es also nicht. Als Landeswahlleiterin und insbesondere als Mathematikerin hat Rockmann ganz andere Probleme. Zwar gebe es eine Vielzahl von Einsprüchen gegen die Wahl und glaubhafte Pannenschilderungen, aber es gebe keine rechenbare Grundlage, anhand deren sich quantifizieren lasse, wie viele Stimmen denn nun tatsächlich nicht abgegeben werden konnten und ob dies wirklich einen Unterschied ausgemacht hätte. Denn: Es wurde obendrein alles schlampig bis gar nicht dokumentiert.
Ohne ordentliche Dokumentation lässt sich beim Punkt «Mandatsrelevanz» freilich nicht allzu viel ausrichten. Thiel rechnete vor, der SPD hätten nur 802 Stimmen gefehlt, dann hätte es für ein weiteres Mandat gereicht. Bei einem Wahlvorgang von drei Minuten hätten nach seinen Berechnungen 1914 zusätzliche Wähler an die Urne gekonnt, bei einem Wahlvorgang von fünf Minuten wären es immerhin noch 1148 gewesen und bei sieben Minuten 821. Das sei doch mandatsrelevant. Die hätten ja womöglich nicht alle SPD gewählt, wurde eingewandt. Ausserdem dauerte kaum ein Wahlvorgang nur drei Minuten, da sich die Bürger in dem Zettelwust nicht zurechtfanden und sich häufig länger eine Meinung bilden mussten. Mathematikerin Rockmann sieht keine Mandatsrelevanz, ihr Rechenansatz sei die Wahlbeteiligung. Hier gebe es keine Auffälligkeiten, also könnten es nicht viele Wähler gewesen sein, denen die Stimmabgabe verunmöglicht wurde.
Die Debatte um die Verhältnismässigkeit einer teilweisen Wahlwiederholung fiel recht kurz aus. «Das Vertrauen der Wähler sollte uns jeden Aufwand wert sein», ist Thiel überzeugt. Doch stehen andere Belange dagegen, etwa der Bestandsschutz des gewählten Parlaments. Es erscheint auch etwas seltsam, dass dieses selbst über die Gültigkeit seiner Wahl entscheidet. In manchen «Bananenrepubliken» erledigen dies unabhängige Wahlgerichte.
Vor der Sommerpause will der Ausschuss ohnehin nicht mehr entscheiden. Danach wäre der Bundestag dran. Die Vorsitzende Daniela Ludwig (CSU) rechnet damit, dass die Sache noch bis nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht kommt. Bis das entscheidet, ist vielleicht regulär die nächste Wahl.
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