Was ist wahr in Gaza, was ist Propaganda: Israel-Experte erklärt den Krieg um Fakten (Focus-Online)
Ben Segenreich, Freitag, 01.08.2025
Ben Segenreich, Freitag, 01.08.2025
Im Gazastreifen herrscht eine humanitäre Notlage – aber ob von einer echten Hungersnot gesprochen werden kann, ist umstritten. Während die Hamas von Hungeropfern spricht, verweisen Hilfsorganisationen auf „Ernährungsunsicherheit“. Israel spricht von gezielter Propaganda.
Die BBC berichtet von „extremem Hunger“ in Gaza, der deutsche Linken-Chef Jan van Aken bezeichnet die israelische Führung gar als „Hungermörder“. In Israel hingegen ist man entsetzt darüber, dass Medien und Regierungen in aller Welt einer „lügenhaften Hungerkampagne“ aufgesessen seien. Dadurch sei es der islamistischen Terrororganisation Hamas gelungen, politischen Druck auf Israel aufzubauen und, zumindest vorläufig, ihr eigenes Überleben zu sichern. Aber wie ist das nun wirklich mit der „Hungersnot“ im Gazastreifen?
Eine knappe und klare Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Bemerkenswert ist, dass sogar die gegenüber Israel sehr kritische UNO in der Wortwahl vorsichtig bleibt: Das Palästinenserhilfswerk UNRWA und das World Food Programme sprechen nicht von „Hunger“ („starvation“ oder „hunger“), sondern von weit verbreiteter „Unterernährung“ („malnutrition“) oder „Ernährungsunsicherheit“ („food insecurity“), was ja auch schon schlimm genug ist.
Gaza: „Todesfälle durch Unterernährung konnten nicht nachgewiesen werden“
„Eine Hungersnot wurde nicht ausgerufen, weil … Todesfälle durch Unterernährung nicht nachgewiesen werden konnten“, hieß es erst am 29. Juli auf der Internetplattform UN News. Wer behauptet, überblicken zu können, was im Gazastreifen vorgeht, ist nicht seriös. Die Fläche ist zwar nur halb so groß wie die von Hamburg, aber in den verschiedenen Abschnitten sind das Kriegsgeschehen, die Bevölkerungsbewegungen, die Nahrungsmittelversorgung, die Präsenz von israelischem Militär, Hamas, Zivilbevölkerung jeweils verschieden und im Fluss. Der Bereich um das Beduinendorf Al-Mawasi war von Israel schon im Dezember 2023 zur „sicheren Zone“ erklärt worden, und Hunderttausende waren in diese Richtung geflohen.
Doch im Gazastreifen ist alles kompliziert. Eine „sichere Zone“ ist nicht unbedingt sicher, weil Hamas-Männer sich systematisch gerade an Orten verstecken und organisieren, die grundsätzlich geschützt sein sollten, also in Krankenhäusern, Schulen oder eben „sicheren Zonen“. Deshalb werden auch „sichere Zonen“ manchmal von Israel angegriffen, was den Zivilisten die tägliche Nahrungsbeschaffung erschwert.
Ab 19. Mai ließ Israel dann doch wieder Hilfslieferungen durch, aber jetzt in Verbindung mit einem Plan, die Hamas zu umgehen und dadurch vielleicht als Verwaltungsmacht auszuschalten. Die Verteilung wurde der US-amerikanischen Agentur Gaza Humanitarian Foundation (GHF) anvertraut, was verhindern soll, dass die Güter der Hamas in die Hände fallen.
Gaza gibt es ein Verteilungsproblem von LebensmittelnDie GHF konnte im Juni dann schon täglich mehr als zwei Millionen Mahlzeiten aushändigen, der Versuch gilt aber als gescheitert. Nur vier Verteilzentren mit begrenzten Öffnungszeiten sind einfach zu wenig, um alle Menschen im Gazastreifen geordnet und regelmäßig zu versorgen.
Als sich in den letzten Wochen Berichte über die katastrophale Lage häuften, versicherte Israel, es gebe im Gazastreifen genügend Lebensmittel, aber ein Verteilungsproblem. Insbesondere verwies Israel auf 900 abgefertigte Lastwagen, die auf der palästinensischen Seite von Grenzübergängen warteten, voll beladen mit Hilfsgütern – wie könne die UNO den Israelis den Hunger zum Vorwurf machen, wenn sie selbst daran schuld sei, dass vorhandene Lebensmittel nicht verteilt würden?
Aber jetzt spielte die UNO eben nicht mehr mit, weil ihr die „Konkurrenz“ durch die GHF nicht passte. Noch viel weniger passt die Konkurrenz natürlich der Hamas. Berichte über viele Tote durch Schüsse auf ausgehungerte Menschen, die zu den GHF-Zentren strömten, sind schon deswegen mit Vorsicht zu genießen, weil die Quellen unsicher sind. Selbst jene, die bei den Vorfällen in der Nähe waren, werden kaum mit Sicherheit angeben können, von wem und unter welchen Umständen die Schüsse abgegeben wurden. Eine Plausibilitätsüberlegung ist aber angebracht.
Hamas hat starkes Motiv für Sabotage der GHF-Zentren
Israel hat die GHF-Zentren „erfunden“ und möchte, dass sie funktionieren, um den Einfluss der Hamas zu verringern – wieso sollten israelische Soldaten gezielt auf Menschen schießen, die sich dort anstellen? Dass hingegen die Hamas ein starkes Motiv hat, die GHF-Zentren zu sabotieren, liegt auf der Hand. „Laut den Daten, die wir haben, gibt es keinen Hunger im Gazastreifen“, beteuert zwar Armeesprecher Effi Defrin nach wie vor, aber unter dem offenen Druck aus europäischen Hauptstädten und dem diskreten Druck aus Washington musste Israel handeln.
Die Bilder von Massen erschöpfter Menschen, die sich um Essensausgaben drängen und Mehlsäcke schleppen, und von abgemagerten Kindern sind zu stark. Zugleich ist schwer zu beurteilen, ob sie die ganze komplexe Realität widerspiegeln. Große Fragezeichen gab es zuletzt um zwei Fotos von Kindern, die dem Hungertod nahe sein sollen. Diese Fotos wurden von wichtigen Medien übernommen und haben, wie man ohne Übertreibung sagen kann, die Welt beeinflusst. Doch dabei wurden elementare journalistische Standards missachtet.
Die BBC berichtet von „extremem Hunger“ in Gaza, der deutsche Linken-Chef Jan van Aken bezeichnet die israelische Führung gar als „Hungermörder“. In Israel hingegen ist man entsetzt darüber, dass Medien und Regierungen in aller Welt einer „lügenhaften Hungerkampagne“ aufgesessen seien. Dadurch sei es der islamistischen Terrororganisation Hamas gelungen, politischen Druck auf Israel aufzubauen und, zumindest vorläufig, ihr eigenes Überleben zu sichern. Aber wie ist das nun wirklich mit der „Hungersnot“ im Gazastreifen?
Eine knappe und klare Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Bemerkenswert ist, dass sogar die gegenüber Israel sehr kritische UNO in der Wortwahl vorsichtig bleibt: Das Palästinenserhilfswerk UNRWA und das World Food Programme sprechen nicht von „Hunger“ („starvation“ oder „hunger“), sondern von weit verbreiteter „Unterernährung“ („malnutrition“) oder „Ernährungsunsicherheit“ („food insecurity“), was ja auch schon schlimm genug ist.
Gaza: „Todesfälle durch Unterernährung konnten nicht nachgewiesen werden“
„Eine Hungersnot wurde nicht ausgerufen, weil … Todesfälle durch Unterernährung nicht nachgewiesen werden konnten“, hieß es erst am 29. Juli auf der Internetplattform UN News. Wer behauptet, überblicken zu können, was im Gazastreifen vorgeht, ist nicht seriös. Die Fläche ist zwar nur halb so groß wie die von Hamburg, aber in den verschiedenen Abschnitten sind das Kriegsgeschehen, die Bevölkerungsbewegungen, die Nahrungsmittelversorgung, die Präsenz von israelischem Militär, Hamas, Zivilbevölkerung jeweils verschieden und im Fluss. Der Bereich um das Beduinendorf Al-Mawasi war von Israel schon im Dezember 2023 zur „sicheren Zone“ erklärt worden, und Hunderttausende waren in diese Richtung geflohen.
Doch im Gazastreifen ist alles kompliziert. Eine „sichere Zone“ ist nicht unbedingt sicher, weil Hamas-Männer sich systematisch gerade an Orten verstecken und organisieren, die grundsätzlich geschützt sein sollten, also in Krankenhäusern, Schulen oder eben „sicheren Zonen“. Deshalb werden auch „sichere Zonen“ manchmal von Israel angegriffen, was den Zivilisten die tägliche Nahrungsbeschaffung erschwert.
Ab 19. Mai ließ Israel dann doch wieder Hilfslieferungen durch, aber jetzt in Verbindung mit einem Plan, die Hamas zu umgehen und dadurch vielleicht als Verwaltungsmacht auszuschalten. Die Verteilung wurde der US-amerikanischen Agentur Gaza Humanitarian Foundation (GHF) anvertraut, was verhindern soll, dass die Güter der Hamas in die Hände fallen.
Gaza gibt es ein Verteilungsproblem von LebensmittelnDie GHF konnte im Juni dann schon täglich mehr als zwei Millionen Mahlzeiten aushändigen, der Versuch gilt aber als gescheitert. Nur vier Verteilzentren mit begrenzten Öffnungszeiten sind einfach zu wenig, um alle Menschen im Gazastreifen geordnet und regelmäßig zu versorgen.
Als sich in den letzten Wochen Berichte über die katastrophale Lage häuften, versicherte Israel, es gebe im Gazastreifen genügend Lebensmittel, aber ein Verteilungsproblem. Insbesondere verwies Israel auf 900 abgefertigte Lastwagen, die auf der palästinensischen Seite von Grenzübergängen warteten, voll beladen mit Hilfsgütern – wie könne die UNO den Israelis den Hunger zum Vorwurf machen, wenn sie selbst daran schuld sei, dass vorhandene Lebensmittel nicht verteilt würden?
Aber jetzt spielte die UNO eben nicht mehr mit, weil ihr die „Konkurrenz“ durch die GHF nicht passte. Noch viel weniger passt die Konkurrenz natürlich der Hamas. Berichte über viele Tote durch Schüsse auf ausgehungerte Menschen, die zu den GHF-Zentren strömten, sind schon deswegen mit Vorsicht zu genießen, weil die Quellen unsicher sind. Selbst jene, die bei den Vorfällen in der Nähe waren, werden kaum mit Sicherheit angeben können, von wem und unter welchen Umständen die Schüsse abgegeben wurden. Eine Plausibilitätsüberlegung ist aber angebracht.
Hamas hat starkes Motiv für Sabotage der GHF-Zentren
Israel hat die GHF-Zentren „erfunden“ und möchte, dass sie funktionieren, um den Einfluss der Hamas zu verringern – wieso sollten israelische Soldaten gezielt auf Menschen schießen, die sich dort anstellen? Dass hingegen die Hamas ein starkes Motiv hat, die GHF-Zentren zu sabotieren, liegt auf der Hand. „Laut den Daten, die wir haben, gibt es keinen Hunger im Gazastreifen“, beteuert zwar Armeesprecher Effi Defrin nach wie vor, aber unter dem offenen Druck aus europäischen Hauptstädten und dem diskreten Druck aus Washington musste Israel handeln.
Die Bilder von Massen erschöpfter Menschen, die sich um Essensausgaben drängen und Mehlsäcke schleppen, und von abgemagerten Kindern sind zu stark. Zugleich ist schwer zu beurteilen, ob sie die ganze komplexe Realität widerspiegeln. Große Fragezeichen gab es zuletzt um zwei Fotos von Kindern, die dem Hungertod nahe sein sollen. Diese Fotos wurden von wichtigen Medien übernommen und haben, wie man ohne Übertreibung sagen kann, die Welt beeinflusst. Doch dabei wurden elementare journalistische Standards missachtet.
Kinder mit genetischer Erkrankung statt Unterernährung
Das eine Bild zeigt den 18 Monate alten Mohammed Sakaria Ajoub al-Matuk. Sein Zustand ist aber nicht auf Hunger, sondern auf eine genetische Erkrankung zurückzuführen, und auf einem anderen Bild kann man seinen wohlgenährten Bruder sehen – die New York Times musste ihren Bericht korrigieren. Ähnlich war es mit dem Bild des extrem abgemagerten sechsjährigen Jungen Osama e-Rakab – er leidet an zystischer Fibrose und wird seit sechs Wochen in Italien behandelt.
Natürlich wirft das die Frage auf: Wieso ist es nötig, täuschende Bilder zu verwenden, wo es doch Massen von hungernden Kindern geben soll? Allgemein werden im Gazastreifen fast nur Videos gedreht und Fotos geschossen, die der Hamas genehm sind. Israels angesehener öffentlich-rechtlicher Sender „Kan-11“ hatte aber zuletzt Aufnahmen, die einen Markt in Gaza-Stadt zeigen sollen – Stände voll mit frischem Obst und Gemüse, Pita-Fladen, Keksen. Es gibt auch Bilder von genussvoll speisenden Männern, angeblich Hamas-Leute in Gaza. Und man hört immer wieder von steigenden oder fallenden Preisen für Mehl oder Reis.
Aber die Hilfsgüter werden doch gespendet und sollten gratis an alle verteilt werden – hält da jemand Lebensmittel zurück, um damit Geld zu machen? Ob reale Not oder „Lügenkampagne“, in Israel nimmt man zähneknirschend zur Kenntnis, dass die Hamas bekommen hat, was sie wollte, ohne Gegenleistung. Wenn es Kampfpausen gibt, dann kann die Hamas sich erholen, und wenn mehr Hilfslieferungen kommen, dann hat die Hamas wieder mehr Geld und mehr Einfluss.
Das eine Bild zeigt den 18 Monate alten Mohammed Sakaria Ajoub al-Matuk. Sein Zustand ist aber nicht auf Hunger, sondern auf eine genetische Erkrankung zurückzuführen, und auf einem anderen Bild kann man seinen wohlgenährten Bruder sehen – die New York Times musste ihren Bericht korrigieren. Ähnlich war es mit dem Bild des extrem abgemagerten sechsjährigen Jungen Osama e-Rakab – er leidet an zystischer Fibrose und wird seit sechs Wochen in Italien behandelt.
Natürlich wirft das die Frage auf: Wieso ist es nötig, täuschende Bilder zu verwenden, wo es doch Massen von hungernden Kindern geben soll? Allgemein werden im Gazastreifen fast nur Videos gedreht und Fotos geschossen, die der Hamas genehm sind. Israels angesehener öffentlich-rechtlicher Sender „Kan-11“ hatte aber zuletzt Aufnahmen, die einen Markt in Gaza-Stadt zeigen sollen – Stände voll mit frischem Obst und Gemüse, Pita-Fladen, Keksen. Es gibt auch Bilder von genussvoll speisenden Männern, angeblich Hamas-Leute in Gaza. Und man hört immer wieder von steigenden oder fallenden Preisen für Mehl oder Reis.
Aber die Hilfsgüter werden doch gespendet und sollten gratis an alle verteilt werden – hält da jemand Lebensmittel zurück, um damit Geld zu machen? Ob reale Not oder „Lügenkampagne“, in Israel nimmt man zähneknirschend zur Kenntnis, dass die Hamas bekommen hat, was sie wollte, ohne Gegenleistung. Wenn es Kampfpausen gibt, dann kann die Hamas sich erholen, und wenn mehr Hilfslieferungen kommen, dann hat die Hamas wieder mehr Geld und mehr Einfluss.
Über den Gastautoren: Dr. Ben Segenreich ist Israel-Korrespondent des
Nahost-Thinktanks „Mena Watch“ und freier Journalist, fast 30 Jahre lang
Israel-Korrespondent des ORF (österreichisches Fernsehen und Radio) und
der Wiener Tageszeitung Der Standard.
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