28 August 2025

Der andere Blick - Die Politik versagt, und der Staat ist überfordert. Deutschland hat ein echtes Problem (NZZ)

Der andere Blick
Die Politik versagt, und der Staat ist überfordert. Deutschland hat ein echtes Problem (NZZ)
Städte verkommen, Schulen werden zu sozialen Brennpunkten. Die Bürger verlieren das Vertrauen. Jetzt rächt sich, wie seit zwei Jahrzehnten regiert wird.
Eric Gujer, 29.08.2025, 6 Min
Wähler und Gewählte in Deutschland teilen eine Erfahrung: Ohnmacht. Die Politiker fühlen sich verfolgt von einer undankbaren Öffentlichkeit und gefesselt von Sachzwängen. Das Volk hingegen hält die Politik für abgehoben und unfähig, selbst einfache Probleme zu lösen.
Das beginnt im vermeintlich Kleinen. Köln, das herzliche und hässliche Dorf am Rhein, verkommt. Drei Viertel der Einwohner beklagen laut einer Forsa-Umfrage, die Stadt habe sich zum Schlechteren verändert. Die Stadt wirkt schmuddelig.
Die Kölner sind unzufrieden, weil die Verwaltung die Alltagssorgen ignoriert. Diese macht sich lieber Gedanken über eine inklusive Beschilderung von Spielplätzen. Denn Köln ist eine lebenswertere Stadt, wenn aus dem Spielplatz für Kinder eine «Spiel- und Aktionsfläche» für alle wird. Solcher Eskapismus einer woken Bürokratie demonstriert, was schiefläuft.
Politik heisst, das Leben der Menschen im Konkreten zu verbessern. Stattdessen findet eine ideologisierte Politik Scheinlösungen für Scheinprobleme.
Für Forsa zeigt die viertgrösste deutsche Stadt den Niedergang der Kommunalpolitik in eklatanter Weise. Die Entfremdung zwischen Bürgern und Politik habe seit den neunziger Jahren zugenommen – «ohne jedwedes Zutun der AfD». Die Bürger sind nicht unzufrieden, weil Populisten sie aufhetzen, sondern weil die etablierten Parteien sie enttäuschen.
In Berlin wird am liebsten ein lauwarmer Einheitsbrei serviert.
Im vermeintlich Kleinen entsteht das Vertrauen, dass der Staat funktioniert. Oder es wird verspielt – wie durch den Niedergang der Schulen. Grundschüler können heute schlechter rechnen und schreiben als um die Jahrtausendwende, zur Zeit des Pisa-Schocks.
Seit je ist die Bildungspolitik der liebste Tummelplatz für aktivistische Politiker. Unzählige Reformen laden den Schulen seit den siebziger Jahren immer neue Aufgaben und Ziele auf mit dem Resultat, dass sie selbst grundlegende Fertigkeiten unzureichend vermitteln.
Wo der Anteil von Schülern mit Migrationsgeschichte über 50 Prozent liegt, ist die Lingua franca auf dem Pausenplatz ein deutsches Kauderwelsch mit Brocken von Türkisch, Arabisch, Ukrainisch und allen Sprachen, die der Multikulti-Traum zu bieten hat. Dann ist es auch kein Wunder, wenn ein Viertel oder ein Drittel der Schüler sitzenbleibt – nicht wegen fortgeschrittener Mathematik im Gymnasium, sondern wegen Konzentrationsschwäche und retardierter Feinmotorik in der Grundschule.

Die desolate Situation an den Schulen wurde mit dem Pisa-Schock zum grossen Thema. Schon damals versprachen Politiker vollmundig, kein Kind werde mehr eingeschult ohne gute Deutschkenntnisse und einen altersgerechten Entwicklungsstand.

Seither hat sich die Lage nur verschlechtert: wegen einer verfehlten Migrationspolitik, aber auch weil die Politik lieber die Erwachsenen mit üppigen Sozialleistungen ruhigstellt, statt in die Frühförderung der Kinder in Kita und Kindergarten zu investieren.

Obwohl Deutschland seit den Hartz-Reformen eine lange Hochkonjunktur erlebte und der Bundesfinanzminister wie Dagobert Duck ein Bad in den sprudelnden Steuern nehmen konnte, war für die dringlichste Aufgabe nicht genügend Geld da. Und obwohl der Bundestag gerade ein gigantisches Schuldenpaket von 500 Milliarden Euro verabschiedet hat, halluziniert der gegenwärtige Finanzminister bereits wieder von Steuererhöhungen.

Politik heißt, Prioritäten zu setzen. Dabei versagt die Politik, und das hat nichts mit Populismus, Polarisierung und dem Aufstieg autoritärer Ideologien zu tun – mit all dem, was heute gerne als Entschuldigung angeführt wird. Vielmehr macht die Politik ihre Hausaufgaben nicht, angefangen bei Städten und Schulen. Es ist so banal, auch wenn das als Erklärung nicht ausreicht.

Schlecht regiert zu werden, ist kein alleiniges Schicksal der Deutschen. Die Bildungsmisere ist auch in der Schweiz ein Dauerbrenner. Überall in Europa herrscht eine Stimmung des Niedergangs und des Zerfalls dessen, was einmal als abendländische Zivilisation galt. Doch in der Bundesrepublik ist das Ohnmachtsgefühl besonders ausgeprägt, und das hat viel damit zu tun, wie in den letzten zwei Jahrzehnten Politik betrieben wurde.

In diesem Zeitraum erodierte das Vertrauen in die Politik exponentiell. Es begann mit der Euro-Krise. In ihr litten andere Länder materiell mehr, in Deutschland aber wurden grosse Versprechen gebrochen: Der Maastrichter Stabilitätspakt war Makulatur; die Euro-Zone mutierte zur Schuldenunion. Es war die Geburtsstunde der AfD. Keine der etablierten Parteien formulierte eine Alternative zur alternativlosen Politik des Kanzleramts.

Dann kam die Flüchtlingskrise. Nicht nur Angela Merkel, sondern auch der grosse Chor der schwarz-rot-grünen Konformisten versicherte: «Wir schaffen das.» Sie schafften es nicht, was die Konformisten aber nicht daran hinderte, weiterzumachen.

In der Pandemie verlangte die Politik abermals Kadavergehorsam. Die autoritäre Seuchenpolitik schützte die Bevölkerung nicht besser als die liberalere Haltung in Ländern wie der Schweiz. Trotzdem warf die stärkste Partei der Regierung in Bern eine «Corona-Diktatur» vor. In Berlin hingegen herrschte Einheitsbrei.

Die Bürger sind ebenfalls schuld an der Misere, denn sie erwarten zu viel vom Staat

Politik heisst, Alternativen aufzuzeigen. Es gibt nie nur eine Wahrheit. Es gibt nie nur eine Lösung. Wer dies behauptet, sät Misstrauen. Doch die deutsche Politik funktioniert in dem Modus der Ausschliesslichkeit, und nichts verkörpert das mehr als eine grosse Koalition.

Zugleich begannen die Gewählten, die Wähler zu beschimpfen. Der politisch-publizistische Komplex denunzierte konträre Meinungen als «Wutbürgertum».

Den Begriff prägte der «Spiegel» als Reaktion auf die Demonstrationen gegen den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs. Während das Blatt die Wutbürger dafür schalt, gegen eine weitsichtige Verkehrspolitik zu protestieren, wussten diese es besser. Nachdem in Serie Kostengrenzen und Fertigstellungstermine gebrochen worden sind, ist der Bahnhof noch immer nicht fertig. Die angeblichen Wutbürger behalten recht, Politik und Publizistik blamieren sich.

Dasselbe Schauspiel wiederholte sich in der Pandemie. Wo immer sich Widerstand gegen die Zwangsmassnahmen regte, hagelte es Begriffe wie «Schwurbler» oder «Verschwörungstheoretiker». Verfassungsschutz und Gerichte wurden aktiv.

Wer Fehler zugibt und sich lernfähig zeigt, schafft Vertrauen. Auch das ist Politik.

Wer dieselben Irrtümer immer wieder begeht, weckt Ohnmachtsgefühle und Zorn. David Cameron reagierte auf die Europamüdigkeit der Briten mit einem Referendum. Emmanuel Macron nahm sich Zeit für die Gelbwesten. Nur das Raumschiff Berlin zieht stur und einsam seine Kreise. Zehn lange Jahre dauerte es, bis sich die Migrationspolitik änderte.

In einem Punkt sind sich Wähler und Gewählte in Deutschland sehr nahe. Sie überschätzen die Kraft des Staates. Selbst der autoritäre Staat hat Grenzen, und in Demokratien ist das sogar erwünscht. Wer anderes erwartet, wird enttäuscht. Dann nimmt der Frust zu.

Statt die Möglichkeiten der Politik realistischer zu betrachten, wiederholen die Bürger denselben Fehler unbeirrt. Der Staat soll mehr zahlen, mehr leisten, sich mehr kümmern.

Das klassische Beispiel ist die Rente. Das umlagefinanzierte System ist kollabiert und hält sich nur mit Steuermilliarden über Wasser. Dennoch scheitern alle Reformversuche. Sie würden die Bereitschaft der Bürger zur Selbstverantwortung voraussetzen, und das ist angesichts der Staatsverliebtheit unwahrscheinlich.

Dreimal in diesem Jahrtausend regierte in Berlin eine schwarz-rote Koalition. Dreimal wurde sie zum Symbol des lauwarmen Einheitsbreis. Warum sollte es im vierten Anlauf anders werden? Union und Sozialdemokraten sind Gefangene ihrer konträren Politikentwürfe. Die Mehrheiten lassen nur Stillstand zu, solange ein Bündnis mit der AfD ausgeschlossen bleibt. In diesem System sind auch gute Politiker ziemlich machtlos.

Das hindert sie allerdings nicht daran, den Wählern das Blaue vom Himmel zu versprechen. Friedrich Merz ist ein Meister darin, Erwartungen zu wecken, die er nicht erfüllen kann. Sein Herbst der Reformen wird ziemlich sicher ein Rohrkrepierer.

Das ist das eigentliche Drama: Alle fühlen sich ohnmächtig, alle sehen nur Sachzwänge und Besitzstände. Oder sie überschätzen den politischen Gestaltungsspielraum erheblich. So wächst der Frust weiter, und alles bleibt beim Alten, im Grossen wie im Kleinen.

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