17 August 2025

Untergetaucht – und dann? Der deutsche Staat verliert den Überblick über Migranten (NZZ)

Untergetaucht – und dann?
Der deutsche Staat verliert den Überblick über Migranten (NZZ)
Tausende Asylverfahren wurden in diesem Jahr in Deutschland eingestellt, weil die Antragsteller sich nicht mehr bei den Behörden meldeten. Der Staat weiss nur wenig über diese Personengruppe.
Anna Schiller, Berlin
Der Innenminister Brandenburgs, René Wilke, forderte kürzlich, untergetauchten Asylbewerbern den Anspruch auf Asyl zu entziehen. «Denn wie soll man einem Bürger erklären, dass da jemand ist, der hierherkommt und eine Prüfung seines Asylantrags möchte, sich dann aber dem Verfahren entzieht?», fragte er. Der Staat könne sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen.
Eine Zahl lieferte sein Ministerium gleich mit: Vom 1. Januar bis zum 17. Juli dieses Jahres soll allein in dem ostdeutschen Bundesland in 855 Fällen nach untergetauchten Asylbewerbern gefahndet worden sein. Es fragte sich, wie die Lage dann erst in ganz Deutschland aussehe, wenn schon in einem Bundesland mit gerade einmal zweieinhalb Millionen Einwohnern so viele Asylbewerber untertauchten. Das klang nach einem grösseren Problem.
Wilkes Forderung hatte allerdings einen Haken: Sie ist im Grunde bereits Gesetz.
Laut dem deutschen Asylgesetz wird ein Asylverfahren eingestellt, «wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt». Das ist etwa der Fall, wenn er einen Monat lang nicht auf Briefe reagiert, geforderte Unterlagen nicht einreicht, Anhörungen verpasst oder eben «untergetaucht» ist – dieses Wort steht so im Gesetz.
Die Hürden dafür, ein Asylverfahren einzustellen, sind eher niedrig

Aber ab wann gilt ein Asylbewerber als untergetaucht? Nachfrage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das in Deutschland für Asylmigranten zuständig ist. Die Definition des Amtes ist denkbar einfach: Dann, «wenn der Antragsteller für die staatlichen Behörden nicht mehr auffindbar ist».
In der Praxis läuft es so ab: Stellt die zuständige Ausländerbehörde fest, dass ein Asylbewerber seit längerer Zeit nicht auf Briefe reagiert oder nicht in seiner Unterkunft anzutreffen ist, leitet sie diese Information an das Bamf weiter. Das Amt stellt das Verfahren nach einer angemessenen Prüfung ein. Die Hürden dafür, einen Asylbewerber zu einem Untergetauchten zu erklären, sind also bereits eher niedrig.
Man kann dem Bamf eher nicht vorwerfen, dass es sich von untergetauchten Migranten auf der Nase herumtanzen lasse. Im Gegenteil: Es kommt immer wieder vor, dass Gerichte das Amt dafür rügen, dass es Migranten zu voreilig als untergetaucht eingestuft und ihr Asylverfahren eingestellt hat.
Das Bamf muss Untergetauchten nicht nachspüren
Im vergangenen Jahr klagte etwa ein Asylbewerber aus der Türkei erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht in München gegen die Einstellung seines Verfahrens. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass das Bamf nicht ordentlich geprüft hatte, ob der Mann tatsächlich untergetaucht war.

Die zuständige Ausländerbehörde hatte den Mann als «unbekannt verzogen» gemeldet, das Bamf stellte das Verfahren daraufhin ein. Der Mann gab zu seiner Verteidigung jedoch an, dass er schlichtweg nicht immer zur Anwesenheitskontrolle in der Flüchtlingsunterkunft in seinem Zimmer gewesen sei.

Das Gericht gab ihm recht. Viel verlangte es vom Bamf allerdings auch nicht. Das Amt müsse keine langwierigen Nachforschungen anstellen. Man hätte aber erwarten können, dass es zumindest noch einmal beim Anwalt des Mannes nachhake. In diesem Fall hatte es sich das Bamf also zu leicht gemacht.

Tausende Verfahren wurden in diesem Jahr eingestellt

Der Mann ist einer von Tausenden, deren Verfahren jedes Jahr mit dieser Begründung eingestellt wird. Im ersten Halbjahr 2025 stellte das Bamf nach eigenen Angaben 7264 Asylverfahren ein, weil die Migranten nicht mehr zu erreichen waren. Im selben Zeitraum hat das Bundesamt insgesamt über 158 753 Erst- und Folgeanträge entschieden. Im gesamten Jahr 2024 waren es 11 782 Einstellungen, bei insgesamt 301 350 entschiedenen Fällen.

Aber was passiert dann? Ist das Asylverfahren eingestellt, ist das Bamf erst einmal nicht mehr zuständig. Man könnte also meinen, nun übernehme eine andere Behörde. Im Vergleich zur Zahl aller Asylbewerber geht es zwar um eher wenige Personen, aber immerhin um Tausende, die einfach untertauchen, sich also womöglich illegal in Deutschland aufhalten. Dass Brandenburg eine konkrete Zahl zu den Fahndungen nennen kann, suggeriert zumindest, dass wohl nach ihnen gesucht wird.

Eine Anfrage bei den fünfzehn anderen Bundesländern liefert allerdings ernüchternde Ergebnisse. «Eine statistische Auswertung im Sinne der Fragestellung ist nicht möglich», heisst es aus vielen Ländern fast gleichlautend. Ausser Brandenburg kann kein einziges Bundesland mitteilen, nach wie vielen untergetauchten Asylbewerbern derzeit gefahndet wird.

Die anderen Bundesländer können keine Zahlen nennen

Im Gegenteil, einige Länder und Behörden äussern gar Verwunderung über die Zahl aus Brandenburg. Manche fragen, ob man wisse, wie die Kollegen dort auf die Zahl gekommen seien. Dort teilt man mit, die Zahlen stammten von der Zentralen Ausländerbehörde des Landes, die das Landeskriminalamt bittet, nach den Asylbewerbern zu fahnden.

Bei den anderen Bundesländern scheitert eine Antwort auf die Frage allerdings an der Technik. Auf Nachfrage erklären mehrere Länder, dass sie keine der gängigen Datenbanken nach den Schlagwörtern «Asylbewerber» und «untergetaucht» durchsuchen könnten. Sie könnten höchstens alle im System erfassten Fahndungen händisch durchsehen.

Allein im Polizeilichen Informationssystem (Inpol), das vom Bundeskriminalamt betrieben wird, gab es zum Stichtag 1. Juli 2023 432 581 Ausschreibungen zur Aufenthaltsermittlung. Diese Fälle einzeln aufzurufen, um herauszufinden, ob es sich dabei um einen untergetauchten Asylbewerber handelt, würde Ewigkeiten dauern.

Deutschland hinkt bei den Daten hinterher

Aber selbst wenn sich die Länder diese Mühe machen würden, gäbe es noch eine weitere Hürde. Nicht alle Behörden in Deutschland können einsehen, weshalb eine Person zur Fahndung ausgeschrieben ist – also etwa weil er oder sie als untergetaucht gilt. Laut dem Bundeskriminalamt hat dies unter anderem Datenschutzgründe.

Es gibt also grundsätzlich auch in den anderen Bundesländern Informationen zu untergetauchten Asylbewerbern, nach denen gefahndet wird. Sie sind aber selbst für die Behörden nicht transparent einsehbar.

Die Migrationsforscherin Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hat bei ihrer Arbeit immer wieder mit schlechten Datenlagen zu tun. Sie hat international geforscht, etwa in den USA und Mexiko. Ihr Urteil ist deutlich: «Deutschland hinkt, was Statistiken zur Migration betrifft, im internationalen Vergleich hinterher.»

Wissenschafterinnen wie Rietig stossen regelmässig auf Hürden. Mal verhindert der Datenschutz den Zugang zu Zahlen, mal mauern die Behörden. Oft sind die Daten auch schlicht nicht vergleichbar, da sie aufgrund des deutschen Föderalismus in jedem Bundesland unterschiedlich erhoben werden.

Der Staat weiss wenig über Migranten mit illegalem Aufenthaltsstatus

Die Zahlen des Bamf zu den Asylverfahren, die wegen «Nichtbetreibens» eingestellt werden, hält Rietig für «ziemlich aussagefrei». Die Gruppe jener, die nach einem ersten Behördenkontakt untertauchten, sei relativ klein. Politisch bedeutsamer ist aus ihrer Sicht die Zahl derer, die ohne Duldung ausreisepflichtig sind oder nach Visumsende nicht ausreisen und untertauchen.

Doch auch hier sind belastbare Zahlen rar. Die letzten wissenschaftlichen Schätzungen stammen aus dem Jahr 2019. Damals kam das amerikanische Pew Research Center auf 390 000 bis 590 000 vollziehbar ausreisepflichtige oder untergetauchte Personen in Deutschland. Zwar wurden an der Methodik der Studie später Zweifel geäussert, doch laut Rietig, die die Studie damals im Peer-Review-Verfahren begutachtete, sind es noch immer die aktuellsten Schätzungen für Deutschland.

Gemessen daran, dass die Migration seit vielen Jahren eines der drängendsten Themen in der deutschen Politik ist, ist diese dürftige Datenlage bemerkenswert. Auch die gegenwärtige Regierung hat sich den Kampf gegen die illegale Migration auf die Fahnen geschrieben. Das genaue Ausmass zu kennen, wäre dabei ein logischer erster Schritt.

Brandenburg will Gesetzeslücke schließen

Wie wichtig eine bessere Übersicht wäre, zeigt auch der Messerangriff von Aschaffenburg, der massgeblich zur härteren Migrationspolitik der gegenwärtigen Regierung beigetragen hat. Im Januar griff ein ausreisepflichtiger Afghane in der bayrischen Stadt eine Kindergartengruppe an. Dabei verletzte er drei Personen, ein Mann und ein Kleinkind starben.

Bereits einen Tag nach dem Angriff schoben sich das Bundesinnenministerium und die bayrischen Behörden gegenseitig die Schuld zu. Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann warf dem Bamf Untätigkeit vor. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser war der Ansicht, in Bayern seien einige Dinge schiefgelaufen. Verantwortlich für den ausreisepflichtigen Afghanen fühlte sich keiner.

Der brandenburgische Innenminister Wilke will nun zumindest eine Gesetzeslücke schliessen. Auf Anfrage präzisiert sein Ministerium die Forderung noch einmal. Es gehe darum, Missbrauch gezielter zu verhindern. Der Bund müsse prüfen, ob «ergänzende Regelungen» möglich seien, etwa für jene Fälle, «in denen das Untertauchen erkennbar der bewussten Umgehung des Asylverfahrens dient».

Geht es nach dem Innenministerium in Brandenburg, sollen diese Personen nicht einfach eine Wiederaufnahme beantragen können, wie es bislang der Fall ist. Innenminister Wilke will sich dafür bei der Innenministerkonferenz oder im Bundesrat einsetzen. Doch um diese Pläne umzusetzen, wären konkrete Zahlen aus den anderen Ländern sicherlich hilfreich.

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