04 August 2025

Terroristen unter uns - Im Visier der Hamas (Cicero)

Terroristen unter uns
-
Im Visier der Hamas (Cicero)
In Berlin läuft ein aufsehenerregender Prozess gegen vier mutmaßliche Hamas-Anhänger, die Anschläge in Deutschland geplant haben sollen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Der lange Arm der Terrororganisation Hamas reicht schon längst bis in die Bundesrepublik und das tiefer denn je.
VON CLEMENS TRAUB am 4. August 2025 17 min
Die Sicherheitsvorkehrungen für Saal 142 sind massiv. Laptops, Rucksäcke und Jacken müssen in einem Spind verstaut werden. Mit einem Metalldetektor suchen die Beamten nach gefährlichen Gegenständen. Selbst die Schuhe müssen ausgezogen werden, um die Füße absuchen zu können. Und wer das Prozedere erfolgreich durchlaufen hat, sitzt anschließend dennoch hinter einer dicken Glasscheibe, welche die Zuschauer vom eigentlichen Gerichtssaal im Strafsenat des Berliner Kammergerichts in Moabit trennt.
Auf den Beobachterbänken flüstern vereinzelt Frauen mit Kopfverschleierung. Die Stimmung ist angespannt. Ein Dolmetscher übersetzt aus dem Arabischen. Die Angeklagten – Abdelhamid Al A., Ibrahim El-R., Mohamed B. und Nazih R. – sitzen wie in einem Glaskäfig. Sie stehen wegen des Verdachts auf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland“ seit Februar 2025 vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, als Auslandsoperateure der Hamas gearbeitet und für Waffendepots in Polen, Bulgarien und Dänemark zuständig gewesen zu sein.
Deutschland: Noch Rückzugsort oder schon Ziel?
Es ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Bundesanwaltschaft spricht von einem „Pilot-Verfahren“: Erstmals läuft ein Prozess gegen Hamas-Operateure, die wohl gezielt nach Europa geschleust wurden – mit dem Ziel, Anschläge zu ver­üben. Doch dieses Verfahren in Berlin ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn der lange Arm der Hamas, das wird bei den Recherchen zu diesem Beitrag deutlich, reicht längst weit hinein in die deutsche Gesellschaft – und über Tarnorganisationen und widersprüchliche Clan-Verbindungen bis hin zu gezielter Propaganda auf Social Media. Eine Terrororganisation aus Nahost hat die Bundesrepublik im Visier.
In den Monaten vor und nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober 2023 gegen Israel sollen die Männer, die in Berlin vor Gericht stehen, in Europa nervös nach Waffendepots gesucht haben, ehe sie nach einer intensiven Phase der Observation festgenommen wurden – drei der Beschuldigten in Berlin und einer in Rotterdam. Die 160 Seiten umfassende Anklage nennt mehrere potenzielle Anschlagsziele: die israelische Botschaft, das Tempelhofer Feld in Berlin und die US-Airbase Ramstein. Und einmal mehr soll ein „ausländischer Geheimdienst“ – mutmaßlich der israelische Geheimdienst Mossad – dafür die Hinweise geliefert haben.Dabei galt Deutschland aus Sicht des Verfassungsschutzes über Jahre hinweg lediglich als ein Rückzugsort für die Hamas in ihrem Terrorkampf gegen Israel. Eine Vorstellung, die sich nicht nur beim Prozess in Berlin nun möglicherweise als Illusion herausstellt: „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es noch weitere Terroristen und Waffendepots der Hamas in Europa gibt, von denen wir bisher nichts wissen“, sagt etwa der Hamas-Experte Hans-Jakob Schindler, der das „Counter Extremism Project“ in Berlin und New York City leitet, im Gespräch mit Cicero.

Nach Angaben der Bundesanwaltschaft handelten die vier Beschuldigten im Auftrag von Khalil Al Kharraz – dem stellvertretenden Kommandeur der Kassam-­Brigaden im Libanon, dem militärischen Arm der Hamas. Laut der Anklageschrift hatten die Verdächtigen innerhalb der Hamas „wichtige Positionen mit unmittelbarer Anbindung an Führungskräfte des militärischen Flügels“ inne. Aus dem Libanon soll Al Kharraz die operativen Aktivitäten der Männer „befehligt“ und „gesteuert“ haben. Wie konkret die Anschlagspläne bereits waren und ob es eine Abstimmung mit der politischen Führung der Hamas in Katar gab – wo die Elite der Organisation bis heute in Doha unbehelligt lebt –, ist derzeit noch unklar.

Palästinensischer Terror hat eine lange Geschichte

In den vergangenen Wochen hat Israel zahlreiche führende Hamas-Mitglieder in Gaza getötet, weshalb Experten die Terrororganisation dort mittlerweile im Kampf um ihr Überleben sehen. Sicherheitskreisen zufolge soll es innerhalb der Hamas tiefe Meinungsverschiedenheiten darüber geben, ob Anschläge in Europa geplant oder ausgeführt werden sollen. „Palästinensischer Terror war insbesondere in den 1970er Jahren ein durchaus wirkungsvolles Mittel, um politischen Druck auf westliche Regierungen auszuüben“, erklärt Schindler. Deutschland, als zweitgrößter Waffenexporteur nach Israel, könnte in diesem Szenario ein besonders interessantes Ziel für die Hamas sein.

Neben möglichen koordinierten Aktionen geht nach Einschätzung des Verfassungsschutzes vor allem eine erhebliche Gefahr von radikalisierten Einzeltätern aus. Die teils erschütternden Bilder aus Gaza sorgen weltweit für starke Emotionen. Zugleich befeuert die Propaganda der Hamas antisemitische Stimmungen und schürt Hass auf Israel. Und das durchaus mit Erfolg: Im Oktober 2023 versuchten Unbekannte, Molotowcocktails auf eine Synagoge in Berlin-Mitte zu werfen. Ein 18-jähriger Österreicher schoss im September 2024 auf das israelische Generalkonsulat in München.
Ihr radikales politisches Ziel brachte die Hamas bereits 1988 in einer Charta unmissverständlich zum Ausdruck: die vollständige Vernichtung des israelischen Staates. Seit 2001 führt die Europäische Union die Hamas auf ihrer Liste terroristischer Gruppierungen. In Deutschland ist im November 2023 ein Betätigungsverbot gegen die radikal-islamistische Organisation ausgesprochen worden – als unmittelbare Reaktion auf die verheerenden Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel. Seither sind im Bundesgebiet alle Aktivitäten und das öffentliche Verwenden von Symbolen oder Propaganda der Hamas untersagt.

Professionell, strukturiert, vernetzt

Die Hamas lässt sich dennoch nicht davon abhalten, seit Jahren systematisch verschleierte Strukturen in Europa aufzubauen. Nicht nur die hohe Militanz der Organisation, sondern auch ihr Grad an Professionalität stellen unsere Sicherheitsbehörden vor große Herausforderungen. Nach Schätzungen umfasst die Hamas in Deutschland rund 450 Mitglieder, zudem ist von mehreren Tausend Unterstützern die Rede. Laut dem Verfassungsschutzbericht von 2022 will die Hamas in Deutschland „Spenden sammeln, neue Anhängerinnen und Anhänger rekrutieren und ihre Propaganda verbreiten“.

Wenn es um die Hamas-Hintermänner in Deutschland geht, fällt unter Szenekennern immer wieder ein Name: Majed Al-Zeer. Der Mann aus dem Westjordan­land, der in seinem Wohnumfeld betont bieder auftritt, soll laut Informationen der Welt bis zuletzt noch in einem Haus in Berlin gelebt haben. Der 63-jährige Al-Zeer stand über viele Jahre an der Spitze der NGO Palestinian Return Centre, die laut Verfassungsschutz eine zentrale Propagandaorganisation der Hamas in Europa ist.

In einer im Oktober erschienenen Presseerklärung des amerikanischen Finanzministeriums wird Al-Zeer außerdem als zentrale Figur bei der Beschaffung von Geldern bezeichnet – und als ranghöchster Vertreter der Hamas in Deutschland.

Laut ZDF-Recherchen soll Al-Zeer zuständig sein für ein in ganz Europa agierendes Netzwerk aus Hamas-nahen Lobbygruppen. Häufig treten die von Al-Zeer geleiteten NGOs in der Öffentlichkeit als harmlose palästinensische Interessenvertreter auf: so auch der sogenannte EUPAC (European Palestinian Council for Political Relations) mit Sitz in Brüssel. Laut Europol-­Akten, die dem ZDF exklusiv vorliegen, soll Al-Zeer in der Vergangenheit immer wieder transnationale Treffen mit Hamas-Funktionären organisiert haben.

„Die Massenmobilisierung auf den Straßen und europaweite Konferenzen mit mehreren Tausend Teilnehmenden sind allerdings ohne europäische und internationale Netzwerke von der Muslimbruderschaft nahestehenden und inspirierten Organisationen kaum denkbar“, erklärt Kim Robin Stoller vom Internationalen Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung. Dadurch reiche der Einfluss weit über die palästinensische Community hinaus in arabisch- und türkischsprachige Bevölkerungsteile. Wichtig ist dabei ein grundlegender Zusammenhang: Die Hamas ist der palästinensische Ableger der Muslimbruderschaft im Gazastreifen. 

Neben staatlicher Unterstützung aus dem Iran, aus Katar und der Türkei stellt auch der Westen eine bedeutende Finanzierungsquelle für die Terrororganisation dar. In Deutschland fließen Gelder über ein undurchsichtiges Geflecht aus Wohltätigkeitsorganisationen und Moscheen mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft. Dazu zählten die inzwischen verbotenen Vereine Al-Aqsa, die Internationale Humanitäre Hilfsorganisation oder Ansaar International.

Firmennetzwerke in Europa finanzieren Teile des Hamas-Terrors

In den vergangenen Jahren haben sich auch neue Entwicklungen abgezeichnet: So wurden auf Zypern und in Spanien Firmen aufgedeckt, die der Hamas zugeordnet werden konnten. „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Hamas auch in Deutschland längst schon ähnliche Firmen etabliert hat“, sagt Terror­experte Schindler. 

Einer Recherche der Welt zufolge machen private Spendenaufrufe in Deutschland und Europa jedoch den größten Anteil aus – oft getarnt als humanitäre Hilfsleistungen und verbreitet über soziale Netzwerke. Nach Angaben ausländischer Sicherheitsbehörden sollen im Jahr 2024 auf diese Weise Gelder in Höhe von rund 100 Millionen Euro an die Hamas geflossen sein.

Als zentrale Anlaufstelle der radikalen propalästinensischen Szene galt lange Zeit der seit November 2023 verbotene Verein Samidoun. In den vergangenen Monaten ist die extremistische Gruppe Masar Badil zunehmend in den Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden geraten: 2024 warnte der Berliner Verfassungsschutz vor der links-palästinensischen Organisation, die enge Verbindungen zur Hamas unterhalten soll. Beobachter stufen die Gruppe in Deutschland als direkte Nachfolgeorganisation von Samidoun ein.

Masar Badil richtet regelmäßig Webinare und Veranstaltungen aus, die der radikalisierten Palästina­szene eine engere Vernetzung mit Funktionären der Hamas und der linken, panarabischen PFLP ermöglichen sollen. Die sich als antiimperialistisch und antizionistisch verstehende Organisation möchte gezielt Studenten für die Hamas-Propaganda gewinnen: „Es ist Zeit für eine revolutionäre Eskalation der globalen Studierenden“, lautet einer ihrer Slogans. Es waren auch immer wieder Aktivisten von Masar Badil, die an Besetzungen deutscher Universitäten teilnahmen – wie etwa an der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2024.

Hamas-Propaganda durchdringt immer mehr Gesellschaftsschichten

„Im Westen wird häufig unterschätzt, wie strategisch die Hamas ihre Propaganda einsetzt“, sagt Schindler. Die Organisation wisse nur zu gut, dass moderner Terrorismus in erster Linie ein Kampf um die Köpfe sei – ein ideologischer Wettstreit um Narrative und Deutungshoheit. Die beliebtesten Mittel der Wahl: soziale Medien und Demonstrationen. 

Mit hochemotionalisierenden Bildern getöteter Kleinkinder, aber auch mit Begriffen wie „Genozid“ und „Apartheidstaat“, wird versucht, den Staat Israel zu delegitimieren. In der Verbreitung ihrer Narrative setzt die Hamas dabei auf dezentrale Strukturen und die propalästinensische Szene, darunter auch Influencer wie die 37-jährige Yasemin Acar.

Die Frau mit kurdisch-türkischen Wurzeln erreicht auf Instagram rund 258 000 Follower und zählt in Deutschland zu den prominentesten Stimmen in der radikalen propalästinensischen Szene. Mehrfach war in ihren Beiträgen die Parole „From the river to the sea“ zu lesen. In einem Video feierte Acar iranische Raketen auf Israel und kommentierte den Angriff mit den Worten: „Israel is a bitch.“ Auf propalästinensischen Demonstrationen in Berlin tritt Acar regelmäßig als gefeierte Rednerin auf. Im April 2025 wurde sie wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen und Angriffen auf Polizisten angeklagt. Nur einen Monat später reiste die 37-Jährige mit dem Segelschiff „Madleen“ in Richtung Gaza. Mit an Bord: Greta Thunberg.

„Die Hamas möchte sich durch ihre Propaganda ein friedliches Image geben – fern von Hinrichtungen und Vergewaltigungen“, erklärt Schindler. Unter dem Titel „Our Narrative … Operation Al-Aqsa Flood“ veröffentlichte die Terrororganisation etwa im Januar 2024 ein 16-seitiges Dokument. Darin leugnet die Organisation die Gräueltaten gegenüber der israelischen Zivilbevölkerung und stilisiert ihren Terror als antiimperialistischen Freiheitskampf. Mit einem akademischen Duktus und in englischer Sprache will die Hamas ein westliches Publikum erreichen.

„Deutschlands mutigste Demonstrantin“

Wie gut die Propaganda funktioniert, zeigt sich längst auch auf angeblichen propalästinensischen Demonstrationen, vor allem in Berlin. An einem Samstag im Juli versammeln sich rund 300 Demonstranten aus der radikal-palästinensischen Szene auf der Kantstraße in Charlottenburg. Es wehen palästinensische Flaggen in der heißen Berliner Luft, auf Plakaten wird Israels Premierminister Netanjahu als Kriegsverbrecher dargestellt. Viele Demonstranten tragen Kufija, das sogenannte „Palästinensertuch“, auf Schals ist der Felsendom in Jerusalem zu sehen. Junge arabische Männer skandieren lautstark Sprechchöre, die von der Menge nachgesungen werden: Immer wieder brüllen sie „Israel is a terror state“.

Am Rande der Versammlung steht eine Frau in einem roten Sommerkleid. In der einen Hand hält sie rote Blumen, in der anderen ein Schild: „Until the last hostages“ – ein stiller Hinweis auf die mehr als 50 israelischen Geiseln, die noch immer im Gazastreifen gefangen gehalten werden. Die Frau, die das Schild hält, ist die Juristin und FDP-Politikerin Karoline Preisler. Die Bild-Zeitung nannte sie einst „Deutschlands mutigste Demonstrantin“.

Seit dem 7. Oktober 2023 steht sie fast jedes Wochenende auf antiisraelischen Kundgebungen in Berlin – mit einem Schild in der Hand und einer Blume, die längst zu ihren Markenzeichen geworden sind. „Ich möchte nicht hinnehmen, dass dieser Israelhass unwidersprochen auf deutschen Straßen stattfinden kann“, sagt Preisler gegenüber Cicero. Und fügt an: „Meine Wahrnehmung ist, dass die Demonstrationen von Monat zu Monat immer aggressiver werden – das Gewaltpotenzial wächst.“

Was Preisler meint, wird auch an diesem Tag deutlich. Eine Frau mittleren Alters, offenkundig aus dem linken Spektrum und mit Kufija bekleidet, formt mit ihrer Hand eine Pistole, mit der sie auf Preisler feuert. Ein älterer arabischer Mann mit dünnem Haar schreit wiederholt „Hure“ in ihre Richtung. Und immer wieder versuchen männliche Demonstranten, den um Preisler herum gebildeten Polizeiring zu durchbrechen. „Wenn ich den Schutz der Polizei nicht hätte, würde ich auf offener Straße hingerichtet werden“, sagt sie.

Preislers neue Lebensrealität

Das Ausmaß der Gewaltandrohungen gegen Preisler schockiert. Bis zu zehn Morddrohungen erhalte sie an durchschnittlichen Tagen auf Twitter und Instagram von zumeist linken und arabischen Personen: „Ich treffe auf eine fürchterliche Machokultur. Die Drohungen sind in erheblichem Ausmaß sexuelle Gewaltfantasien“, sagt sie. Die Sicherheitslage ist ernst: Zweimal hat der Staatsschutz Preisler bereits angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie ihre Wohnung wegen akuter Sicherheitsbedenken für den Besuch einer Demonstration nicht verlassen sollte. „Das ist leider meine neue Lebensrealität“, sagt Preisler.

Es folgt eine Lautsprecherdurchsage der Polizei. Der Demonstrationszug wird an der Ecke Wielandstraße gestoppt – zu viele Straftaten seien begangen worden. Demonstranten sollen unter anderem den bereits 2024 getöteten Hamas-Chef Yahya Sinwar gefeiert haben. Als die Polizisten gezielt Verdächtige aus der Menschenmenge ziehen, entsteht Hektik: Laute Schreie, junge Männer stürmen herbei und filmen mit ihren Smartphones. Es sind immer wieder die gleichen Szenen. „Das sind häufig junge Männer aus dem islamistischen Spektrum – das Videomaterial wird später auf Telegram und Tiktok für Propaganda genutzt“, weiß Preisler. Und immer wieder kommt es auf Demonstrationen wie dieser auch zu Gewalt gegen Polizisten und Journalisten.

Die Bilanz des Tages: 18 Festnahmen – unter anderem wegen Widerstands gegen Einsatzkräfte, dem Rufen verbotener Parolen und dem Zeigen illegaler Symbole. Eine junge Frau in schwarzem Rock läuft weinend aus der Menschenmenge: „Hättet ihr das auch gemacht, wenn ich eine Bio-Deutsche wäre? Das ist rassistisch!“, schreit sie einen der Beamten an. Kurz vor Schluss der Demonstration sucht Preisler das letzte Mal den Kontakt – und macht eine Beobachtung: „Schauen Sie, der junge Mann und die ältere Frau gehören beide dem Barbakh-Clan an. In Berlin haben sie viel zu sagen.“

Mehr als 300 Familienmitglieder des aus Khan Yunis in Gaza stammenden Barbakh-Clans sollen schätzungsweise bereits in Berlin leben – die meisten von ihnen in Neukölln und Kreuzberg. Laut Medienberichten lehnt der Clan in Gaza die Herrschaft der Hamas im Süden des Gazastreifens ab. In Berlin hingegen positionieren sich Teile des Clans anders: Mitglieder der Familie haben wiederholt Fotos und Videos mit Hamas-Dreiecken und Parolen gepostet, in denen sie sich als Al-Kassam-Jugend bezeichnen. Doch sie nutzen nicht nur Tiktok und Instagram in ihrem antiisraelischen Kampf: Bei großen propalästinensischen Demonstrationen in Berlin treten sie häufig als Ordner auf und sollen eine wichtige Rolle bei der Organisation der Kundgebungen spielen. Über 360 Verfahren gegen Mitglieder des Barbakh-Clans verzeichnet die Polizei – zumeist wegen Volksverhetzung und Körperverletzung.

Der letzte Widerstand gegen die „Widerstandskämpfer“

Der lange Arm der Hamas-Unterstützer reicht also bereits bis tief in deutsche Großstädte hinein. Das musste auch Huthaifa Al-Mashhadani in Berlin-Neukölln erfahren. Geschockt war der Vorstandsvorsitzende der Ibn-Khaldun-Sprachschule, als er im Januar dieses Jahres mehrere rote Hamas-Dreiecke im Eingangsbereich seiner Einrichtung entdeckte. Mit einem Smartphone hat er die Schmierereien dokumentiert: Neben den Dreiecken prangen auch arabische Schriftzüge an den Wänden. Parolen wie „Wir sind stolz auf den Widerstand“ und „Verräter“ sind zu lesen. Sein Name ist auf dem Klingelschild mit roter Farbe durchgestrichen. Für Al-Mashhadani steht fest: „Das ist eine Morddrohung.“

Für den gebürtigen Iraker und seine Sprachschule ist dies kein Einzelfall. Wenige Monate vor dem Vorfall warfen Unbekannte bereits einen Stein in eines der Klassenzimmer. Die Splitter der zerbrochenen Fensterscheibe verletzten drei Schüler. Im Juni 2025 verteilten Anhänger der Hamas auf dem Neuköllner Herrmannplatz, der nahen Karl-Marx-Straße und der Sonnenallee einen Drohbrief. In arabischer und englischer Schrift war zu lesen: „Der Anschlagsversuch auf Al-Mashhadani ist gescheitert – vorerst zumindest.“ Unterschrieben ist der Brief mit den Worten „Islamischer Widerstand – Hamas“.

Spätestens seit seiner deutlichen Verurteilung des Terrors vom 7. Oktober gilt der Politologe als Feindbild der radikalen Hamas-Anhänger in Berlin. Und noch etwas ist der Hamas-Szene ein Dorn im Auge: Al-Mashha­dani sucht mit seiner Sprachschule den Kontakt zur jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt. Im April 2024 besuchte eine israelische Klasse die Sprachschule in Neukölln. „Die Schüler haben sich sofort verstanden, bis heute besteht der Kontakt zu ihnen.“

Ohne Polizeischutz kein Unterricht

Die säkulare Sprachschule hat einen Seltenheitswert in Neukölln. Frei von ideologischen oder religiösen Zielen und ohne ausländische Finanzierung steht der Bildungsauftrag an erster Stelle. „Die arabischen Eltern unserer Schüler möchten das Beste für ihre Kinder und entscheiden sich bewusst gegen eine Moschee im Hinterhof“, erzählt Al-Mashhadani stolz. „Diese Eltern sind den ideologischen Hass und den religiösen Eifer leid und möchten einfach nur ein friedliches und ruhiges Leben.“
Der Erfolg der Sprachschule lässt sich auch in Zahlen messen: Während vor dem 7. Oktober 2023 rund 400 Kinder die Schule besuchten, sind es heute weit über 700. Aufgrund des Andrangs mussten zwei religiöse Sprachschulen in unmittelbarer Nachbarschaft sogar schließen. Sie wurden nicht mehr gebraucht.

„Für die Hamas und ihre Anhänger ist unsere Schule wie ein abtrünniges Wespennest“, sagt Al-Mashha­dani. Immer wieder kommt es vor, dass Unterstützer der Hamas gezielt die Eltern abfangen – teilweise vor ihren Wohnungen. Selbst vor dem Schulgebäude zwischen Baklava-Bäckereien und Schawarma-Restaurants patrouillierten regelmäßig arabische Männer. Sie erzählten den Eltern, bei dem Schulgründer Al-Mashhadani handle es sich in Wahrheit um einen israelischen Spion. Bereits 39 Schüler seien infolgedessen von der Schule abgemeldet worden.

An den Anblick des Polizeiwagens haben sich die Schüler in der Uthmannstraße längst gewöhnt. Es sind Beamte des LKA, die den Eingangsbereich der Sprachschule sichern. Doppelte Fensterscheiben sorgen in den Klassenräumen nun für zusätzlichen Schutz. Ohne den engen Kontakt mit der Berliner Polizei wäre Al-Mashha­danis Arbeit nicht denkbar, sagt er: „Dann müssten wir Angst um unser Leben haben.“

Und Karoline Preisler – die sich auf Demonstrationen immer wieder ernsthaften Gefahren aussetzt –, wie blickt sie in die Zukunft? „Ich stehe im Fadenkreuz der Hamas – zu behaupten, ich hätte keine Angst vor einem Attentat, wäre eine Lüge“, sagt die vierfache Mutter. „Doch bis zu diesem Tag möchte ich mir nicht vorwerfen lassen müssen, nicht alles für die Freiheit der Geiseln, meiner Kinder und der zukünftigen Generation in Deutschland getan zu haben.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen