18 August 2025

Business Class Edition Wirtschaftswachstum: Der Statistik-Schmu

 „Nicht alles ist so schlimm, wie es scheint. Vieles ist noch viel schlimmer.“
The Pioneer
Wirtschaftswachstum: Der Statistik-Schmu
Gabor Steingart, 11.08.2025 (Überarbeitete Fassung aus Focus Online 18.08.2025)
Guten Morgen,
in der Theorie ist alles wunderbar: Unsere Statistikbehörden sind zur politischen Neutralität verpflichtet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – das vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden gemessen wird – ist demnach keine Zahl von roten, schwarzen oder grünen Politikern, sondern gilt als Seismograph der wirtschaftlichen Stärke unseres Landes.
Es addiert den Wert aller im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen. Wenn das BIP steigt, ist das Land auf Wachstumskurs. Jede Regierung nutzt diese Zahl als Ausweis ihres Erfolgs.
Doch die Theorie wird von der politischen Wirklichkeit verformt. Die Wachstumszahl ist nicht so unpolitisch, wie sie sein sollte. Sie liefert uns seit vielen Jahren eine Wohlstandsillusion. Die Bundesbürger werden vierfach getäuscht.
Täuschung #1: Die Behörde hat sich „verrechnet“
Kaum ist die Ampelregierung abgetreten, offenbart die Statistikbehörde in Wiesbaden, dass in allen drei Ampeljahren die Zahlen nicht stimmten. Seit 2022 befindet sich Deutschland nicht – wie von der Regierung Scholz/Habeck behauptet – in der Stagnation, sondern in der Rezession.
Für 2023 gibt es eine Korrektur von 0,6 Prozentpunkten nach unten auf minus 0,9. Im Jahr 2024 steht nun minus 0,5 statt minus 0,2 Prozent. Dahinter verbergen sich gewaltige Milliardensummen, die jahrelang dem Wohlstand zugerechnet wurden und sich jetzt in Luft aufgelöst haben.
Der ehemalige SPD-Finanzstaatssekretär und spätere Chefvolkswirt der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, Heiner Flassbeck, nennt das Kind beim Namen:
„Nur durch ein Nullquartal getrennt (3. Quartal 2023), ergibt sich seit Ende 2022 eine fast durchlaufende und schwere Rezession von sage und schreibe sieben Quartalen Länge. Deutschland befindet sich nicht mehr in einer Stagnationsphase, sondern in einer handfesten Rezession.“
Täuschung #2: Die Preis-Illusion durch Subventionen
Wenn der Staat ein Produkt subventioniert – zum Beispiel ein Elektroauto, das offiziell 50.000 Euro kostet, aber mit 6.000 Euro Umweltprämie vom Staat gefördert wird –, dann wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht der vom Käufer bezahlte Preis von 44.000 Euro berechnet. Vielmehr fließt der volle Listenpreis von 50.000 Euro in die Wachstumszahl ein. Das ist buchhalterisch korrekt – und ökonomisch falsch.
Denn realwirtschaftlich betrachtet wurde hier kein 50.000-Euro-Produkt verkauft, sondern eines, das nur durch einen staatlichen Zuschuss absetzbar war. Der Marktpreis kam nicht durch Angebot und Nachfrage zustande, sondern durch Umverteilung aus der Steuerkasse. Der Staat treibt das Wachstum.
Allein in 2024 – ermittelte der Kieler Subventionsbericht des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) – belief sich das gesamte Subventionsvolumen in Deutschland auf 285,3 Milliarden Euro oder knapp sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts – davon entfällt ein signifikanter Teil für Umweltprämien, energetische Sanierungen, Wärmepumpen, Solardächer, Agrarsubventionen und Industriehilfen aller Art. So entsteht die Illusion, dass mehr verkauft wurde, als der Markt tatsächlich hergab. Das BIP misst – auch bei Milch, Obst und Wein – zu Preisen, die kein Kunde gezahlt hat.
Täuschung #3: Schulden als Wachstumsmotor
Die dritte optische Täuschung betrifft die Herkunft des Geldes. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung interessiert sich nicht dafür, ob ein Euro, der ausgegeben wird, aus laufenden Steuerzahlungen stammt – also durch reale Arbeit verdient wurde – oder aus neu aufgenommenen Schulden.

Das bedeutet: Der Staat kann Wachstum auf Pump kaufen – und tut genau das in erhöhtem Umfang. Er präsentiert uns den besten Aufschwung, den man für Geld kaufen kann.
Der Schuldenstand, der im Jahr 2000 erst bei 59,2 Prozent des Sozialprodukts lag, wird mit den neuen Schulden der Merz/Klingbeil-Regierung nach Berechnungen von Prof. Lars Feld auf 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anschwellen. Das BIP wird gesteigert – und die Belastung künftiger Generationen auch.

Täuschung #4: Der Staat betrachtet sich selbst als Wachstumsmotor

Die vierte Täuschung liegt in der Art, wie staatliche Dienstleistungen bewertet werden. Während ein privates Unternehmen sein Produkt am Markt verkauft und dessen Preis durch Angebot, Nachfrage und Wettbewerb entsteht, produziert der Staat Leistungen, die keinen Marktpreis besitzen.

Die Staatsbediensteten tauchen in den staatlichen Budgets nur als Ausgaben auf; ihre Lohn-, Papier-, Heizungs- und Computerkosten sind dort erfasst. Worin also liegt der Wert ihrer Arbeit, wenn er doch keinen Preis hat?

Die Statistiker haben sich der Einfachheit halber entschlossen, die Kosten, also den Lohn, das Papier, die Heizungsausgaben und den Computer, als Marktpreis zu betrachten. Dank dieser Verrechnungspreise, wie sie die DDR nicht besser hätte erfinden können, sind die Staatsbediensteten zu echten Schätzen in der Wachstumsbilanz geworden. Da ihre Leistungen nicht über Verkäufe bewertet werden können, kommt die „Kostenäquivalenzformel“ zum Einsatz, die nicht den Output, sondern den Input misst.

Jeder zusätzliche Bürokrat ein Gewinn, jede neue Staatsaktivität ein Aktivposten. Das in Quadratmeterzahl und Mitarbeiterstellen verdoppelte Kanzleramt, die zusätzlichen Stellen in den Ämtern der Kommunen und Länder, der neue Fuhrpark inklusive Benzin- oder Stromrechnung und jede neue bürokratische Genehmigungsstufe treiben das Wachstum:

„Nichtmarktproduktion des Staates wird über die Summe der Produktionskosten bewertet“, heißt es im Handbuch des Statistischen Bundesamtes zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.

In den Siebziger Jahren betrug der Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt noch zwischen 14 und 16 Prozent. Im Jahr 2024 machte der Staatsanteil am BIP über 20 Prozent aus. So wird das Papiergeraschel der Bürokraten vom Ärgernis zum Wohlstandsgewinn veredelt.

Die wahre Wachstumszahl liegt deutlich niedriger

Fazit: Die Statistiker in Wiesbaden wissen, dass ihre Zahl politisch missbraucht wird und keine wirkliche Aussage zur Steigerung des Wohlstands trifft. Deswegen haben sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen neuen Produktionsindex berechnet, der die staatlichen Aktivitäten (öffentliche Verwaltung, Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Sozialwesen) nicht enthält und sich auf echte ökonomische Aktivitäten echter Firmen konzentriert.
Und siehe da: Dieser Index – der in der Hauszeitung des Statistischen Bundesamtes jetzt vorgestellt wurde – liegt deutlich unter den offiziellen Wachstumszahlen, die Minister und Kanzler verkünden. Die gute Nachricht: Die Statistiker betrügen nur uns, aber nicht sich selbst.

Eine Erwiderung
Für Datenexpertin Katharina Schüller ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) politisch – seine Berechung allerdings nicht. Die folge international einheitlichen, politisch unabhängigen Standards. Ihre Antwort auf den Gastkommentar von Gabor Steingart.
Sehr geehrter Herr Steingart,
beim Lesen Ihres Beitrags zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) dachte ich an den Spruch von Michail Genin: „Nicht alles ist so schlimm, wie es scheint. Vieles ist noch viel schlimmer.“ Ja, das BIP ist nach den letzten Überarbeitungen in einigen Quartalen noch viel schlimmer, als die Stagnation es vorher erscheinen ließ. Es ist durchaus wünschenswert, eine Debatte über die Hintergründe anzustoßen. Denn das BIP ist, wie es der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Philipp Lepenies nahelegt, die wohl mächtigste Zahl der Welt.
https://www.focus.de/finanzen/news/deutsche-wohlstandsillusion-so-zeigt-das-bip-unsere-wirtschaftskraft-auf_64dcfbea-6de7-4d5e-a506-8bc95f7172a6.html

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