Gabor Steingart, Nico Giese, 12.08.2025, 7 Min
"Der wohl erschreckendste Aspekt der Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen."
#1: Die Insolvenzwelle rollt
Im Juli wurden knapp 20 Prozent mehr Regelinsolvenzen (4.007) in Deutschland verzeichnet als im Vorjahresmonat, so die vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Das ist der höchste Wert seit mehr als einer Dekade.
Bis Mai – so die endgültigen Ergebnisse der Amtsgerichte – hörten allein über 10.000 Unternehmen auf, zu unternehmen. Ihnen bleibt nicht viel mehr als die Erinnerung an sorgenvoll durchwachte Nächte – und oftmals auch Schulden.
#2: Die Industrieproduktion auf Corona-Niveau
Die
Industrieproduktion ist im Juni auf den niedrigsten Stand seit Beginn
der Corona-Pandemie im Mai 2020 gesunken. Das entspricht einem Minus von
2,8 Prozent zum Vormonat und einem Minus von fünf Prozent im Vergleich
zum Vorjahresmonat.
Die Negativtreiber: Rückgänge im Maschinenbau (saisonbereinigt minus 5,3 Prozent zum Vormonat), in der Pharmaindustrie (minus elf Prozent) und in der Nahrungsmittelindustrie (minus 6,3 Prozent).
#3: Fehlende Aufträge für Unternehmen
Knapp 37 Prozent der vom Ifo Institut befragten Unternehmen geben an, im Juli mit Auftragsmangel zu kämpfen. Im Großhandel leiden rund zwei Drittel der Unternehmen an fehlenden Aufträgen, im Automobilbau knapp 43 Prozent. Der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe, dazu:
Die Talsohle ist nicht durchschritten. Der anhaltende Auftragsmangel bleibt ein zentrales Hemmnis für eine substanzielle konjunkturelle Erholung.
#4: Bald drei Millionen Arbeitslose
Die
negative Entwicklung resultiert in steigenden Arbeitslosenzahlen. So
sind im Juli die Arbeitslosenzahlen auf 2.979.486 gestiegen, innerhalb
von nur vier Wochen kamen 65.000 neue Arbeitslose hinzu. Im Vergleich
zum Vorjahresmonat waren es sogar 171.000 Menschen mehr, die nun auf der
Straße stehen.
Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, kann eine Trendwende nicht erkennen: „Wir werden im August wahrscheinlich die drei Millionen überschreiten“. Das wäre das erste Mal seit einer Dekade.
#5: Wohnungsbau im Rückwärtsgang
Die Baustarts im Wohnungsbau sind von Ende 2022 bis Mitte 2025 um etwa 85 Prozent eingebrochen. 2025 werden voraussichtlich weniger als 200.000 Neubauwohnungen fertiggestellt – deutlich unter dem jährlichen Bedarf von mindestens 320.000 und nur die Hälfte dessen, was Olaf Scholz einst als sein Ziel ausgegeben hatte.
#6: Konsumenten verweigern sich
Wie
bereits im Juni und Juli lässt sich eine positive Verbraucherstimmung
nicht feststellen. Während die Anschaffungsneigung – so die Zahlen des Nürnberg Institut für Marktentscheidungen (NIM) – weiterhin nachlässt, stieg die Sparneigung im Juli erneut an. Sie hat sich im Vergleich zum Vorjahresmonat verdoppelt.
Die Studienautoren sagen: „Die Verbraucher halten es mehrheitlich nach wie vor für ratsam, das Geld eher zurückzuhalten.“
#7: Vertrauen in den Kanzler auf Tiefststand
Die
Wechselwirkung zwischen Wirtschaftsaussichten und Popularitätsverfall
ist unverkennbar. Die Hoffnung, der Wirtschaftsmann Merz werde die
Trendwende bringen, ist der Furcht gewichen, auch er sei nur ein
zungenfertiger Rhetoriker, aber kein Realpolitiker.
Fazit: Die Idee, eine festgefahrene Volkswirtschaft
lasse sich durch Fanfaren des Optimismus in Schwung bringen, bleibt ein
Kinderglaube. Zuversicht ist das Ergebnis von Reformarbeit, nicht der
Ersatz. Und die Medien sind dafür da, der Regierung auf die Finger und
nicht auf den Mund zu schauen. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen:
Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen