Wo sind die Realos geblieben? (Cicero+)
Ich höre: Wir leben in einer „Zeitenwende“, die dieses Vorgehen alternativlos macht. Das sogenannte Neue an dieser Wende ist aber dem Begriff nach zu schillernd, als dass es einen eindeutigen Sinn ergeben würde. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken. Zum Vergleich: 1990 gab es eine echte Zeitenwende, weil die bis dahin geltende Ordnung der Welt, die Teilung in zwei Blocksysteme, die sich mit gegenseitiger atomarer Bedrohung in Machtbalance hielten, auf erstaunlich gewaltfreie Weise aufgelöst wurde.
Heute wird behauptet, seitdem gäbe es eine neue „regelbasierte Ordnung der Welt“, die nur der Diktator im Kreml mit seinem ohne Zweifel völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zerstört habe. Weswegen eben alle aufrechten Demokratien der Welt nun fest zusammenhalten müssten, um diese Ordnung zu verteidigen gegen die am Horizont drohenden neuen Autokratien. So erheben sich aus der blutigen Tragödie eines Krieges die neue Daseinsberechtigung der Nato und der neue Führungsanspruch des Westens wie Phönix aus der Asche – sie erscheinen als die Essenz dieser Wende-Legende.
Rhetorik des Epochenbruchs
Drei Gründe sprechen gegen diese These. Erstens ist der russische, durch nichts zu rechtfertigende Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der erste Krieg, der nach 1990 gegen die Regeln des Völkerrechts geführt wurde (Kosovo, Irak). Das macht die Sache keineswegs besser, aber sollte doch etwas die Rhetorik des Epochenbruchs bremsen.
Zweitens ist es gerade das größte Versäumnis der Jahre nach 1990, dass keine neue europäische Sicherheitsordnung formuliert wurde, die sowohl den neuen postsowjetischen Demokratien als auch dem damals noch demokratischen Russland einen angemessenen Platz in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem vermittelt hätte. Es gab nie eine Antwort auf die durchaus berechtigten Fragen von Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medewew: „Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa eigentlich den Russen in dieser Nachkriegswelt an?“
- Neue Nato-Strategie: Erhöhte Schlagkraft (Antonia Colibasanu)
- „Amerikas Aufmerksamkeit für Europa bedeutet nichts Positives“ (Ralf Hanselle)
- Harald Kujat: „Ich halte es für abwegig, von Sieg oder Niederlage zu sprechen“ (Volker Resing)
- Die EU und der Krieg in der Ukraine: Warum Klingbeil recht hat (Rüdiger Lüdeking).
- Anne Will zur Gas-Krise: Wenn niemand mehr weiterweiß (Alexander Marguier)
Europa hat nach 1990 keine haltbare Form gefunden, die den Namen Friedensordnung verdient hätte. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich hat deswegen zu Recht festgestellt: „Wir werden es einmal vor unseren Kindern zu verantworten haben, dass wir ihnen keine bessere Welt hinterlassen haben.“
Zum Dritten: Gerade weil die echte Zeitenwende von 1990 keine haltbare Friedensordnung hervorgebracht hat, markiert das Postulat einer heutigen Zeitenwende wohl eher die Rückkehr zum alten Elend der Blockkonfrontation und ihrer Logik der wechselseitigen gegenseitigen Bedrohung. Da sich aber nichts im Leben einfach nur wiederholt, erscheint diese neue mentale Aufrüstung noch gefährlicher – geht es doch diesmal nicht nur um die „größte Bedrohung der Nato durch Russland“ (Generalsekretär Stoltenberg), sondern um die ganz große zukünftige Auseinandersetzung mit China.
Zeitenwende als Teil der Strategie
Der Charakter dieses Krieges als völkerrechtswidriger Angriffskrieg und seine mediale Bearbeitung suggerieren, dass wir, der Westen, nur Helfer, Retter und Unterstützer in einer gerechten Sache seien. So vernebelt sich, dass wir Partei sind, nicht nur mit unseren Sympathien für die angegriffene Nation. Wir haben eigene Interessen und Machtoptionen im Spiel. Wir werden gerade durch eine umfassende moralische Aufrüstung und Dauerbeschallung immer tiefer hineingezogen in die geopolitische Schlachtordnung, die in Zukunft offenbar ausgefochten werden soll: Freiheit gegen Tyrannei, Demokratie gegen Autokratie und Despotie, Gut gegen Böse, der Westen gegen Russland und China.
Wenn dieser Krieg eines fernen Tages zu Ende sein wird, werden wir vermutlich Jahrzehnte über die Frage seiner Anlässe, seiner Alleinschuld und seiner Ursachen diskutieren und darüber, ob er wirklich eine „Zeitenwende“ war oder nur ein weiterer Krieg in der Reihe von Weltkatastrophen, die alle aus der Unfähigkeit der großen Mächte entspringen, eine multipolare Welt zu begründen, die wirklich getragen wird von den Friedensregeln der Uno, von gegenseitigem Respekt vor unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Gesellschaftsvorstellungen. Heute aber können wir bereits sehen, dass zwei Dinge erheblich zur Verschärfung des Konfliktes beigetragen haben.
Zweifel sind angebracht
Erstens: Die irrige Ansicht, der Westen sei als „Sieger“ aus der Zeit des Kalten Krieges hervorgegangen und nunmehr seien seine Regeln und Werte das heimliche Sehnsuchtsziel aller Völker der Welt. Dazu muss man nur einmal das Interview ansehen, das ein Greenhorn von ZDF-Journalist mit der wunderbar souveränen südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor während des G7-Treffens auf Schloss Elmau gehalten hat (27. Juni 2022). Das war zum Fremdschämen peinlich – und zugleich ein definitiver Beleg, dass eine bestimmte moralische Erpressung bei vielen Staaten der Welt, die alle ihre schmerzhaften Erfahrungen mit dieser westlichen Weltüberlegenheit haben, nicht mehr verfängt.
Und zweitens: Das inzwischen aus jedem Maß geratene Sanktionssystem, mit dem man das Einhalten der einmal selbst postulierten Regeln weltweit durchzusetzen versucht. Diese Form der politischen schwarzen Pädagogik kommt allmählich an die Grenzen ihrer Wirksamkeit – und genau das scheint ein Grund für die ständige Warnung zu sein, hier dürfe doch ja keiner aus der Reife tanzen oder gar zu zweifeln beginnen. Aber genau dieser Zweifel und eine öffentliche Debatte sind jetzt angebracht, um größeren Schaden von Europa abzuwenden.
Wandel durch Annäherung
Dabei lässt sich durchaus das Anfangsmotiv dieser Sanktionspolitik verstehen. Man wollte in akuten Krisen und geopolitischen Konflikten Widerstand gegenüber den Handlungen mancher Staaten organisieren und scheiterte damit nicht selten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Veto von Russland oder China. Gleichzeitig wurde der Weg, dann eben eine militärische Aktion – gestützt auf die Nato oder eine „Koalition der Willigen“ wie im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen – zunehmend nicht mehr von Erfolg gekrönt. Sie endeten in Niederlagen, endlosen Stellvertreterkriegen und mit der Destabilisierung ganzer Weltregionen.
So griffen die USA und die ökonomisch bestimmenden Staaten zum Mittel der Sanktionen. Sanktionen sind aber keineswegs ein Instrument gewaltfreier Politik. Wirtschaftliche Sanktionen sind Instrumente des Wirtschaftskrieges und bergen immer die Gefahr, dass der Konflikt zur offenen militärischen Konfrontation eskaliert, was sich an den aktuellen Sanktionen gegen Russland deutlich abzeichnet.
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