Zwei Jahrzehnte später greift Putin die Ukraine an und zerstört die Hoffnungen, die er damals in seiner Rede in Berlin geweckt hatte, endgültig. Statt auf Zusammenarbeit setzt er auf volle Konfrontation mit dem Westen. Wie konnte es so weit kommen?
Hätte man Putin doch bloss über die Jahre besser zugehört, mahnten Russlandkenner nach dem Tag des Angriffs auf die Ukraine. Sie forderten, Diktatoren wie Putin ernster zu nehmen und auch Propagandareden an ein heimisches Publikum genauer zu studieren: Denn sie verraten viel über Haltung, Pläne und Absichten der Machthaber.
Wir haben uns Wladimir Putins wichtigste Reden genauer angeschaut. Einmal jährlich hält der russische Präsident eine umfassende Ansprache zur Lage der Nation vor dem Parlament. In Putins vier Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 und von 2012 bis heute hat er insgesamt 17 solcher Reden gehalten. Sie geben die grundsätzliche Richtung der russischen Innen- und Aussenpolitik für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor.
Schon alleine die Häufigkeiten einzelner Begriffe in diesen Reden liefern Hinweise dafür, wie sehr Putin Russland über die Jahre isoliert, sich selbst radikalisiert und das Land unfreier gemacht hat. Die Analyse seiner Reden macht klar, wie rasch und wie stark sich seine politischen Prioritäten verschoben haben. Sie zeigt auf, wie sich Putins Misstrauen gegenüber dem Westen letztlich vollends durchgesetzt hat.
Putin wird im März 2000 zum Staatspräsidenten gewählt. Drei Monate später hält er seine erste Rede zur Lage der Nation. Darin stellt er seine Vision von einem starken, friedfertigen, integrierten Russland vor: «Stark nicht gegen die internationale Staatengemeinschaft, nicht gegen andere starke Nationen, sondern gemeinsam mit ihnen.»
Bei seiner ersten Kreml-Pressekonferenz als Präsident im Juli 2001 schlägt Putin wie sein Vorgänger Boris Jelzin den Beitritt Russlands zur Nato vor – jener Verteidigungsorganisation, die 1949 gegen die sowjetische Bedrohung gegründet wurde.
Die USA gehen nicht direkt auf Putins Vorschlag ein, doch ein Jahr später wird der Nato-Russland-Rat gegründet. Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush hatte Putin im Juni 2001 «in die Augen geblickt» und sagte: «Ich empfand ihn als sehr direkt und vertrauenswürdig. (. . .) Ich konnte ein Gefühl für seine Seele bekommen; ein Mann, der sich seinem Land und den besten Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet fühlt.»
Bei Putin klang es damals anders – er sah die warmen Worte Bushs in starkem Kontrast zur Ausdehnung der Nato: «Sie ist eine militärische Organisation. Ja, sie ist militärisch . . . Ja, sie bewegt sich auf unsere Grenze zu. Aber warum?»
Das Bild von Putin als friedfertigem Demokraten, der dem Westen die Hand reicht, war möglicherweise von Anfang an von Wunschdenken geprägt.
Das Bild, dass der Westen Russland umzingeln und destabilisieren wolle, festigt sich im Kreml bereits während Putins erster Amtszeit. Die «Rosenrevolution» in Georgien endet 2003 auch dank dem Beistand Washingtons in einem friedlichen Machtwechsel, doch für Russland stellt die neue, westeuropäisch orientierte Regierung Georgiens einen Affront dar.
Zusammen mit der «orangen Revolution» 2004 in der Ukraine und der «Tulpenrevolution» 2005 in Kirgistan entsteht im Kreml der Eindruck, der Westen säe Unrast in Russlands Umgebung mit dem eigentlichen Ziel, einen Umsturz in Russland herbeizuführen.
2004 treten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei der Nato bei. Fünf Jahre zuvor war bereits der Beitritt Ungarns, Polens und Tschechiens erfolgt. Der Kreml sieht darin einen Versuch, den Einfluss Russlands in seinem Vorhof zu schmälern. Im Kreml ist die Idee eines von Moskau dominierten Machtbereichs noch immer tief verwurzelt. In dieser Weltsicht ist die Auflösung der Sowjetunion eine historische Katastrophe und gehören die Länder des ehemaligen Ostblocks weiterhin zur Einflusssphäre Russlands.
Kurz vor dem Ende von Putins ersten beiden Amtszeiten zeichnet sich ein Wendepunkt ab in Russlands Beziehungen mit dem Westen. Anfang 2007 anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz spricht Putin Klartext – und kritisiert den Westen so offen wie nie zuvor. Die USA strebten die «monopolare Weltherrschaft» an und überstülpten ihre Normen anderen Staaten mit Gewalt, sagt er. Die Nato-Osterweiterung nennt Putin eine Provokation, die das gegenseitige Vertrauen schwäche. Streitkräfte rückten immer näher an die russischen Staatsgrenzen heran, während sich Russland in Zurückhaltung übe, sagt er. Es ist eine Warnung: Bis hierhin und keinen Schritt weiter.
Die Abwendung Russlands vom Westen ist auch in Putins Reden zur Lage der Nation ersichtlich: Das Wort «international» ist bis 2006 verhältnismässig stark präsent, bis zu 24 Mal verwendet er es pro Rede. Nach der Rückkehr Putins in den Kreml im Jahr 2012 schwindet es nach und nach aus seinem Wortschatz.
Putins Veränderung ist auch im Westen spürbar. Seine Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz schockiert. Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer fragt: Wie könne man sich denn sorgen, «wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken?»
Beim Nato-Gipfel im April 2008 drängen die USA dazu, der Ukraine und Georgien den Status von Beitrittskandidaten zu geben. Frankreich und Deutschland sind dagegen. Das Communiqué ist schliesslich ein Kompromiss: Die Ukraine und Georgien würden eines Tages Mitglieder der Nato werden, lautet die vage Formulierung. Aus Moskauer Sicht ist damit aber eine rote Linie überschritten. Die russische Politik setzt sich fortan zum Ziel, einen Beitritt sowohl Georgiens wie auch der Ukraine zur Nato zu verunmöglichen.
Gegenüber Georgien gelingt dies dem Kreml bereits im Sommer 2008. Inzwischen war Dmitri Medwedew Präsident und Putin sein Ministerpräsident. Unter dem Vorwand, in der Region Südossetien sei ein Genozid im Gange und die Bevölkerung Abchasiens sei Gewaltakten ausgesetzt, marschiert die russische Armee in Georgien ein. Zuvor hatte die russische Regierung in den beiden Regionen bereits Pässe verteilt und «Friedenstruppen» stationiert mit der Begründung, russische Bürger schützen zu müssen.
Der Krieg endet nach nur fünf Tagen mit einem Sieg für Russland, das Südossetien und Abchasien zu unabhängigen Staaten erklärt. International gelten sie weiterhin als Teil Georgiens.
Im Dezember 2011, kurz bevor Putin erneut zum Präsidenten gewählt wird, brechen Proteste aus in russischen Städten wegen Wahlbetrugs bei den Parlamentswahlen. Doch die Menschen gehen auch wegen des Zynismus auf die Strasse, mit dem Putin in einem Ämtertausch mit Medwedew seine Rückkehr in den Kreml eingefädelt hat. Medwedew war trotz seinen Schwächen ein Hoffnungsträger für die städtischen Eliten.
Die russische Regierung lässt die Proteste brutal niederschlagen. Dass die Repressalien unter Putin in den kommenden zwei Amtszeiten zunehmen und die Freiheit schwindet, zeigt auch die Analyse seiner Reden. Immer seltener nimmt er die Wörter «frei» oder «Freiheit» in den Mund – in den vergangenen Jahren zwei Jahren gar nicht mehr.
In der Ukraine versucht Moskau zunächst, den Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu kontrollieren und von einer Annäherung an den Westen abzuhalten. Trotzdem will Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, zieht sich davon aber überraschend zurück, nachdem Putin ihn mit einem Gas-Lieferstopp erpresst hat. Die folgenden Proteste auf dem Maidan enden blutig und mit der Flucht Janukowitschs.
Dass amerikanische Diplomaten sich auf dem Maidan zeigten, wird in Moskau als Verschwörung gegen Russland gedeutet. Der Kreml verbreitet zudem das Gerücht, dass Nato-Schiffe kurz davor stünden, in Sewastopol und anderen Häfen am Schwarzen Meer anzudocken.
Auf der Halbinsel Krim gibt es Kritik an den Maidan-Protesten. Russland nutzt die Anti-Kiew-Stimmung dort aus, dringt mit seinen Soldaten ein und lässt eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchführen. Daraufhin bittet die Krim um Anschluss an Russland. In der Folge steigen die Zustimmungsraten für Putin in Russland.
Im Donbass hat Russland die Unzufriedenheit mit Kiew bereits über Jahre genährt, so dass Separatistengruppen entstanden sind. Russland unterstützt sie nach 2014 auch militärisch in der Konfrontation mit Kiew, um die Ukraine permanent zu destabilisieren. Dies dient nicht zuletzt dem Ziel, die Ukraine auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft zu behindern.
Putins Rede zur Lage der Nation im Jahr 2014 macht deutlich, wie tief das Misstrauen und der Groll gegenüber dem Westen mittlerweile sitzen. Das Ziel der USA sei, durch Unterstützung von Separatismus und mit dem «Export von Revolutionen» Russland wie Ex-Jugoslawien «zerfallen und zerstückelt» zu sehen, sagt er.
Im Jahr 2015 füllt Russland die Lücke, welche die USA im Nahen Osten hinterlassen haben. Putin verlegt Truppen nach Syrien, um das Asad-Regime zu retten. Zu Hause beschreibt er den Einsatz als Kampf gegen den Terrorismus.
Es ist eine Erzählung, die Putin während seiner ersten Amtszeit vor allem in Verbindung mit Anschlägen von tschetschenischen Separatisten verwendet hatte. Nach dem Höhepunkt von 2015 spricht er aber in seinen jährlichen Ansprachen kaum noch vom Kampf gegen den Terrorismus. Diese Legitimationsgrundlage für seinen Militäreinsatz in Syrien ist ihm mit schwindender Bedrohung durch die Terrororganisation Islamischer Staat abhandengekommen.
Das wahre politische Ziel der russischen Regierung ist es ohnehin, sich aus der internationalen Isolation nach der Krim-Annexion zu befreien und ihre Handlungsposition zu verbessern – der Militäreinsatz in Syrien soll die eigene Bedeutung gegenüber den USA stärken und deren Rolle in der Region schwächen.
2016 kommt in den USA der Populist Donald Trump an die Macht. Unter ihm leiden die Beziehungen der USA zu ihren traditionellen Verbündeten. Europa steckt in der Flüchtlingskrise. Der Westen befindet sich im Niedergang, so deutet man die Ereignisse im Kreml.
Die Krisen im Westen förderten Putins Selbstvertrauen. Also demonstriert er Stärke. Seine Rede zur Lage der Nation von 2018 ist so aggressiv und antiwestlich wie keine zuvor.
Es ist nicht die erste Rede, in der militärische Begriffe auffallend oft vorkommen. Die Analyse zeigt, dass bereits im Jahr 2006 besonders häufig Wörter fallen wie «Militär», «Raketen», «bewaffnet», «Waffe», «nuklear» und «Verteidigung». Doch der Kontext dieser Begriffe hat sich radikal verändert. Am Beispiel des Begriffs «nuklear» lässt sich das gut zeigen.
In seiner Ansprache von 2006 verwendet Putin das Wort «nuklear» in drei verschiedenen Kontexten. Putin spricht zunächst von der Kernenergie als vielversprechendem Sektor. Er fordert etwa: «Wir müssen Massnahmen zur Entwicklung von Kernenergie ergreifen.» Dann kommen Atomwaffen im Kontext von Terrorismus und Abrüstung ins Spiel. Zuletzt betont er die Wichtigkeit einer modernen russischen Armee inklusive nuklearer Streitkräfte, deren Entwicklung aber nicht zulasten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gehen dürfe.
In Putins Ansprache von 2018 hingegen entfällt der Kontext der Kernenergie und der Abrüstung komplett. Nun zeichnet Putin von Anfang an ein Feind- und Bedrohungsbild der USA und der Nato, die Russland keine andere Wahl liessen, als aufzurüsten – auch atomar. «Die Vereinigten Staaten bauen ein globales Raketenabwehrsystem auf», sagt er und warnt: «Wenn wir nichts unternehmen, wird das russische Atomwaffenpotenzial letztlich wertlos.»
Danach stellt Putin die neusten Atomwaffen der russischen Armee vor und führt die Technologie seinem Publikum auch gleich im Videoformat vor.
Putin schliesst mit einer Warnung an den Westen: «Jeder Einsatz von Atomwaffen gegen Russland oder seine Verbündeten (. . .) wird als nuklearer Angriff gegen dieses Land betrachtet. Die Vergeltung wird sofort erfolgen, mit allen damit verbundenen Konsequenzen.»
Der 2020 gewählte amerikanische Präsident Joe Biden wird im Kreml als alt und schwach wahrgenommen. Biden stellt Putin offen als Mörder hin, fordert, er müsse weg.
Der Sturm auf das Capitol in den USA 2021 und der chaotische Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan bestärken den Eindruck Putins, dass der Einfluss des Westens schrumpfe. Zudem erinnert er sich zweifellos daran, dass es weder bei der russischen Anerkennung der georgischen Gebiete 2008 noch bei der Annexion der Krim 2014 zu drastischen Reaktionen des Westens gekommen war.
Ein rascher militärischer Gewinn in der Ukraine, so wie bei Georgien oder der Krim, dürfte Putin attraktiv erscheinen. Seine Zustimmungswerte sind geringer als früher, zu Beginn der Pandemie fallen sie sogar für kurze Zeit unter 60 Prozent.
Zudem befindet sich Russlands Wirtschaft seit knapp zehn Jahren in einer Phase der Stagnation. Dabei hatte alles so gut angefangen. Nach Putins Wahl zum Präsidenten im Jahr 2000 sorgte er dafür, dass Renten und Löhne pünktlich ausbezahlt werden, reformierte das Steuersystem, die Wirtschaft wuchs konstant um etwa 7 Prozent. Auch im Ausland erntete Russland dafür Anerkennung. Der Staat zahlte seine Schulden zurück und baute die dritthöchsten Währungsreserven der Welt auf.
Die Weltfinanzkrise von 2008 und 2009 aber offenbarte die Schwächen der russischen Wirtschaftspolitik, die einseitig auf Exporte von Öl und Gas und staatliche Lenkung aufgebaut ist. Das Wirtschaftswachstum brach ein. Putin ist es nicht mehr gelungen, das Ruder herumzureissen. Mit der Wirtschaftspolitik kann er also sein Vermächtnis nicht stärken.
Das zeigt sich auch in seinen Reden. Noch 2003 hatte er versprochen, in nicht allzu ferner Zukunft werde Russland seinen anerkannten Platz unter den wirtschaftlich fortgeschrittenen Nationen einnehmen. Doch dann spricht er in seinen jährlichen Reden zur Lage der Nation immer seltener von der Wirtschaft. Die Begriffe «ökonomisch» und «Unternehmen» nehmen einen immer geringeren Anteil ein. Besonders frappant ist der Abfall nach der russischen Wirtschaftskrise von 2015.
Sein Vermächtnis und die Stellung Russlands in der Welt glaubt Putin
aber mit einem Eroberungskrieg stärken zu können. Er erhofft sich davon
seinen Machterhalt und einen patriotischen Schub, der das Land hinter
ihm eint. Das hat er erreicht. Erst seit dem Ukraine-Krieg haben seine
Zustimmungsraten wieder Werte von über 80 Prozent erreicht wie zu Beginn
seiner Präsidentschaft und nach der Annexion der Krim.
Im Rahmen der vorliegenden Analyse wurde mit einem Computerprogramm ausgezählt, wie oft Putin bestimmte Begriffe pro Rede verwendete. Für den Jahresvergleich haben wir anschliessend die Anzahl Nennungen pro 10 00 Wörter berechnet. Letzteres entspricht einer durchschnittlichen Redelänge.
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