Europäische Werte? Wie sich die EU unter von der Leyen
selbst demontiert Focus-Online, Freitag,08.07.2022,
Ursula von der Leyen sieht sich als das
säkulare Oberhaupt einer Wertegemeinschaft namens EU. Doch die europäischen
Werte – Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit – werden von einigen
Mitgliedern und Partnern permanent mit Füßen getreten. Die Probleme sind groß,
nicht nur in Polen und Ungarn.
Um
es gleich vorweg zu sagen: Der in seiner politischen Derbheit weithin
unbeliebte Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat Recht gehabt. Das
geradezu religiöse Betonen und Besingen „der europäischen Werte“ – das in
Brüssel zur gemeinsamen Morgenandacht von Parlamentariern und EU-Bürokraten
gehört – ist eine neue Form der nunmehr supranational empfundenen
Überlegenheit. Peter Handke hat seine Kritik an diesem europäischen
Gutmenschen-Chauvinismus so formuliert:
„Alle zarten tiefen Werte der Menschheit sind überall. Die Werte sind in den Formen der großen Werke. Die Werte sind im Schluchzen eines Kindes. Oder im Hüpfschritt eines Kindes. Europäische Werte? Arschlöcher. Wer auch immer möchte, soll damit sein Leben bestreiten oder bespielen oder besingen oder bemalen; aber er soll aufhören, aus den europäischen Werten eine Axt gegen andere zu machen. Leute, die so reden, sind das neue Gesindel.“
Die europäischen Werte werden permanent missachtet
Das ist natürlich grob. Aber Fakt ist: Die
europäischen Werte – Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit –
werden sonntags gepredigt und werktags missachtet. „Die Welt braucht mehr
Europa“, sagt Ursula von der Leyen. Sie sieht sich als das säkulare Oberhaupt
einer Wertegemeinschaft. Sie glaubt, in der Evolutionsgeschichte der Menschheit
sei das heutige Europa die Krönung der Schöpfung.
Doch die europäische Wirklichkeit dementiert zuweilen
diesen moralischen Führungsanspruch. Erst in dieser Woche hat ein Gutachten von
führenden Juristen im Auftrag der Europäischen Kommission schwere Mängel beim
EU-Mitglied Ungarn diagnostiziert:
Ungarn verstoße „fundamental, regelmäßig und
weitreichend” gegen demokratische Prinzipien.
„Das Gutachten belegt, dass die EU-Kommission
Sanktionen gegen Ungarn offenbar vorsätzlich verzögert“, sagt Daniel Freund,
Mitglied der Grünen-Fraktion im Europaparlament.
Immer wieder werden zentrale europäische Werte, auf
die man sich in Dokumenten und auf Regierungskonferenzen verständigt hat, auch
in anderen Mitgliedsstaaten oder Partnerländern der EU verletzt.
Menschenunwürdige Zustände in überfüllten Flüchtlingscamps
Problemfall
Menschenrechte: An den Küsten Griechenlands, Spaniens
und Italiens
herrschen menschenunwürdige Zustände in überfüllten Flüchtlingscamps; es kommt
immer wieder zu illegalen Push-Backs, also dem Zurückdrängen von Flüchtlingen
ohne Überprüfung auf Asylstatus, und zu einer staatlichen Gewaltanwendung bis
hin zum Tod. Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagt:
„Die Bedingungen auf
den Inseln sind erschreckend und beschämend zugleich.“
Zweifelhafte Freundschaft zu türkischem Präsidenten
Problemfall Türkei: Europa pflegt in der Nato und in der Flüchtlingspolitik eine
zweifelhafte Freundschaft zu Recep Tayyip Erdoğan. Mit ihm existiert seit 2016
ein Flüchtlingsabkommen, sechs Milliarden Euro fließen aus der EU jährlich in
den türkischen Staatshaushalt, um die Migrationsströme in die Europäische Union
zu stoppen.
Die Wahrheit ist eine widersprüchliche: Die
europäischen Werte werden auch dadurch verteidigt, dass Erdoğan sie verletzen
darf. In der Türkei, das sagt Amnesty International, wird regelmäßig gefoltert.
Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien bei der
Stiftung Wissenschaft und Politik:
„Die EU macht ein
Zugeständnis nach dem anderen, ohne dass Erdoğan seine Politik mäßigt.“
Amnesty International stellt in seinem aktuellen
Report für die Türkei fest:
„Die gravierenden
Mängel im Justizsystem wurden nicht behoben. Oppositionspolitiker,
Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und andere mussten mit unbegründeten
Ermittlungen, strafrechtlicher Verfolgung und Schuldsprüchen rechnen.“
Polen: Führend darin, den Rechtsstaat zu beschneiden
Problemfall Polen: Das Land ist führend, wenn es darum geht, die Demokratie zu
missachten und den Rechtsstaat zu beschneiden. Kürzlich suspendierte die
Regierung der Rechtspopulisten von Ministerpräsident Dr. Mateusz Morawiecki und
Staatsoberhaupt Andrzej Duda für sich den Geltungsbereich des EU-Rechts. Man
will weiterhin Richter seitens des Staates bestrafen und auch entlassen dürfen.
Die Einrichtung unabhängiger Richter sei „unvereinbar mit der Verfassung Polens“
Human Rights Watch stellt fest:
„Richter und
Staatsanwälte werden willkürlichen Disziplinarverfahren unterworfen, wenn sie
für die Rechtsstaatlichkeit eintreten und sich gegen problematische
Justizreformen aussprechen – ein Eingriff in ihre richterliche Unabhängigkeit.“
Die EU, die Polen als Nachbarstaat der Ukraine gerade
jetzt dringend braucht, verzichtet auf wirklich harte Strafmaßnahmen und
toleriert damit den Sonderweg, der in Warschau beschritten wird.
Regeln für eine solide Finanzpolitik: Kaum eingehalten
Problemfall
Ordnungspolitik: Die europäischen
Regeln für eine solide Finanzpolitik werden vorsätzlich und in geradezu
obszöner Weise missachtet. Nur neun Länder hielten sich in jedem Jahr seit der
Einführung der gemeinsamen Währung an das Kriterium, dass die Verschuldung
maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. An die
Neuverschuldung von maximal drei Prozent pro Jahr sahen sich nur vier Länder in
jedem Jahr gebunden. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire
bezeichnet die EU-Schuldengrenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung eines
Mitgliedslandes nun ohne jede Rücksprache mit seinen Partnern als „obsolet“.
Vorreiter gegen den Klimawandel? Nur sehr bedingt
Problemfall
Nachhaltigkeit: Die Rolle als Vorreiter gegen den Klimawandel, die
man der EU zuschreibt, nimmt sie nur bedingt ein. In Polen, Tschechien
und Griechenland setzt man vor allem auf die
Braunkohle. In Belgien, Finnland
und Frankreich wird die Kernenergie ausgebaut und nicht Wind und Solar. Nur die
europäischen Vorzeigekinder Schweden, Norwegen
und Island
vertrauen konsequent auf erneuerbare Energien.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen