Wie soll man es nennen,
wenn Menschen binnen kurzer Zeit mehr als 20 Prozent ihrer
Lebensgrundlage verlieren? Ist es noch eine Krise oder schon eine
Katastrophe? Welchen Namen man auch immer geben will – wir erleben
gerade in Deutschland den wohl größten und breitesten Wohlstandsverlust,
der sich seit der Hyperinflation vor 100 Jahren außerhalb der beiden
Weltkriege ereignet hat.
Schnell wird sich nun Protest regen: Der Schlag ins Kontor, den Ukraine-Krieg, Russland-Sanktionen und Lieferkettenprobleme
der Volkswirtschaft verpassen, sei voraussichtlich geringer als jener
durch Corona oder Finanzkrise. Und das stimmt beim Blick aufs BIP oder
Konjunkturindikatoren – noch. Doch waren die Auswirkungen auf ganz
normale Haushalte und Unternehmen in der Breite nie so verheerend wie
jetzt. Denn es geht nicht bloß um teureren Zugang zu Krediten oder
vorübergehende Lockdowns mit staatlicher Entschädigung, es geht um
beispiellose Preissteigerungen für die basalsten Ausgangs- und
Versorgungsgüter – und, gerade für Unternehmen, zunehmend um deren
Nichtverfügbarkeit.
Beispiellose Preissteigerungen bei überlebensnotwendigen Gütern
Nehmen wir eine Familie mit vier Kindern, die auf dem Land in einem
sanierten Altbau lebt und bei der die beiden berufstätigen Eltern zur
Arbeit pendeln. Sie findet sich akut in folgender Situation wieder:
Für das Erdgas zur Beheizung ihres Hauses muss sie aufgrund des
vervierfachten (!) Preises fast 5000 Euro mehr pro Jahr zahlen. Für
Strom zahlt sie bereits jetzt 300 Euro mehr im Jahr. Und die Mehrkosten
werden auf knapp 4000 Euro anwachsen, sobald die Stromanbieter die
eigentlichen Preissprünge – ebenfalls eine Vervierfachung – an die
Verbraucher weiterreichen dürfen; ein Schritt, zu dem Minister Habeck
aufgrund einer drohenden Pleitewelle der Stadtwerke bereits Bereitschaft signalisiert hat.
Berufspendeln und die Fahrten zum Einkaufen mit dem Auto – ÖPNV ist auf
dem Land dafür zu schlecht ausgebaut – ist durch Preissteigerungen von
über 25% auf Kraftstoffe um mehr als 1000 Euro p.a. teurer geworden. Der
Lebensmitteleinkauf kostet die Familie auf 12 Monate mindestens 1500
Euro mehr. Und die angekündigten Beitragssteigerungen bei den
Sozialversicherungen werden weitere ca. 1000 Euro von der Haushaltskasse
abzweigen.
Alles in allem hat diese Familie alleine durch die Teuerung dieser
unmittelbaren, täglichen Versorgungsgüter und erzwungenen Abgaben 8800
bis 12.500 Euro (mit/ohne kommende Strompreisexplosion) weniger Geld zur
Verfügung. Bei einem Medianeinkommen von 45.000 Euro netto sind das
atemberaubende 20 bis 28% weniger Geld für Ernährung und Kleidung, für
die Fahrt zum Arbeitsplatz, für die Miete oder das Abbezahlen des
Kredites (dessen Verlängerung ebenfalls um mehr als 200 Prozent teurer
geworden ist). Wir sprechen über Menschen, die im Dunkeln und Kalten
sitzen, weil sie sich Strom und Gas nicht mehr leisten können. Menschen,
die ihren Job verlieren, weil der Weg zur Arbeit ihre finanziellen
Möglichkeiten übersteigt. Menschen, die ihre Bleibe verlieren, weil sie
kein Geld mehr für Miete oder Kredittilgung haben. In einem der bislang
reichsten Industrieländer der Welt.
Holz, Stahl, Kupfer, Beton haben sich im Preis verdrei- oder gar vervierfacht
Oder nehmen wir den mittelständischen Betrieb: Dieselben
Preissteigerungen bei Strom, Gas und Kraftstoffen nehmen ihm
wirtschaftlich die Luft zum Atmen und machen die Produktion in dem Land,
dessen Wettbewerbsfähigkeit bereits vor der Krise unter den höchsten Energiekosten litt,
unwirtschaftlich. Dennoch möchte der Betrieb nicht die Flinte ins Korn
werfen. Doch auch seine Primärmaterialien – Holz, Stahl, Kupfer, Beton –
haben sich um mindestens zweistellige Prozentzahlen verteuert,
teilweise im Preis ebenfalls verdrei- oder gar vervierfacht. Und immer
häufiger bekommt er gar keine Lieferungen mehr oder nur mit Monaten
Verzögerung. Auch Kredite zur Vorfinanzierung solcher Lieferungen haben
sich um ein Vielfaches verteuert. Zeitgleich drängen die Beschäftigten
auf Lohnsteigerungen, weil sie einen Kaufkraftausgleich angesichts der
Rekordinflation wünschen.
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Der Betrieb steht nicht mehr nur mit dem Rücken zur Wand – er ist
bereits weiter: Mithilfe einer Unternehmensberatung werden händeringend
Käufer zum Discountpreis gesucht, die die Firma übernehmen, solange sie
überhaupt noch etwas wert ist, und wenigstens einige Jobs erhalten.
Das ist die Realität in Deutschland im dritten Quartal 2022. Doch
Wirtschaftsminister Habeck empfiehlt kürzere Duschzeiten oder kleinere
Flachbildfernseher – und erweckt damit den Eindruck, dass man mit milden
Opfern auf der Wellenlänge des schicken Minimalismus Neuköllner Hipster
durch die Krise käme. Kanzler Scholz feiert sich derweil gar dafür, man
habe den Bürgern „90 Prozent der gestiegenen Kosten“ vom Hals gehalten.
Die Vermutung drängt sich auf, dass Deutschlands Spitzenpolitiker schon
sehr lange nicht mehr einen normalen Haushalt selbst geführt oder ein
normales Unternehmen besucht haben.
Die Energiepolitik wird die Krise noch um ein Vielfaches verschärfen
Der Bezugsverlust der Regierung zur Realität von Wertschöpfung, Markt
und Infrastruktur zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der
Energiepolitik. Zu einem erheblichen Teil ist die aktuelle Krise eine
Energiepreis- und Energieknappheitskrise. Der Kanzler kann nicht mehr
garantieren, dass die Bürger im Winter noch heizen können, der
Wirtschaftsminister empfiehlt Unternehmen, sich mit Notstromaggregaten
einzudecken, und auf eine aktuelle Anfrage musste Habecks Ministerium
zugeben, dass die Abhängigkeit von russischem Öl mehr als doppelt so
groß ist, wie vom Minister beim Werben für ein Öl-Embargo angegeben.
Doch sieht man sich vergebens nach einem tragfähigen Plan B um: Der
LNG-Markt ist nicht ausreichend liquide, sehr teuer, und es gibt auf
Jahre keine genügenden Transportkapazitäten. Fracking ist politisch
nicht gewollt und bräuchte langen Vorlauf. Alternative Brennstoffe von
Holzpellets über Biogas bis E-Fuels wurden über mehr als zehn Jahre
politisch abgewürgt.
So lautet die einzige Antwort der Bundesregierung auf die
Energieknappheit in allen Sektoren: Strom, Strom und noch mehr Strom.
Das russische Gas beim Heizen? Millionen Wärmepumpen sollen stattdessen
mit Strom Wärme erzeugen. Prozesswärme der Industrie? Die Umrüstung auf
Wasserstoff wird vorangetrieben, der mit Strom synthetisiert werden
soll. Das russische Öl in der Mobilität: Batterie-Elektroautos (übrigens
alleine von den Materialkosten her mehr als doppelt so teuer wie
Verbrenner) sollen es richten, alle anderen Technologien werden von
Rot-Grün für tot erklärt.
Was indes Minister Habeck genauso wenig verrät wie der Kanzler, ist,
wo der ganze Strom herkommen soll. Bereits heute ist die Lage am
Strommarkt angespannt durch den kurzfristigen Wegfall der Stromerzeugung
aus Erdgas, die 2021 immerhin 15 Prozent des Gesamtvolumens ausgemacht
hat. Versorger und zunehmend auch Kunden müssen eine Verdrei-, Vervier-,
Verfünffachung der Strompreise erdulden, für kurzfristig benötigte
Mengen teils noch mehr. Das treibt Energieunternehmen an den Rand der
Pleite und darüber hinaus. Auch im Stromnetz ist die Lage jetzt schon
prekär, für den Winter rechnen Experten in Politik und Wirtschaft mit
Blackouts.
Exponentielle Preisexplosionen am Strommarkt
In dieser Lage will die Bundesregierung die letzten Atomkraftwerke mitten im Winter von Netz nehmen
und damit noch einmal knapp 12 Prozent Strom aus dem System ziehen.
Binnen eines Jahres wird dann mehr als ein Viertel der Stromerzeugung
fehlen, das Gut Strom wird noch wesentlich knapper. Eine Wärmepumpe
indes verdoppelt den Stromverbrauch eines Haushaltes ungefähr. Ein
Elektroauto ebenfalls. Das Rezept der Bundesregierung bedeutet also: für
mehr Unabhängigkeit von Russland Verdreifachung des Stromverbrauchs von
Haushalten – während Strom bereits heute so teuer ist wie nirgendwo
sonst auf der Welt und durch die künstliche Verknappung in der Erzeugung
noch weiter dramatisch verteuert wird.
Das bewegt sich in seiner Plausibilität irgendwo zwischen der
Quadratur des Kreises und dem Perpetuum Mobile. Denn mit keinem Geld der
Welt bekommt man Strom, der gar nicht erst erzeugt wird. Und mit keinem
Geld der Welt kann man ihn durch Netze transportieren, die jetzt
bereits am Limit stehen und deren zumindest regionalen Zusammenbruch die
Bundesregierung schon diesen Winter fürchtet. Die Folgen dieser Politik
werden exponentielle Preisexplosionen am Strommarkt sein, die
Haushalten und Wirtschaft noch mehr die Luft zum Atmen nehmen, als es
derzeit bereits die Knappheit und Teuerung beim Gas tut – deren
erwartbare Folge ein aktuelles Gutachten von Prognos derzeit mit 5,6
Millionen zusätzlichen Arbeitslosen beziffert.
Und das bezieht nicht die Schäden ein, die Blackouts hinterlassen.
Bereits heute ist Stromausfall verheerend: kein Licht, kein
Mobilfunknetz, kein Trinkwasser, keine Maschinen von der Fertigung bis
ins Krankenhaus, keine Datenverarbeitung. In der Welt, die die
Bundesregierung anstrebt, gehen die Folgen noch viel weiter: Kein Strom
bedeutet dann auch keinerlei Wärme und keinerlei Mobilität. Das Land
fällt in solchen Situationen vorindustrielle Zustände – bzw. schlimmer
als das: in Anarchie, da wir im Zeitalter der Elektrifizierung und
Digitalisierung gänzlich unvorbereitet auf ein Leben ohne Strom sind.
Der absolute Fokus auf Strom ist überdies der Traum eines jeden
Terroristen, Saboteurs oder einer jeden feindlichen Macht – denn die
Strominfrastruktur ist wesentlich leichter anzugreifen als jene für
Erdgas, Erdöl oder gar Holz.
Das Haus brennt ab und keiner ruft „Feuer“
Nichts an dieser Krise ist unvermeidbar. Ob Atomausstieg oder der
Ausstieg aus dem Verbrenner, ob Sanktionen gegen Russland oder die
politische Blockade alternativer Brennstoffe, ob ungeschickte
öffentliche Beschaffungsversuche oder eine irrlichternde Kommunikation,
die Vertrauen in den Märkten zerstört: All das sind politisch gewählte
Schritte, die jederzeit geändert werden könnten. Schritte, die
künstliche Knappheit erzeugen, die Märkte in Panik versetzen und Preise
in Höhen treiben, die unsere Volkswirtschaft im Rekordtempo erdrücken.
Doch während das Haus brennt und die Verantwortlichen den
Wasserschlauch unbenutzt lassen (böse Zungen würden sagen: eher noch mit
Zündhölzern daneben stehen), ist die Stimme der Opposition ebenso
schwach zu hören wie kritische Töne aus den Medien. Alle erkennen zwar
eine „Krise“ oder eine „ernste Lage“ an, doch keiner traut sich, die
Katastrophe auch so zu nennen – und darauf hinzuweisen, dass sie
fabriziert ist, kein Naturereignis.
Wie kann es sein, dass derart dramatische Entwicklungen nicht das
alles bestimmende Thema sind? Dass unsere Politiker überhaupt noch Zeit
auf irgendetwas anderes verwenden, als diese Existenzkrise zu
bewältigen? Eine solche Notlage hatten wir seit Gründung der
Bundesrepublik noch nie. Doch wir sprechen mehr über die Situation in
Charkiw als über die in Bottrop, mehr über die Maskenstrategie für den
Corona-Herbst als darüber, wie viele Haushalte und Unternehmen diesen
Heizwinter wirtschaftlich nicht überstehen werden.
Unsere Politik kommt in Symbolik und Effektivität einer
Selbstverbrennung aus Protest gegen Ukraine-Krieg und Klimawandel
gleich. Ein aufsehenerregendes Statement, aber fatal. Wo bleibt die
Solidarität mit den eigenen Bürgern, deren Nutzen zu mehren und von
denen Schaden abzuwenden das Grundgesetz befiehlt? Und wie wollen wir
der Ukraine gegen russische Aggressoren helfen, wie wollen wir Indien
zum Klimaschutz inspirieren, wenn wir dabei in erster Linie unsere
eigene wirtschaftliche Lebensgrundlage zerstören?
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