Auch wer keinerlei Neigung zu depressiven Verstimmungen hat, fühlt sich in einer Endlosschleife fataler Botschaften und dunkler Aussichten gefangen. Diese trüben die Freude am Leben und jene Zuversicht, ohne die es nicht geht, weder für das Individuum noch für die Gesellschaft.
Selbst Hardcore-Nachrichtenjunkies und Alt-68er, die sich noch im hohen Alter für die Feinheiten der myanmarischen Innenpolitik, die schier ausweglose Situation in Simbabwe und die Konflikte in der kolumbianischen Guerillabewegung Farc interessieren, spüren die Überdosis an Kriegs- und Katastrophenmeldungen, welche die Psyche merklich strapazieren. Auch wer es seit je mit der alten Losung hält, Wissen sei Macht, und unaufhörliche Selbstaufklärung für die erste Bürgerpflicht hält, erwischt sich dabei, vor dem dritten Bericht über den beschleunigten Ausbau von Windkraftanlagen im ARD-«Morgenmagazin» auszusteigen.
Keine Frage: Nach fast zweieinhalb Jahren eines permanenten pandemischen Ausnahmezustands ist das Nervenkostüm der meisten Zeitgenossen ziemlich dünn geworden. Psychologen haben eine regelrechte «news fatigue» entdeckt, eine Nachrichtenmüdigkeit, die sich aus mehreren Quellen speist. Die andauernde Negativitätsspirale, so eine Studie über «digitale Resilienz in der Mediennutzung», verstärke Hoffnungslosigkeit und ein Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit. Dazu kämen Abnutzungseffekte – deutlich zu sehen an der schwindenden Wahrnehmung des Ukraine-Krieges nach beinah fünf Monaten – und die Verringerung der intellektuellen wie emotionalen Verarbeitungskapazität angesichts all der Informationen, die unentwegt auf die Bevölkerung einstürmen.
Kein Wunder, dass mittlerweile nur noch 57 Prozent der erwachsenen Internetnutzer sich überhaupt für aktuelle politische Nachrichten interessieren, wie der «Digital News Report» des Leibniz-Instituts für Deutschland resümiert. Bei den Jungen bis 24 Jahren sind es gar bloss 31 Prozent.
Katastrophen und Kriege gab es schon immer
Aber war es eigentlich nicht immer so? Krisen, Katastrophen und Kriege haben einander stets abgewechselt, von der Kuba-Krise zum Vietnam-Krieg, der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts über die Terroranschläge vom 11. September 2001, den zweiten Irak-Krieg und die Weltfinanzkrise 2008 bis zum Dauerdesaster in Afghanistan. Und stets war es eine Minderheit, die sich damit dauerhaft auseinandersetzte.
Worin besteht dann also der Unterschied zu heute?
Offensichtlich rückt uns, nicht nur globalisierungsbedingt, das Unheil näher auf die Wohlstandspelle. Saigon, Bagdad und Kabul waren weit weg, auf einem anderen Kontinent. Schon Corona hat den gewohnten europäischen Alltag massiv eingeschränkt, und die Klimakrise lässt sich nicht mehr leugnen. Putins brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine schliesslich hat einen veritablen Schock ausgelöst: Das legendäre europäische Haus ist in seinen Grundfesten erschüttert. Plötzlich werden Feldhaubitzen, Flugabwehrraketen und Panzer wieder überlebenswichtig, Kriegswaffen aus dem vergangenen Jahrhundert, und im Fernsehen wurde jeden Tag ein anderer Ex-General der Bundeswehr zur militärischen Lage einvernommen, als sei Clausewitz wiederauferstanden.
Der Einsatz von Atomwaffen ist nicht mehr auszuschliessen, dazu droht als Folge der russischen Aggression die grösste Wirtschaftskrise seit 1945. Wohlstandsverluste für fast alle sind unvermeidlich. Der deutsche Wirtschaftsminister Habeck kämpft derweil um jeden Kubikmeter Erdgas und lässt alte Kohlekraftwerke wieder hochfahren.
Neue Unübersichtlichkeit
Zu alldem kommt jene geopolitische und ideologische Unübersichtlichkeit, die aus dem Ende der alten Ost-West-Blockkonfrontation nach 1989 resultiert. Während Putins Russland sich zum globalen Verbrechersyndikat entwickelt hat, ist der Westen in die Defensive geraten. Sein «Narrativ» der Freiheit ist löchrig geworden und strahlt nicht mehr jene Überzeugungskraft aus, die es im Kampf gegen die wachsende Zahl autoritärer und totalitärer Mächte dringend braucht. So wächst die Verunsicherung, von der Rechts- wie Linkspopulisten profitieren. Kein Zufall, dass unter ihnen die meisten Putin-Fans und China-Bewunderer zu finden sind.
Nicht zuletzt: Der Fortschrittsbegriff insgesamt ist in Verruf geraten, was sich unmittelbar auf die Vorstellungen einer besseren Zukunft auswirkt. Der politisch korrekte, woke Zeitgeist postkolonialistischer Selbstzerknirschung – Pascal Bruckner sprach vom «Schluchzen des weissen Mannes» – verschiebt die Perspektive vom Selbstbewusstsein demokratischer Staaten hin zu Selbstanklage und Selbstbeschäftigung, bei der symbolische Ersatzhandlungen dominieren. Die akute Inflation von Verschwörungserzählungen verwundert da wenig. Auch sie erfüllen keinen anderen Zweck, als vermeintliche Schuldige zu entlarven.
Die neurotische Selbstverwirrung im Trommelfeuer weltweiter Hiobsbotschaften macht die Einordnung all der disparaten Nachrichten, die sich zu keinem auch nur annähernd kohärenten Bild mehr fügen wollen, noch schwieriger als je zuvor. Sie passen in kein nachvollziehbares politisches Framework mehr, das womöglich positive Perspektiven bieten könnte.
Die Hippies von einst
Sosehr man die Hippiekultur der 1960er Jahre im Rückblick belächeln mag: Die Mischung aus Hedonismus, Freiheitsliebe und kollektivistischen Utopien verkörperte jedenfalls einen Aufbruchsgeist. Damals waren es jedoch gerade die Krisen, die, gut dialektisch, die Erwartung grosser Veränderungen in der Zukunft beflügelten. Zu Zeiten des Vietnam-Kriegs sorgte der massenhafte Protest vor allem in Amerika selbst dafür, dass eine internationale Jugendbewegung entstand, die optimistisch nach vorne blickte. «Morning has broken», sang Cat Stevens.
Heute dagegen herrscht die pure Dystopie vor, Untergang, wohin man blickt. Statt bunt gekleideter Freaks, die «Make love not war»-Buttons auf ihre Gewänder nähen und im glühenden Abendrot «Hotel California» von den Eagles hören, sitzen verbittert dreinschauende Vertreter einer kleinen Weltrettungssekte im morgendlichen Berufsverkehr auf deutschen Autobahnzufahrten, kleben ihre Hände auf den Asphalt und warten, bis Polizisten kommen, die sie unter Einsatz von kaltgepresstem Olivenöl aus ihrer Zwangshaltung befreien: «Die letzte Generation» hat die Zukunft rein rhetorisch schon abgeschafft.
Die Erregungs- und Skandalisierungsgemeinschaft der digitalen Mediengesellschaft füttert dieses Endzeitgefühl nur zu gerne. Selbst seriöse Presseorgane – von Boulevardmedien aller Art und der Dauerempörungsindustrie Twitter und Co. zu schweigen, die mit allen Mitteln um Quoten kämpfen – vermitteln jene Botschaften einer geradezu hermetischen Aussichtslosigkeit, welche die Flucht vor den Nachrichten beschleunigen.
So standen jüngst zwei Artikel ganz oben auf der Nachrichtenseite der «Süddeutschen Zeitung», Überschrift: «Wie Putin die Ohnmacht des Westens nutzt», darunter: «Es droht das Ende demokratischer Verhältnisse.» Freilich war nicht Russland gemeint, sondern Amerika. Fassen wir zusammen: Der Westen ist machtlos gegenüber Putin, und in den Vereinigten Staaten von Amerika, der Führungsmacht des Westens, droht der Untergang der Demokratie.
Was tun?
Wer hier weiterliest, muss starke Nerven haben oder einer von Millionen Medienkonsumenten sein, die sich noch nicht in die kontrollierte Abstinenz geflüchtet haben und immer noch wissen wollen, wie genau die amerikanische Demokratie demnächst untergeht und warum Wladimir Putin triumphieren wird.
Was tun? Leider gibt es, anders als in achtsam-diversitätssensiblen akademischen Milieus, keine Trigger-Meldungen für die Wirklichkeit, keine amtlichen Warnungen vor Informationen, die die empfindliche Seele verletzen könnten. So bleibt der Weg zwischen Reizüberflutung und Resignation ein Drahtseilakt jedes Einzelnen, der jenen Abstand zu den Dingen finden muss, der erst wieder Raum fürs Nachdenken schafft – und neue Zuversicht.
Vielleicht kommt es dann auf die Bergretter im ZDF gar nicht mehr an.
Reinhard Mohr ist deutscher Publizist. Zuletzt von ihm erschienen: «Deutschland zwischen Grössenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt».
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